In Kurdistan verfolgt, im Exil getötet
Vor 30 Jahren wurde Halim Dener erschossen – bei den Gedenkaktionen geht es um mehr als Erinnerungsarbeit
Von Hêlîn Dirik
Halim Dener war gerade mal 16 Jahre alt, als er als unbegleiteter minderjähriger Flüchtender Kurdistan verließ. Nach Folter im türkischen Gefängnis und durch den staatlichen Terror in die Flucht getrieben, kam er 1994 nach Neustadt am Rübenberge bei Hannover – nur wenige Monate, nachdem Deutschland die Arbeiterpartei Kurdistans PKK und ihr nahestehende Organisationen verboten hatte. Als er am 30. Juni 1994 gemeinsam mit anderen Aktivist*innen am Steintorplatz in Hannover Plakate gegen das Verbot klebte, wurde er von einem SEK-Beamten in Zivil erschossen.
Das Landgericht Hannover urteilte später, der Schuss habe sich bei der Auseinandersetzung »unter Stress« und »unabsichtlich« gelöst und Halim Deners Tod sei ein tragischer Unfall gewesen. Zweifel an dieser Version gibt es bis heute: Nicht nur ergaben die Untersuchungen beim Gerichtsverfahren, dass die Mündung der Waffe zum Zeitpunkt des Schusses nicht mehr als 15 Zentimeter von Halim entfernt gewesen sein konnte. Der Smith & Wesson-Revolver, aus dem der Schuss kam, hatte außerdem eine automatische Sicherung und konnte unmöglich versehentlich losgegangen sein. Der Polizist und Täter Klaus T. wurde nach einem drei Jahre andauernden Gerichtsprozess trotz dieser ungeklärten Umstände freigesprochen.
Tausende Kurd*innen nahmen in den Wochen nach Halim Deners Erschießung in ganz Deutschland an Trauermärschen teil. Der Fall Halim Dener steht symbolisch für die staatliche Gewalt gegen Kurd*innen und die Zusammenarbeit Deutschlands mit der Türkei. Mit den vier Worten »Gefoltert. Geflüchtet. Verboten. Erschossen.« zeichnet die Kampagne Halim Dener, die sich anlässlich des 20. Todestages 2014 gründete, seine Geschichte nach – eine Geschichte von Krieg, Flucht und Kriminalisierung. Um diese sichtbar zu machen, kämpfen die Aktivist*innen seit zehn Jahren für einen Erinnerungsort in Hannover. »Die Stadt muss sich mit dieser Realität auseinandersetzen, dafür fordern wir einen Ort des Gedenkens. Die Idee dahinter ist auch, ein Stück weit die Stigmatisierung der Kurd*innen aufgrund des Verbotsparagrafen 129b aufzubrechen«, erklärt Dirk Wittenberg von der Kampagne Halim Dener gegenüber ak. Dass das nicht einfach werden würde, sei relativ schnell klar gewesen: »Wir sind irgendwann dazu übergegangen, eigene Infotafeln oder Gedenksteine zu verlegen, die immer innerhalb kurzer Zeit von der Stadt entfernt wurden.«
Zusätzlich gab es Bemühungen, einen Platz im früheren Arbeiter*innenstadtteil Linden Halim Dener zu widmen. 2017 stimmte dort der Stadtbezirksrat zu, den Platz nach Halim Dener umzubenennen. Das löste heftigen Protest türkischer Organisationen aus und sorgte sogar in der Türkei für Aufruhr, wo der Schritt des Bezirksrats in Politik und Medien als Skandal bezeichnet wurde. Der damalige SPD-Oberbürgermeister Stefan Schostok legte kurz darauf vor dem Verwaltungsgericht in Hannover Einspruch gegen den Beschluss ein, mit der Begründung, innertürkische Konflikte würden dadurch angeheizt – als hätte Halim Deners Tod überhaupt nichts mit Deutschland zu tun. Das Verwaltungsgericht gab ihm recht, und der Platz wurde – zumindest offiziell – nicht umbenannt. Im März 2023 ging schließlich ein Antrag der grünen Fraktion in Hannover durch, eine Gedenktafel in der Stadt zu errichten. Die Umsetzung war für Juni 2024 vorgesehen, doch die Kampagne Halim Dener hat nicht viel Hoffnung: »Wir gehen davon aus, dass da nichts passieren wird«, so Dirk Wittenberg.
Mehr als Erinnern
In puncto Erinnerungsarbeit ist von oben wenig zu erwarten. Etwas Sichtbarkeit im öffentlichen Raum erlangte Halim Deners Geschichte in den letzten Jahrzehnten vor allem durch aktivistische Handarbeit. Zu seinem 29. Todestag letztes Jahr überklebten Aktivist*innen ein Straßenschild im Stadtteil Linden mit dem Schriftzug »Halim-Dener-Straße«. Und in Bielefeld werden Besucher*innen des Arbeiter*innenjugendzentrums von einem Graffiti in Gedenken an Halim Dener begrüßt, das schon im Jahr nach seiner Erschießung dort gesprüht wurde. Die Polizei forderte das Zentrum 2018, also über zwei Jahrzehnte später, auf, das Wandbild zu entfernen. Wegen Nichtentfernens des Graffitis verurteilte das Bielefelder Amtsgericht 2019 schließlich den Vereinsvorsitzenden des Zentrums, der in einem Berufungsverfahren aber wieder freigesprochen wurde. Das Graffiti durfte bleiben.
