Das Gesetz allein entscheidet nichts
Damit die EU-Lieferkettenrichtlinie Arbeiter*innen wirklich schützt, müssen Gewerkschaften aktiv werden, meint die Juristin Annabell Brüggemann
Interview: Merle Groneweg
Kurz vor Ende der aktuellen Legislaturperiode wurde die EU-Lieferkettenrichtlinie nach langem Ringen doch verabschiedet. Mit ihrer plötzlichen Blockade hatte die FDP Anfang des Jahres versucht, dies zu verhindern. Die Bundesregierung musste sich im EU-Rat enthalten, der ursprüngliche, relativ weitreichende Entwurf scheiterte im Gesetzgebungsverfahren. Welche Hoffnungen dennoch mit dem neuen Gesetz verbunden sind und wie Unternehmen darauf reagieren, erzählt die Juristin Annabell Brüggemann im Interview.
Aufgrund der deutschen Blockade wurde das Europäische Lieferkettengesetz nochmals nachverhandelt und die Richtlinie deutlich verwässert. Was sind die Folgen davon?
Annabell Brüggemann: Der schwerwiegendste Verlust ist die massive Reduzierung des Anwendungsbereichs. Die Richtlinie erfasst zunächst nur Unternehmen mit mehr als 5.000 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von mehr als 1,5 Mrd. Euro. Stufenweise reduziert sich der Schwellenwert dann auf 1.000 Beschäftige und mehr als 450 Mio. Euro Jahresumsatz. Trotzdem sind damit 70 Prozent der Unternehmen, die in dem vorherigen Entwurf noch erfasst waren, rausgefallen. So wird die Richtlinie schätzungsweise nur noch für ca. 5.000 Unternehmen gelten. Außerdem wurden neben dem Finanzsektor auch einzelne Bereiche der nachgelagerten Lieferkette wie Entsorgung, Deponierung, Demontage oder das Recycling von Produkten komplett vom Umfang des Gesetzes ausgeschlossen. Bei diesen Tätigkeiten müssen Unternehmen keine Risiken und Schäden erkennen und darauf reagieren.
Warum ist die EU-Richtlinie trotzdem wichtig?
Weil sie den Paradigmenwechsel stärkt, der durch einzelne nationale Gesetze eingeleitet wurde: Endlich geht es weg von freiwilligen Selbstverpflichtungen und stattdessen hin zu verbindlichen menschen- und umweltrechtlichen Pflichten für Unternehmen. In einigen Bereichen bringt die Richtlinie wirklich enorme Verbesserungen. An erster Stelle ist die zivilrechtliche Haftung zu nennen, die wir auch für das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) gefordert haben, aber leider nicht durchsetzen konnten. Betroffene können aufgrund der zivilrechtlichen Haftung Unternehmen bald vor europäischen Zivilgerichten auf Schadensersatz verklagen, wenn Unternehmen ihre Sorgfaltspflichten verletzt und dadurch zu erlittenen Schäden der Betroffenen zumindest beigetragen haben. Das geht auch mit prozessualen Erleichterungen einher. Zum Beispiel wird der Zugang zu wichtigen unternehmensinternen Dokumenten erleichtert, an die Betroffene sonst nie gelangen würden, die aber nötig sind, um ihre Ansprüche effektiv geltend machen zu können. Das funktioniert ähnlich wie die aus dem deutschen Zivilprozessrecht bekannte sogenannte sekundäre Darlegungslast. Außerdem verjähren die Schadensersatzansprüche nicht vor Ablauf von fünf Jahren. Daran war etwa die vom ECCHR unterstützte Schadensersatzklage von Angehörigen und Hinterbliebenen gegen KIK wegen eines Fabrikbrandes in Pakistan gescheitert: Die Verjährungsfrist des pakistanischen Deliktsrechts, das das Landgericht Dortmund anwenden musste, war zu kurz.
Annabell Brüggemann
ist seit Februar 2023 als Legal Advisor im European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) im Programmbereich Wirtschaft und Menschenrechte tätig und kümmert sich um die Bearbeitung der ersten Fälle auf der Grundlage des deutschen Lieferkettengesetzes. Außerdem leitet sie eine Arbeitsgruppe des deutschen CorA-Netzwerks, die sich mit Fragen der Umsetzung des Lieferkettengesetzes aus zivilgesellschaftlicher Sicht befasst.
Inwiefern unterscheidet sich die EU-Richtlinie positiv von dem deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz?
