Das Glimmen der Geschichte
Der britische Miners’ Strike stand für die große Niederlage im letzten Gefecht der Arbeiter*innenklasse. 40 Jahre später wissen wir: Das letzte Gefecht war er nicht – aber was dann?
Von Nelli Tügel
Reenactment, das ist die Nachstellung eines historischen Ereignisses, häufig einer Schlacht. Wie ein Live Action Role Play, nur mit höherem Anspruch. Möglichst authentisch soll die Inszenierung sein – nah an der Geschichte, die so erleb- und verstehbar wird.
Die Nachstellung von Ereignissen aus der Zeitgeschichte, also der jüngeren Geschichte, die die Lebenden selbst noch erinnern, ist dabei eher ungewöhnlich. Aber auch das gibt es: Am 17. Juni 2001 etwa, da wurde in dem englischen Ort Orgreave in South Yorkshire unter Beteiligung von knapp 1.000 Personen eine Schlacht als Reenactment inszeniert, die zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 15 Jahre zurücklag. Der »Battle of Orgreave« war der – sehr ungleiche und äußerst brutale – Kampf zwischen streikenden Bergarbeitern, die eine Kokerei blockieren wollten, und 6.000 Angehörigen der Riot Squad Police, die auf die Arbeiter einprügelte, mehrfach mit ihren Pferden in die Menge ritt und so Hunderte, teils schwer, verletzte.
Der 18. Juni 1984 gilt als Schlüsselereignis des britischen Miners’ Strike. Und der wiederum gilt als Schlüsselereignis für die westliche Arbeiter*innenbewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert. Im März 1984 hatte die große Auseinandersetzung um die Kohleminen des Vereinigten Königreiches begonnen, fast genau ein Jahr später wurde sie beendet – mit einer Niederlage für die Arbeiter, die mit den Zechenschließungen ihre Jobs verloren und den Erniedrigungen überlassen wurden, die der verkümmernde britische Sozialstaat für sie bereithielt.
Damit allerdings waren sie in diesen Jahren wahrlich nicht allein. Berühmt, auch über die Grenzen des Landes hinaus, wurde ihr Streik, weil er bereits für Zeitgenoss*innen die Aura eines »letzten Gefechtes« besaß. Bis heute gilt der Miners’ Strike als epochemachend – das Fiasko der britischen Kumpel war ein Fest für den Neoliberalismus, den Strukturwandel, es besiegelte das Ende der alten Arbeit, das Ende des Klassenkampfes, also: das Ende der Geschichte.
Ist das nur Arbeitskampffolklore?
Heute wissen wir, dass das nicht stimmt. Dass Margaret Thatchers Sieg über die National Union of Mineworkers (NUM), die Gewerkschaft der Bergarbeiter, zwar eine, zweifellos sehr wichtige Etappe für die Herrschenden, aber keineswegs das Ende des Klassenkampfes war. Global ohnehin nicht, da die Klasse der Lohnabhängigen heute so groß ist wie noch nie in der Geschichte der Menschheit und der Kapitalismus die Klassenauseinandersetzung in sich trägt wie die Wolke den Regen. Aber auch nicht in den USA, wo sich 1981 gewissermaßen der Vorläuferstreik des britischen Bergarbeiterstreiks abgespielt hatte, jener der Fluglots*innen, mit dessen Niederringen Ronald Reagan seiner britischen Kollegin Thatcher vorausgeeilt war. Heute ist klar, »the defeat« war brutal, aber nicht endgültig – seit einigen Jahren schon erlebt die US-Arbeiter*innenbewegung ein Comeback, auch wenn der Weg freilich weit und beschwerlich ist. Und selbst im Vereinigten Königreich, wo die Gewerkschaften als unwiederbringlich bezwungen galten, sind sie zurück: 2023 gab es dort in verschiedenen Sektoren die größten und längsten Streiks seit der Thatcher-Ära.
Entscheidend dafür ist sicherlich, dass sich eine neue Generation junger Lohnabhängiger in Bewegung gesetzt hat, die den Niedergang der 1980er, 1990er und frühen Nullerjahre, als die Gewerkschaften schon gänzlich abgeschrieben schienen und die Arbeiter*innenklasse als kaum mehr existent beschrieben wurde, nicht aktiv miterlebt hat. Sie können daher unvoreingenommener an Arbeitskämpfe gehen als jene, die bittere Niederlagen einstecken mussten. Sie kennen den Miners‘ Strike nur aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern. Hinzu kommt, dass der in allen westlichen Gesellschaften um sich greifende Fachkräftemangel die Marktmacht junger Arbeiter*innen (Stichwort: Gen Z und die angeblich fehlende Arbeitsmoral) hat wachsen lassen, sie finden in gewisser Hinsicht viel bessere Kampfvoraussetzungen vor als Arbeiter*innen in den 1980er Jahren – aber dazu später mehr.
