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Rotes Rätsel in Nordeuropa

Entgegen dem Trend haben linke Parteien in Dänemark, Finnland und Schweden bei den Europawahlen gut abgeschnitten – zu ihrer eigenen Überraschung

Von Gabriel Kuhn

Straßenszene mit Radfahrer*innen und Fußgänger*innen in einer nordischen Altstadt, überall hängen Wahlplakate
Für linke Parteien im Norden hat sich das Plakatieren gelohnt. Foto: Johan Wessman / News Oresund / Flickr , CC BY 3.0

Während in einigen Ländern, nicht zuletzt in Deutschland, rechte Kräfte bei den EU-Wahlen Anfang Juni die leider erwarteten Erfolge einfuhren, haben sie im Norden Europas eine Schlappe eingesteckt. Wahlgewinnerinnen waren dort linke Parteien. Das ist erfreulich. Noch erfreulicher wäre es, wenn irgendjemand wüsste, warum. Für die Linken selbst war der Erfolg mindestens so überraschend wie für alle anderen.

In Schweden steigerte sich die Linkspartei im Vergleich zu den EU-Wahlen 2019 von 6,8 auf elf Prozent. Das finnische Linksbündnis machte einen Sprung von 6,9 auf 17,3 Prozent. Die 37-jährige Parteivorsitzende Li Andersson erhielt beinahe 250.000 Stimmen und stellt damit einen neuen Rekord bei finnischen EU-Wahlen auf. In Dänemark wurde die Sozialistische Volkspartei mit 17,4 Prozent gar stärkste Partei. Im Vergleich zu den Wahlen 2019 legte sie um 4,2 Prozent zu. Auch die links-grüne Einheitsliste, die die letzten Kommunalwahlen in der Hauptstadt Kopenhagen gewann, steigerte sich von 5,5 auf sieben Prozent.

Die Wahlergebnisse bedeuten nicht nur im Vergleich zu den letzten EU-Wahlen einen großen Zuwachs. Die linken Parteien im Norden haben nicht nur gegenüber den letzten EU-Wahlen zugelegt, auch im Vergleich zu den letzten nationalen Parlamentswahlen konnten sie ihren Stimmenanteil beinahe verdoppeln.

Für die Rechten ging es hingegen bergab. Die Schwedendemokraten, die seit 2023 eine auf ihre Unterstützung angewiesene bürgerliche Minderheitsregierung vor sich hertreiben, haben zum ersten Mal seit ihren Einzug ins schwedische Parlament 2010 einen Rückgang zu verbuchen. Kamen sie bei den EU-Wahlen 2019 noch auf 15,3 Prozent, waren es diesmal nur 12,4. Die Wahren Finnen, Teil der gegenwärtigen finnischen Regierungskoalition, sackten von 13,8 auf 7,6 Prozent ab. Und die Dänische Volkspartei, die einst den Weg für rechte Parteien im Norden bahnte und bei nationalen Parlamentswahlen über 20 Prozent erreichte, kam nur noch auf 6,4 Prozent.

Die Repräsentant*innen der linken Parteien erzählten am Wahlabend bereitwillig von ihrer vorzüglichen Arbeit, die, so meinten sie, die Wähler*innen offenbar zu schätzen wüssten. Sie sagten, was man als Wahlsieger*in eben so sagt. Doch die Fernsehkameras, die sie bei der Bekanntgabe des Wahlergebnisses eingefangen hatten, logen nicht: Auch sie hatten keine Erklärung für ein Wahlergebnis, das in den bürgerlichen Medien wahlweise als »Sensation« oder als »Schock« bezeichnet wurde.

Seither wird fleißig spekuliert. Manche Beobachter*innen meinen, den rechten Parteien des Nordens sei es nicht gelungen, ihre Basis ausreichend zu mobilisieren. Die Europaskepsis, die oft in Desinteresse an der EU umschlägt, mag im Wege gestanden haben. Es stimmt, dass die Wahlbeteiligung in Finnland mit 42 Prozent sehr bescheiden war. In Schweden lag sie mit 50 Prozent jedoch im europäischen Durchschnitt, und in Dänemark war sie mit 58 Prozent sogar vergleichsweise hoch.

Ein möglicher Faktor ist, dass die Toleranz für rechte Fehltritte in den nordischen Ländern niedriger ist als anderswo. Die Dänische Volkspartei leitete ihren Niedergang schon vor Jahren mit internen Querelen ein. Die Wahren Finnen ernannten 2023 Parteimitglieder zu Minister*innen, denen übelste rassistische und islamfeindliche Postings in anonymen Internet-Foren zugeschrieben werden konnten. Und in Schweden wurde erst vor kurzem eine »Trollfabrik« der Schwedendemokraten öffentlich, in der Mitarbeiter*innen auf vermeintlich unabhängigen Social-Media-Konten Stimmung für die Partei machten und ihre Gegner*innen angriffen.

Schwerer als all das mag jedoch ein Identitätsverlust wiegen. Der Wandel von vorbildlichen Wohlfahrtsstaaten, die sich durch Progressivität, Weltoffenheit und diplomatisches Geschick auszeichneten, zu Recht und Ordnung, Privatisierung, Abschottung und Nato-Beitritt ist manchen in den letzten Jahren vielleicht doch zu schnell gegangen. Einst als Mittelweg zwischen Kapitalismus und Staatssozialismus gepriesen, zählen die nordischen Länder mittlerweile zur Speerspitze der rechten Offensive in Europa.

Es wäre schön, wenn die EU-Wahlen ein Zeichen dafür sind, dass sich die Bewohner*innen der nordischen Länder mit dieser Rolle nicht anfreunden wollen. An den nationalen Regierungen ändern die EU-Wahlen freilich nichts. Ohne Neuwahlen werden in Dänemark, Schweden und Finnland erst 2026 und 2027 neue Parlamente gewählt. Bestätigen sich dabei die linken Wahlerfolge, würde das weit über die Grenzen des Nordens hinaus Bedeutung haben.

Gabriel Kuhn

ist Gewerkschaftssekretär und lebt in Stockholm.

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