Die EU-Richtlinie nennt mehrere menschenrechtliche Schutzgüter ausdrücklich, die im deutschen LkSG fehlen oder nur im Fall besonders schwerwiegender Verletzungen erfasst sind. Dazu zählen existenzsichernde Einkommen von Kleinbäuer*innen und sonstigen Selbstständigen – und nicht nur Arbeiter*innen – ebenso wie das Recht auf Leben, Gesundheit, Bildung und angemessene Lebensbedingungen oder das Recht auf persönlichen Datenschutz und die Gedankenfreiheit. Außerdem umfasst die EU-Richtlinie einen deutlich größeren Teil der Wertschöpfungskette. Das deutsche LkSG fokussiert sich vor allem auf den eigenen Geschäftsbereich und direkte Zuliefererfirmen, wodurch die Teile der Wertschöpfungskette, die besonders hohe Risiken für Menschenrechtsverletzungen bergen, quasi ausgespart sind. Mit Problemen in der tieferen Lieferkette müssen sich Unternehmen nach dem deutschen LkSG nicht proaktiv, als Teil ihrer regelmäßigen Risikoanalyse, befassen, sondern nur dann, wenn sie bereits Anhaltspunkte für Missstände haben. Die EU-Richtlinie deckt dagegen die gesamte vorgelagerte Lieferkette ab. Damit kommt sie dem präventiven Ansatz der Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte der Vereinten Nationen deutlich näher. Diese sehen einen risikobasierten Ansatz vor: Unternehmen müssen ihre ganze Wertschöpfungskette anschauen und anschließend priorisieren: Wo sind die Risiken am größten? Und da müssen sie dann auch wirklich substanziell etwas verändern.
Das deutsche LkSG ist bereits 2023 in Kraft getreten. Wie du schon ausgeführt hast, ist ein großer Kritikpunkt, dass es eben keine zivilrechtliche Haftung vorsieht, sondern nur mit Verwaltungsrecht arbeitet. Für die Umsetzung ist eine Behörde zuständig. Wie läuft das ab?
Tatsächlich sieht das LkSG keine ausdrückliche zivilrechtliche Klagemöglichkeit für Betroffene vor. Stattdessen können Betroffene von Menschenrechtsverletzungen einen Antrag bei dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) auf behördliches Eingreifen stellen. Kann die Person, die ihn vorbringt, geltend machen, infolge einer Sorgfaltspflichtverletzung eines Unternehmens selbst in einer von dem Gesetz geschützten Rechtsposition verletzt worden zu sein, muss das BAFA tätig werden und dies überprüfen. Auch andere, nicht selbst betroffene Personen können Hinweise geben, aber das BAFA ist dann nicht dazu verpflichtet, diese aufzugreifen oder die Hinweisgeber*innen über den Prozess zu informieren. Doch auch bei von Betroffenen angestoßenen Verfahren stellt sich das BAFA derzeit auf den Standpunkt, das Antragsverfahren der Betroffenen sei mit der Entscheidung der Behörde, ein Prüfverfahren einzuleiten, beendet. Ob und wann die Betroffenen in dem weiteren Verfahren noch einmal beteiligt werden und ob und welche Informationen sie über dessen Verlauf und Ergebnis erhalten, hängt von dem kaum überprüfbaren Ermessen der Behörde ab. Bleibt es bei dieser sehr fragwürdigen, engen Auslegung des Antragsverfahrens und der subjektiven Rechte von Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen, dann stellt es die Bedeutung des Verfahrens als effektives Rechtsschutzinstrument total in Frage.
Das LkSG schreibt darüber hinaus vor, dass Unternehmen einen so genannten Beschwerdemechanismus für Betroffene entlang der gesamten Wertschöpfungskette einrichten müssen. Habt ihr damit schon Erfahrungen gemacht?
Für eine endgültige Bewertung sowohl des BAFA-Verfahrens als auch der Beschwerdemechanismen ist es zu früh. Allerdings zeigt sich, dass der unternehmensinterne Beschwerdemechanismus geeignet ist, Unternehmen dazu zu bringen, sich überhaupt einmal mit den Arbeiter*innen und Betroffenen vor Ort zusammenzusetzen. Dann bekommen sie ein realistisches Bild von der Situation, was durch ihre klassischen Sozialaudits und Zertifizierungen ja meist nicht der Fall ist. Das Gesetz ist also ein weiteres Druckmittel, das Gewerkschaften und andere für transnationale Arbeits- und Rechtskämpfe nutzen können. Denn bisher sind Unternehmen mit Sitz in Deutschland oder der EU meist außer Reichweite für Gewerkschaften, die Arbeiter*innen bei den Zulieferfirmen in anderen Staaten organisieren. Das LkSG und die EU-Richtlinie können diese Gräben überbrücken. Um transnationale Arbeitskämpfe effektiver zu führen, wäre es jedoch wichtig, dass sich europäische Gewerkschaften hier aktiver einbringen. Wir sind als NGO mit kritischer juristischer Expertise viel in Austausch mit Gewerkschaften in anderen Staaten, die, wenn sie in Deutschland sind, gerne andere Gewerkschaften treffen möchten und nicht nur uns NGOler*innen. Das passiert teilweise auch schon. Aber hier liegt noch viel ungenutztes Potenzial für transnationale Arbeiter*innenkämpfe.