Im Vereinigten Königreich gab es 2023 die größten und längsten Streiks seit der Thatcher-Ära.
Die Frage zum 40. Geburtstag des Miners‘ Strike ist: Lohnt sich der Blick zurück heute überhaupt, oder ist das nur noch Arbeitskampffolklore, Streikromantik? Ich würde sagen: Ja, er lohnt sich unbedingt. Vor allem deshalb, weil an Vorgeschichte, Verlauf und den unterschiedlichen Phasen der Rezeption dieses Arbeitskampfes vieles von dem abgelesen werden kann, was mit der Arbeiter*innenbewegung und der Linken (kleingeschrieben) in den vergangenen Jahrzehnten geschehen ist. Es lassen sich die »unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umstände« rekonstruieren, unter denen Arbeiter*innen ihre eigene Geschichte machen.
Kämpfen nach dem Boom
Das beginnt schon bei der Vorgeschichte des Streiks in den 1970er Jahren. Das fordistische Akkumulationsregime der ersten Nachkriegsjahrzehnte, das für einen Teil der Welt Aufschwung, hohe Löhne, Sozialstaat und eine korporatistische Einbindung der Lohnabhängigen gebracht hatte, hatte Ende der 1960er Jahre mit nachlassenden Wachstumsraten seine Grenzen erreicht. Die Krise des Fordismus löste zunächst einen Zyklus von Offensivarbeitskämpfen um höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen aus, getragen von dem Selbstbewusstsein jener Arbeiter*innenschaften, die in Zeiten der Vollbeschäftigung gelernt hatten, ihre Marktmacht einzusetzen – ganz ähnlich wie heute.
Im Vereinigten Königreich sank in den 1970er Jahren, auch wegen einer hohen Inflation, erstmalig seit Ende des Zweiten Weltkrieges der Lebensstandard für einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung, was wiederum mit einem Anstieg an Arbeitskämpfen und einer Radikalisierung der Gewerkschaftsbewegung einherging. Der winter of discontent (Winter der Unzufriedenheit) 1978/79 war der Höhepunkt dieser Entwicklung. 1977 hatte die britische Labour-Regierung der Gesellschaft einen Sparkurs verordnet, im Winter 1978/79 dann kam es als Reaktion darauf und auf die Inflation zu wochenlangen Massenstreiks im gesamten Öffentlichen Dienst, aber auch der Privatindustrie, die vor allem Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzung zum Ziel hatten.
Von vielen Zeitgenoss*innen und Historiker*innen wurde bzw. wird der winter of discontent als Anfang vom Ende der Gewerkschaftsmacht im Vereinigten Königreich gedeutet. Erstens hätte er zu einem negativen Wandel des Bildes der Gewerkschaften, die 1979 noch 13 Millionen Mitglieder hatten, in der Öffentlichkeit geführt, zweitens den Rücktritt der Regierung bewirkt und damit den Weg frei gemacht für den folgenden Thatcherismus und drittens die Grundlage für die Legitimation der Anti-Gewerkschaftsmaßnahmen der Regierung von Margaret Thatcher gelegt. Tatsächlich wurde in der öffentlichen Debatte dieser Zeit die Macht der Gewerkschaften stark kritisiert und der Ruf nach Einschränkungen dieser Macht lauter – auch das kennen wir von heute.
Dennoch hatte der winter of discontent nicht nur eine wachsende gewerkschafts- und streikkritische Haltung bewirkt, sondern gleichzeitig auch eine starke Polarisierung in der britischen Gesellschaft und den Arbeitsbeziehungen hinterlassen, die bis zum Beginn des Miners’ Strike nicht aufgelöst war. Immerhin waren Millionen Arbeiter*innen an den Massenstreiks 1978/79 beteiligt gewesen und hatten mit diesen vorübergehend enorme Erfolge erzielen können, wie beispielsweise die Beschäftigten des Autobauers Ford, die sich eine 16-prozentige Lohnsteigerung erstreikt hatten. Das heißt, dass am Vorabend des Miners’ Strike eine große Gruppe streikmüder Brit*innen einer ebenso großen Gruppe streikaffiner bzw. streikerfahrener Brit*innen gegenüberstand. Die Gewerkschaften selbst und die Labour-Party waren bezüglich der Streiks gespalten.
