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In Großbritannien steuert die von Keir Starmer auf rechts gedrehte Sozialdemokratie auf einen Wahlsieg zu

Von Christian Bunke

Keir Starmer steht an einem Rednerpult und schaut ins Bild, auf dem Pult und an der roten Wand dahinter steht "Britain's Future"
So rot, wie der Hintergrund verspricht, würde Großbritanniens Zukunft unter Keir Starmer wohl eher nicht. Foto: Keir Starmer / Flickr, CC BY-ND 2.0

In Europa ist die Zeit der überraschenden Wahltermine. Ende Mai hatte der britische Premierminister Rishi Sunak von den konservativen Tories nach desaströsen Ergebnissen seiner Partei bei den Kommunalwahlen bekannt gegeben: Am 4. Juli wird ein neues Unterhaus gewählt, das britische Parlament. Derzeit sieht alles danach aus, dass der nächste Premierminister Keir Starmer von der sozialdemokratischen Labour Partei sein wird.

Labour führt in Umfragen mit einem stabilen Vorsprung von 20 Prozent. Bei den konservativen Tories scheint man sich mit einer drastischen Niederlage bereits abgefunden zu haben. 2019 hatte der damalige Parteichef Boris Johnson noch den chaotischen EU-Austrittsprozess nach dem Brexit-Referendum erfolgreich für seinen nationalkonservativen Wahlkampf genutzt. Sein Amtsnachfolger Rishi Sunak hat Ähnliches zwar probiert: International bekannt ist das Vorhaben, Asylsuchende nach Ruanda abzuschieben. Doch in einem von Austeritätspolitik zugrunde gerichteten Land reicht das nicht mehr aus. Auch aus der Sicht vieler bürgerlicher Leitmedien ist es Zeit für einen Wechsel.

Keir Starmer scheint hierfür geeignet. Noch in den letzten Wochen hat er persönlich Hand angelegt, um den Einfluss der einst starken Parteilinken weiter zu begrenzen. Der ehemalige Parteichef und linke Hoffnungsträger Jeremy Corbyn darf seinen Wahlkreis im Londoner Stadtteil Islington nicht als Labour-Politiker verteidigen, sondern wurde Ende März endgültig aus der Partei ausgeschlossen – der Ausschlussantrag kam von Starmer persönlich. Corbyn tritt nun als »Unabhängiger« an. Seine langjährige Verbündete in der Partei, Diane Abbott, konnte ein ähnliches Schicksal in letzter Sekunde abwenden.

Abbott, die 1987 als erste Schwarze Frau ins Unterhaus eingezogen war, war im April 2023 als Labour-Abgeordnete suspendiert worden, weil sie in einem Brief Antisemitismus relativiert haben soll, und hatte ihren Sitz erst vor wenigen Monaten wieder erhalten. Sie darf nun für Labour antreten, obwohl über ihren möglichen Parteiausschluss bereits in den Medien berichtet worden war. Für Starmer ist das nur ein kleiner Wermutstropfen. Die rechte Hegemonie in der Partei ist durch sie nicht gefährdet. Alle sozialdemokratischen Stammwahlkreise sind mit Starmer-Vertrauten besetzt. Die kommende Labour-Unterhausfraktion wird auf den Parteichef zugeschnitten sein.

Stabilität Fehlanzeige

Doch darf parlamentarische Stabilität nicht mit allgemeiner politischer Stabilität im Land gleichgesetzt werden. Das Gegenteil ist der Fall. Nach den Unterhauswahlen wird sich die jahrzehntelange Krise des britischen Nationalstaats und des britischen Kapitalismus als Teil der allgemeinen ökologischen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Weltkrise weiter zuspitzen.

Immer noch gibt es starke Unabhängigkeitsbewegungen in Schottland und Wales, die jederzeit wieder aufbrechen könnten, sollte eine neue Regierung die massiven sozialen Probleme Großbritanniens nicht abmildern.

Keir Starmer ist keine Antwort auf den europäischen Rechtsruck, er ist Teil davon.

Auch kann Labour kaum noch auf die Unterstützung der britischen Gewerkschaftsbewegung zählen. Die steckt selbst in einer schwierigen Phase: Jüngste Gewerkschaftskongresse waren teilweise durch harte Auseinandersetzungen geprägt. Die Konferenz der Bildungsgewerkschaft UCU musste sogar um einen Tag verkürzt werden, da deren Hauptamtliche aufgrund von Arbeitsüberlastung und Beschwerden über ein »rassistisches Klima« innerhalb der Gewerkschaft in den Streik getreten waren.

Insgesamt stellen sich die britischen Gewerkschaften aber auf Konfrontationen mit einer von Starmer geführten Regierung ein. Unterstützung für ihre tarif- und sozialpolitischen Anliegen können sie kaum erwarten. Zwar enthält Starmers Programmatik deutliche sozialpatriotische Elemente. So ist zu erwarten, dass eine kommende Labour-Regierung neue staatliche Förderungen im Industriebereich, hier vor allem in der Rüstungsindustrie, auflegen und die Schaffung von Arbeitsplätzen fördern wird. Gleichzeitig hat Starmer wiederholt klar gemacht, dass er die von den Konservativen seit 2010 durchgeführten Einsparungen im Sozialsystem und im Gesundheitswesen nicht rückgängig machen wird.

