Zehn Jahre nach dem Genozid in Shingal
Der Völkermord an den Êzîd*innen durch den Islamischen Staat ist heute anerkannt – Sicherheit gibt es für sie noch immer nicht
Von Mako Qoçgirî
Am 3. August 2014 belagerte der Islamische Staat (IS) das von Êzîd*innen bewohnte Shingal im Nordirak. Die mit der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) verbundenen Peschmerga-Einheiten hatten die Stadt in der Nacht zuvor verlassen, ohne die Bevölkerung zu warnen. Schutzlos waren die Bewohner*innen, die einer der ältesten Religionsgemeinschaften der Region angehören, dem Terror der Islamisten ausgeliefert. Bis zu 400.000 Êzîd*innen wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Während junge und ältere Männer hingerichtet wurden, verschleppte der IS tausende Frauen und Mädchen, um sie als »Sexsklavinnen« zu verkaufen. Das Schicksal von bis zu 2.000 êzîdischen Frauen ist bis heute ungeklärt. Unzählige Kinder wurden zwangsislamisiert. Die êzîdische Gemeinschaft erlebte einen weiteren von zahlreichen Genoziden in ihrer Geschichte.
Durch das schnelle Eingreifen der Guerillakräfte der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die ihre Stützpunkte in Südkurdistan (Nordirak) haben, konnten weitaus schlimmere Ausmaße des Genozids verhindert werden. Noch am Tag des IS-Angriffs brachten die Guerillaeinheiten den Berg Shingal unter ihre Kontrolle, wohin tausende Menschen aus der Stadt geflüchtet waren. In einer koordinierten Aktion mit Kämpfer*innen der Verteidigungseinheiten YPG und YPJ, die von Nordsyrien aus in Richtung Shingal aufbrachen, wurde ein Fluchtkorridor nach Nordsyrien freigekämpft.
Erst nach der Befreiung von Shingal im November 2015 konnten die geflohenen Êzîd*innen wieder zurückkehren. Es begann eine traumatische Suche nach den sterblichen Überresten von bis zu 10.000 Menschen, die während des Genozids ermordet wurden, und nach den rund 7.000 Frauen und Mädchen, die vom IS verschleppt worden waren. Gleichzeitig begann der Wiederaufbau der Stadt entlang autonomer Selbstverwaltungsstrukturen nach dem Vorbild des Demokratischen Konföderalismus, der vom inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan inspiriert ist. Zudem bildete die êzîdische Bevölkerung eigene bewaffnete Einheiten, um sich gegen weitere Angriffe zu verteidigen.
Zehntausende Êzîd*innen in den Geflüchtetencamps im Nordirak und in Nordsyrien können aufgrund der anhaltenden Aggression des türkischen Staates nicht in ihre Heimatstadt zurückkehren.
Zehn Jahre nach dem Genozid sind Êzîd*innen jedoch weiterhin bedroht. Die Türkei bombardiert Shingal immer wieder, während Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft ausbleiben. Selbst ein türkischer Luftangriff auf das Krankenhaus der Stadt im August 2021, bei dem acht Menschen starben, löste keine nennenswerten Proteste aus. Die êzîdischen Strukturen in der Region und in der Diaspora bezeichnen diese Angriffe als Fortsetzung des Genozids. Zehntausende Êzîd*innen in den Geflüchtetencamps im Nordirak und in Nordsyrien können aufgrund der anhaltenden Aggression des türkischen Staates nicht in ihre Heimatstadt zurückkehren.
Die Türkei hat dieses Jahr ihre Angriffe auf Stellungen der PKK im Nordirak verstärkt. Regierungsvertreter in Ankara erklärten jüngst, dass es nicht bei Angriffen auf die PKK bleiben soll. Auch die Selbstverwaltungsstrukturen in Shingal und das selbstorganisierte Flüchtlingslager Mexmûr im Nordirak sind durch die Türkei bedroht. Um ihre Pläne durchzusetzen, intensivierte die Türkei auch ihre diplomatischen Kontakte in Bagdad und Hewlêr, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan. Bereits am 9. Oktober 2020 schlossen die von der Familie Barzanî geführte PDK, die Regierung in Bagdad und die Türkei ein Abkommen, das den Weg für eine militärische Intervention in Shingal ebnen soll. Dieses Jahr trafen sie sich erneut, um die Auflösung der êzîdischen Selbstverwaltungsstrukturen in Shingal zu diskutieren.
Die êzîdische Gemeinschaft ist von diesem diplomatischen Austausch ausgeschlossen. Und während zahlreiche Staaten, darunter auch Deutschland, den 2014 verübten Genozid an den Êzîd*innen mittlerweile anerkannt haben, überlassen sie die Überlebenden weiterhin ihrem Schicksal. Die Bundesregierung hat jüngst sogar mit Abschiebungen von Êzîd*innen in den Irak begonnen, obwohl die Menschen vor Ort sowohl den Angriffen der Türkei als auch einem wiedererstarkenden IS ausgesetzt sind.
Êzîdische Verbände fordern von der Bundesregierung unter anderem, sich für ein Ende der türkischen Angriffe in Shingal einzusetzen, die Türkei für ihre Verbrechen zu verurteilen und deutsche Waffenexporte in die Türkei zu stoppen. Sie fordern auch die Anerkennung des Autonomiestatus von Shingal und Unterstützung beim Wiederaufbau der Stadt. Bislang verhallen diese Forderungen ungehört. Und so verkommt die deutsche Anerkennung des Genozids zehn Jahre nach den Gräueltaten des IS zur reinen Symbolpolitik.