Auch während des Miners’ Strike: Die Debatte, inwieweit dieser demokratisch legitimiert sei oder aber damit eine kleine Minderheit radikaler Gewerkschafter – verkörpert durch den NUM-Vorsitzenden Arthur Scargill – der britischen Gesellschaft ihren Willen aufzwinge, war wesentlicher Bestandteil der Aushandlungsprozesse, die diesen Arbeitskampf begleiteten. Teile der (internationalen) Gewerkschaftsbewegung entzogen der NUM wegen ihres vermeintlichen Radikalismus die Solidarität. Gleichzeitig entstand um den Miners’ Strike herum eine Solidaritätsbewegung, die zu einer der größten sozialen Bewegungen des Vereinigten Königreiches wurde.
Oh, schau mal: Solidarität!
Wie schon gesagt, waren Streiks in den 1970er Jahren vor allem Offensivkämpfe gewesen, die eine Verbesserung von Lohn oder Arbeitsbedingungen im Sinn hatten. Der Miners’ Strike wiederum steht auch stellvertretend für die Defensivkämpfe der 1980er Jahre, die unter ganz anderen Bedingungen geführt wurden und entsprechend andere Ziele verfolgten: An der Schwelle zum Neoliberalismus war der Arbeitsplatz an sich zu etwas Umkämpftem geworden. Damit hielt eine neue existenzielle Unsicherheit Einzug in die westlichen Gesellschaften der Nachkriegsgenerationen. Und zunächst besonders unter den Beschäftigten der Montanindustrien, die in den 1980er Jahren verstärkt abgewickelt wurden. Dabei ist »Strukturwandel« eine reichlich sanfte Formel für die akuten Bedrohungen der sozialen Ordnung, die mit den Folgen der zunehmenden Unrentabilität von Stahl und Kohle einhergingen. Beide waren Grundstoffe der Moderne, die nicht nur Hunderttausenden Arbeit beschert, sondern auch ganze Regionen und Städte, stabile Milieus und Alltagskulturen hervor hervorgebracht hatten.
Die Betroffenen der großen Zechen- und Werksschließungen der 1980er Jahre nahmen diese nicht einfach widerspruchslos hin. Neben dem Miners’ Strike gab es weitere erbitterte Abwehrkämpfe, etwa jener um das Krupp-Stahlwerk in Duisburg-Rheinhausen 1987/88. Doch aus Krisen folgt ja nicht zwangsläufig auch Protest. Auch darin, warum sich nun gerade 1984 in Großbritannien eine so monumentale Auseinandersetzung entwickelt hatte, steckt eine noch heute überaus bedenkenswerte Lehre.
Es war nämlich die Missachtung sozialpartnerschaftlicher Routinen: Zunächst sollten die Zechenschließungen noch unter Rückgriff auf diese verhandelt werden. Thatcher aber – nicht etwa die Gewerkschaften! – unterlief sie gezielt. Die britische Premierministerin hatte beispielsweise für die (seit 1947) staatliche Grubengesellschaft National Coal Board (NCB) eigens einen »Durchputzer« angeheuert, dessen Aufgabe darin bestand, »das Recht des Managements, zu managen« durchzusetzen – also das »Recht« des NCB, ohne Rücksichtnahme auf die Gewerkschaften zu entscheiden, welche Gruben geschlossen würden. Ein weiterer Bruch mit dem korporatistischen Arrangement der Vorjahrzehnte war der Brief, den das NCB im Sommer 1984 an alle Bergleute schickte und in dem es an sie appellierte, an die Arbeit zurückzukehren. Der Historiker Arne Hordt schrieb dazu 2018 in seinem Buch »Kumpel, Kohle und Krawall«: »Damit endete eine Ära der industriellen Beziehungen in Großbritannien. Seit 1939 hatte das National Coal Board nicht mehr zum Streikbrechen aufgefordert.«
Die Geringschätzung der bis dahin geltenden und von den Gewerkschaften ja durchaus akzeptierten Regeln war es also, die letztlich so viele aufbrachte und ein Jahr lang unter Slogans wie »Coal not dole« (Kohle statt Stütze) streiken ließ. Ganz ähnlich übrigens wie in Rheinhausen, dessen Stahlwerk keineswegs als erste Hütte im Revier geschlossen werden sollte, wo aber die entsprechenden Pläne mit einer solchen, die Mitbestimmung übergehenden, Arroganz den Betroffenen gegenüber ausgeplaudert worden waren, dass diese spontan rebellierten.