Starmers Labour Partei verliert täglich Mitglieder. Unter seinem Vorgänger Jeremy Corbyn hatte sie sich ansatzweise in eine Bewegungspartei mit 500.000 teils sehr jungen Aktivist*innen verwandelt. Starmer und seine Crew haben aktiv daran gearbeitet, das rückgängig zu machen. Sie wollen eine Partei des Apparats, in der vom Parteivorstand nach unten durchregiert wird.

Sozialdemokratischer Patriotismus

Doch das hat seinen Preis. So war es in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg eine Aufgabe der britischen Sozialdemokratie, Sozialpatriotismus mit einem Integrationsangebot an afrokaribische, indische, pakistanische und muslimische Communities zu verbinden. Mit seiner bedingungslosen Unterstützung für das Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen hat Keir Starmer dieses Integrationsangebot aufgekündigt. In den vergangenen Wochen kam es deshalb immer wieder zu Parteiaustritten von muslimischen Unterhaus- und Stadtratsabgeordneten. Diese sind auch eine Reaktion auf die Massendemonstrationen gegen den Gazakrieg, an denen sich Hunderttausende beteiligten. Bis zu einem gewissen Grad profitieren konnte davon der linkspopulistische Politiker George Galloway von der 2019 gegründeten Workers Party of Britain, deren Vorsitzender er ist. Mit einem an den konservativen Flügel des Islams appellierenden und soziale Missstände anprangernden Programm eroberte er in einer Nachwahl im Februar den nordwestenglischen Unterhauswahlkreis Rochdale.

Keir Starmer richtet seine Politik entlang der Linie eines Angebots an die »weiße Arbeiter*innenklasse« aus. Seine Kräfte bündelt er auf konservativem Terrain. Starmer verspricht eine harte Linie gegen Asylsuchende. Den Tories wirft er vor, bei Massenabschiebungen versagt zu haben, Labour werde alles effizienter organisieren. Er fordert, Großbritannien müsse wieder »kampftüchtig« werden, und plant die Erneuerung des britischen Atomwaffenprogramms, verbunden mit Großaufträgen für britische Werften, die, so Starmer, in den kommenden Jahren vier neue Atom-U-Boote bauen sollen. Beim Klimaschutz ist er zurückhaltend, Aufrüstung hat Priorität. Auch trans Personen haben in ihm keinen Unterstützer gegen das zunehmend gewalttätig aufgeladene Klima aus der heteronormativen Mehrheitsgesellschaft. Starmer ist keine Antwort auf den europäischen Rechtsruck, er ist Teil davon.

In Großbritannien ist er der vom zentristischen, unionistischen Bürgertum favorisierte Kandidat. Dieses Bürgertum hat klare Prioritäten: Zusammenhalt des aus den englischen, walisischen, schottischen und irischen Nationen bestehenden Vereinigten Königreichs unter dem nur noch brüchigen Kitt der Monarchie; Stärkung der britischen Streitkräfte; Nutzung geopolitischer Konflikte wie derzeit in der Ukraine, um den USA den eigenen Wert als Bündnispartner und Empfänger militärischer Ressourcen, vor allem im Nuklearbereich, zu demonstrieren.

Dass Starmer genau hier punkten will, wurde während der Feierlichkeiten zum Jahrestag der Landung alliierter Streitkräfte in der Normandie während des Zweiten Weltkrieges deutlich. Als Premierminister Rishi Sunak die Feierlichkeiten frühzeitig verließ, um in Großbritannien Wahlkampf zu betreiben, warf Starmer ihm mangelnden Respekt für die britischen Truppen vor.

Extrem rechte Morgenröte?

Wenn die Tories in der bürgerlichen Öffentlichkeit sogar den Status als führende Partei des Militärs und des Beamt*innenapparats verlieren, dann ist das für die Konservativen existenzbedrohend. Um alles noch schlimmer zu machen, ist rechtzeitig zu Beginn der heißen Wahlkampfphase der Rechtsaußenpolitiker Nigel Farage wieder auf der Bildfläche erschienen. Begleitet von reichlich medialer Berichterstattung hat sich der ehemalige UKIP-Vorsitzende zum Spitzenkandidaten der rechtspopulistischen Partei Reform UK küren lassen. In manchen Meinungsumfragen nimmt diese Partei inzwischen den zweiten Platz hinter Labour ein und verdrängt die Tories an die dritte Stelle.

Reform UK wird versuchen, eine künftige Labour-Regierung noch weiter nach rechts zu drücken und den extrem rechten Flügel der Tories in die eigenen Reihen zu integrieren. Eine ganze Reihe konservativer Unterhausabgeordneter soll laut Medienberichten einem Übertritt ins Lager von Reform UK nicht abgeneigt sein. Es ist in diesem Zusammenhang nicht völlig unmöglich, dass die kommende Labour-Regierung schon bald mit extrem rechten Straßenmobilisierungen konfrontiert sein wird, wie sie zu Beginn der 2010er Jahre durch die English Defence League (EDL) organisiert wurden, dem Vorbild der deutschen Pegida-Bewegung.

An dieser Stelle könnte es jedoch spannend werden. Der Aktivismus der EDL führte seinerzeit zu einer Renaissance des militanten, auf die Straße orientierenden Antifaschismus in Großbritannien, mit einer Basis in unterschiedlichen proletarischen Milieus. Großbritannien hat eine reiche Tradition widerständiger Graswurzelorganisierung. Die könnte in der kommenden Periode eine Renaissance erleben.

Christian Bunke

schreibt als freier Journalist über die britische Gewerkschaftsbewegung, Brexit und die zunehmenden Verfallserscheinungen des Vereinigten Königreichs.

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