Lange bevor Halim Dener in Deutschland erschossen wurde, war der deutsche Staat durch Waffenexporte an die Türkei am Krieg in Kurdistan in den 1990er Jahren beteiligt, der ihn ins Exil trieb.
In diesem Jahr liegt der Fokus der Kampagne Halim Dener weniger auf der Erinnerungsarbeit. Im Vordergrund stehen stattdessen politische Forderungen. Anlässlich des 30. Todestags organisiert die Kampagne unter dem Slogan »Kämpfe verbinden!« nicht nur eine Demonstration, sondern erstmals auch eine Konferenz, um mit anderen Bewegungen zusammenzukommen und über Lösungen für aktuelle Krisen zu diskutieren. Beim Gedenken an Halim Dener geht es um mehrere politische Kämpfe zugleich. In seiner Geschichte vereinen sich die Themen Krieg und Flucht, das PKK-Verbot, Polizeigewalt, Repressionen und die Rolle des Staates. Lange bevor Halim Dener in Deutschland erschossen wurde, war der deutsche Staat durch Waffenexporte an die Türkei am Krieg in Kurdistan in den 1990er Jahren beteiligt, der ihn ins Exil trieb. Mit den Restbeständen der Nationalen Volksarmee, die Deutschland nach Ende der DDR der Türkei schenkte, wurden Kurd*innen vom Staat terrorisiert und ganze Dörfer in Kurdistan zerstört.
Durch das 1993 erlassene PKK-Verbot in Deutschland werden kurdische Aktivist*innen, Vereine und Medien bis heute kriminalisiert und angegriffen. Innenminister Manfred Kanther von der CDU, unter dem die PKK damals verboten wurde, hetzte in den 1990er Jahren regelmäßig gegen kurdische Aktivist*innen und forderte ihre Abschiebung. Nicht nur aufgrund der guten Beziehungen zur Türkei verfolgt Deutschland Kurd*innen auf Grundlage des PKK-Verbots. Deutschland hat auch ein eigenes Interesse daran, eine sozialistische Partei und damit auch Generationen von Aktivist*innen zu kriminalisieren, die sich gegen staatliche Gewalt, Krieg und Kapitalismus auflehnen und organisieren. Die Polizeigewalt, die Halim Dener tötete, war nicht vordergründig eine rassistische, sondern vor allem eine politisch motivierte Handlung. Auf den Plakaten, die Halim Dener in der Tatnacht klebte, war das Emblem der Volksbefreiungsfront Kurdistans (ERNK) zu sehen, einer Organisation der PKK.
Dennoch interessant ist die Tatsache, dass Frank H., einer der SEK-Beamten, die in jener Nacht Halim und seine Genoss*innen angriffen, heute im Zusammenhang mit den Umsturzplänen der »Reichsbürger«-Gruppe um Prinz Reuß auftaucht. »Er war als einer der ›Heimatschutzkommandeure‹ hier in der Gegend vorgesehen, da stellt sich natürlich auch die Frage nach den Verbindungen der Polizei nach Rechtsaußen«, so Dirk Wittenberg von der Kampagne Halim Dener.
Antworten auf weltweite Krisen
Am Aufruf zur diesjährigen Demonstration in Hannover, die am 6. Juli stattfindet, beteiligen sich neben kurdischen Organisationen auch viele weitere Gruppen und Initiativen, darunter der Niedersächsische Flüchtlingsrat, Rheinmetall Entwaffnen, die Rote Hilfe und viele feministische und antirassistische Gruppen. »Lasst uns unsere Kämpfe verbinden und zeigen, dass die antirassistischen und internationalistischen Antworten auf die Krisen dieser Welt lebendig sind«, heißt es im gemeinsamen Aufruf. Eine Woche davor, am 29. Juni, ruft die Kampagne zum inhaltlichen Austausch bei einer ganztägigen Konferenz im Kulturzentrum Pavillon in Hannover auf. Die verschiedenen Bewegungen wollen dort die Themen Krieg, Rüstungsexporte, staatliche Gewalt, Rassismus und das PKK-Verbot diskutieren.
Die Kampagne Halim Dener stellt eine Auseinandersetzung mit Polizeigewalt vor, die sich nicht nur mit einzelnen Aspekten beschäftigt, sondern gleichzeitig eine Systemkritik entwickelt. Was am Beispiel von Halim Dener besonders deutlich wird, aber auch für alle anderen Fälle von Polizeigewalt gilt, ist, dass staatliche Gewalt, Kapitalismus, Rassismus, Flucht und Krieg nicht separat, sondern in ihren Zusammenhängen besprochen und auch bekämpft werden müssen. Dieser Ansatz macht es notwendig, bewegungsübergreifend Widerstand gegen Gewalt und Repressionen zu leisten.