Die verzweifelten Defensivkämpfe boten dabei noch all das auf, was viele Linke und Gewerkschafter*innen heute vermissen: Selbstbewusste, wütende Arbeiter, die organisiert und regional verankert waren. Hunderttausende aus verschiedenen Milieus, die sich mit ihnen solidarisierten. Ehefrauen wurden erst als Unterstützerinnen aktiv und emanzipierten sich darüber schließlich aus ihren Hausfrauenrollen. Studierende sammelten Geld. Es kam zu Allianzen, die zuvor noch undenkbar gewesen waren: Wie zwischen der Gruppe Lesbians and Gays Support the Miners und der NUM, die sich für die Unterstützung während des Streiks bedankte, indem ihre Delegierten auf dem Labourparteitag 1985 eine Resolution durchbrachten, mit der sich die Partei (erstmals) zu Gleichberechtigung bekannte.
Den Lesbians and Gays Support the Miners wurde 2014 – also beim letzten runden Geburtstag des Streiks – mit der Filmkomödie »Pride« ein Denkmal gesetzt. Interessanterweise wurde damit auch eine neue Phase der Geschichtsschreibung, der Deutung des Miners‘ Strike eingeläutet. Wo dieser bis dahin nur für das Ende des Klassenkampfes, die letzte große Schlacht eben, stand, auch unter Linken, mauserte er sich nun zu einem historischen Vorbild für das, was um 2014 herum als »Neue Klassenpolitik« diskutiert wurde, die dann bei näherem Hinsehen gar nicht neu, sondern nur vergessen worden war.
Ein Streik kann Leben verändern
Doch auch diese Phase der Rezeption des Miners‘ Strike ist schon längst wieder vergangen.
An ihm lassen sich also die unterschiedlichen Akkumulationsmodelle des Nachkriegskapitalismus in den westlichen Industriestaaten erklären. An ihm lässt sich verstehen, was das Ende des Fordismus und der Beginn des Neoliberalismus mit den Arbeitskämpfen machten. Und wie sich veränderte, was in ihm nachträglich gesehen wurde, lässt wiederum die Zyklen nachvollziehen, die neue Linke durchliefen. Er stand für das letzte Gefecht (das dann doch keines war), für einen mächtigen Streik (als Streiks in den Nullerjahren wieder interessanter wurden) und später als Vorbild für Solidarität und eine nichtregressive Klassenpolitik (die nie ganz weg war, aber wiederentdeckt werden musste).
Und wie sieht es mit der Gegenwart und ihrem Verhältnis zu 1984/85 aus? Das lässt sich in zehn Jahren bestimmt viel besser sagen. Aber zweierlei scheint mir doch wichtig festzuhalten.
Erstens: Wo es 2001 ein Reenactment zur Versöhnung oder Revanche brauchte, weil die Erfahrung der ohnmächtig machenden Niederlage noch frisch war, da sind die Originalereignisse und sogar die Re-Inszenierung heute historisch. Nicht, weil die Zeitzeug*innen nicht mehr unter uns wären, nein. Sondern weil ihre Erfahrungen nicht mehr die alles Bestimmenden sind. Sogar wer zur Zeit des Reenactments geboren wurde, ist heute ein*e junge*r lohnabhängig Beschäftigte*r – und hat 2023 möglicherweise schon selbst gestreikt.
Zweitens: Diese jungen Lohnabhängigen erfahren dann, was vielleicht die allerwichtigste Lehre ist, die auch heute noch vom großen Kampf der Kumpel gültig bleibt, nämlich dass Streiks lebensverändernd sein können. Marsha Marshall beispielweise, die auf einem der Bilder hier zu sehen ist und 2009 starb, war 1984, als der Arbeitskampf begann, Hausfrau, hatte bereits zwei erwachsene Kinder und ihre Heimat noch nie verlassen. Während des Streiks wurde sie Organisatorin der Gruppe Women Against Pit Closures (WAPC), in der sich Ehefrauen der Bergarbeiter zusammengeschlossen hatten. Als WAPC-Vertreterin reiste Marsha Marshall fortan nicht nur durch das gesamte Vereinigte Königreich, hielt Reden, warb um Unterstützung und stand plötzlich im regen Austausch mit bekannten Feministinnen. Sie besuchte nun auch mehrere europäische Länder und sprach beispielsweise vor 4.000 Gewerkschafterinnen in Italien. Das Leben von Marsha Marshall hat sich durch diesen Arbeitskampf verändert und in gewisser Hinsicht verbessert – auch wenn er in der Niederlage endete. Wie Rosa Luxemburg das mal zitiert hat: Ein mit Kraft und Solidarität geführter Streik ist immer unverloren. Ganz egal, wie aktuell oder unaktuell der Miners‘ Strike also heute noch ist: In den Leben derer, die dabei waren, lässt es sich noch erkennen – das Glimmen der Geschichte.