Oftmals wird nicht einmal der gesetzliche, weit unter einem existenzsichernden Lohn liegende Mindestlohn gezahlt.
Kannst du ein paar Beispiele für Kooperationen mit Gewerkschaften nennen bzw. dafür, wie ihr das LkSG bereits genutzt habt?
Ja, ich kann zwei Beispiele geben. Wir haben gemeinsam mit den Gewerkschaften ASTAC aus Ecuador und SITRAP aus Costa Rica Beschwerden eingereicht bei den Supermarktkonzernen Aldi, Edeka, Lidl und Rewe wegen Arbeits- und Menschenrechtsverletzungen auf Bananen- und Ananasplantagen, die die Supermärkte beliefern. Oxfam, Misereor und wir als ECCHR unterstützen die Gewerkschaft dabei im Kontakt mit den Konzernen in Deutschland. Während Aldi und Lidl bereit waren, mit den Gewerkschaften vor Ort zu verhandeln, haben Edeka und Rewe eine Antwort geschickt, wie sie früher auch kam, und lediglich auf Audits und Zertifizierungen verwiesen, ohne die Arbeiter*innen angemessen einzubeziehen. Deshalb haben wir gegen diese beiden Supermärkte Beschwerde beim BAFA eingereicht und sind nun in Auseinandersetzungen mit dem BAFA, inwiefern sie die Gewerkschaft und einzelne betroffene Arbeiter*innen im weiteren Verfahren beteiligt. Auch in Bangladesch und Pakistan kooperieren wir mit Gewerkschaften im Textilsektor. In Pakistan haben wir gemeinsam mit der feministischen Arbeitsrechtsorganisation FEMNET und unseren langjährigen Partnerin, der pakistanischen Gewerkschaft NTUF, eine Studie zu Arbeitsrechtsverletzungen in Textilfabriken durchgeführt, die europäische Unternehmen beliefern. Die Ergebnisse zeigten u.a., dass oftmals nicht einmal der gesetzliche, weit unter einem existenzsichernden Lohn liegende Mindestlohn gezahlt wird.
Ist es nicht ein etwas zu hoher Anspruch, wenn nicht gar Hybris, dass man mit diesen, in Europa mehrheitlich von Europäer*innen gemachten Gesetzen wirklich etwas an den ausbeuterischen Verhältnissen und Machtungleichgewichten in globalen Produktionsnetzwerken verändern kann?
Ja und nein. Es gibt Stimmen, die kritisieren, dass das LkSG und die EU-Richtlinie ohne die Beteiligung von Betroffenen in Produktionsländern gemacht wurden, obwohl sie es sind, deren Lage diese Regulierungen vermeintlich verbessern sollen. Das ist eine Kritik, die ich zum Teil auch teile. In den Gesetzgebungsprozessen wurden die Stimmen sozialer Bewegungen vor Ort oder von Arbeiter*innen viel zu wenig gehört. Hier haben wir zwar versucht, entsprechende Räume zu öffnen und die Stimmen unserer Partner*innen hier in Europa hörbar zu machen. Das hat jedoch nur teilweise funktioniert. Umso wichtiger ist es, dass wir im Rahmen der jetzt anstehenden Umsetzung dieser Gesetze diese Aufgabe noch ernster nehmen. Denn es gibt auf jeden Fall eine klare Tendenz in die andere Richtung: Die Auslegung der Gesetze wird als Top-Down-Compliance gedacht und es geht nur noch darum, was aus der europäischen Unternehmenslogik funktioniert. Hier müssen wir gegenhalten. Dafür bieten die Gesetze viele Ansatzpunkte, die sich mobilisieren lassen, um die Position von Arbeiter*innen und Gewerkschaften in globalen Lieferketten zu stärken. Ein machtkritischer, materieller Blick auf das Recht macht aber auch klar, dass es natürlich weiterer Auseinandersetzungen und Kämpfe bedarf. Allein mit Inkrafttreten dieser Gesetze ist überhaupt nicht entschieden, ob und in welcher Form sie Betroffene schützen können. Denn die andere Seite rüstet natürlich auch auf; es gibt eine starke Gegenbewegung, auch im juristischen. Umso wichtiger ist es deshalb, dass sich progressive Jurist*innen solidarisch an die Seite von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften stellen und dieses Gesetz als ein weiteres Feld der gesellschaftlichen Auseinandersetzung sehen.