Postsowjetische Zustände
Texte des linken ukrainischen Soziologen Wolodymyr Ischtschenko sind als Buch erschienen – sie können helfen, Russland und die Ukraine zu verstehen
Von Dietmar Lange
Bis zur umfassenden russischen Invasion der Ukraine 2022 standen Osteuropa und der postsowjetische Raum eher am Rande der Aufmerksamkeit der hiesigen Linken. Seit Beginn des Krieges sind aber einige durchaus luzide linke Analysen – meist von osteuropäischen Marxist*innen verfasst – in Zeitschriften der deutschen und »westlichen« Linken erschienen, die nicht nur dabei helfen können, den Krieg selbst besser zu verstehen, sondern auch die konkrete Realität des Kapitalismus und seine Verwerfungen in großen Teilen der Welt außerhalb eines veralteten Nord-Süd-Schemas zu analysieren.
Dazu gehören auch die Beiträge des ukrainischen Sozialwissenschaftlers Wolodymyr Ischtschenko (die englische Schreibweise beim rezensierten Buch ist Volodymyr Ishchenko), die sich einer gewissen Beliebtheit in linken Publikationen wie New Left Review oder Jacobin erfreuen. Einen Teil derselben hat dieser nun in einem kleinen, englischsprachigen Bändchen versammelt, das bei Verso Books erschienen ist. Es sind vor allem Artikel und Aufsätze, die sich mit der Situation in der Ukraine seit dem Euromaidan 2014, aber auch mit Russland seit der Invasion 2022 befassen; in einem Aufsatz wird zudem ein Blick auf die Proteste in Belarus 2020 geworfen.
Ein Thema, das sich durch das gesamte Buch zieht, ist das der »postsowjetischen Zustände« (Post-Sowjet condition). Damit meint Ischtschenko, auf Gramsci rekurrierend, eine anhaltende Hegemoniekrise nach dem Zerfall der Bindekraft der kommunistischen Ideologie, deren Beginn er bereits in der späten UdSSR ausmacht. Seitdem hat es keine herrschende Klasse mehr vermocht, größere Teile der Bevölkerung in ein Entwicklungsprojekt zur Stabilisierung ihrer Herrschaft einzubinden.
Das liegt daran, dass sich die neue kapitalistische Klasse vor dem Hintergrund einer »De-Modernisierung« nach dem Ende der UdSSR herausbildete, mit großflächiger Deindustrialisierung und Verarmung der Bevölkerung. Was dabei entstand war eine Klasse »politischer Kapitalist*innen«, wie er die Oligarch*innen nennt, die ihren Reichtum vor allem über informelle Beziehungen zu staatlichen Stellen akkumulierte, der es aber an gesellschaftlicher Legitimität mangelt.
Allenfalls vermochten es autoritäre Machthaber wie Putin oder Lukaschenko, eine gewisse Legitimität durch das Versprechen von Stabilität nach dem Chaos der 1990er Jahre zu erzielen, die aber eher in einer passiven Zustimmung als in einer aktiven Einbindung besteht. In einer Reihe anderer Länder hingegen – hier behandelt Ischtschenko die Ukraine als ein paradigmatisches Beispiel – gelang auch das nicht.
Stattdessen zeichnen sie sich durch häufige Machtwechsel aus, oft begleitet von Volksaufständen, den sogenannten »Farbenrevolutionen«, die aber zu keiner fundamentalen Transformation »von unten« geführt haben und daher die Krise nur weiter verstärkten. Einen Grund macht er darin aus, dass die sichtbarste Opposition zu den »politischen Kapitalist*innen« – die mit dem transnationalen Kapital verbundenen liberalen Mittelschichten – selbst nicht mehr als eine periphere Integration in den »Westen« und ethnokulturelle Abgrenzung zu Russland als »Ersatz-Modernisierung« anzubieten hat. Ein Angebot, das auch in der Ukraine – bis zum Krieg – wenig attraktiv für den Großteil der allerdings atomisierten subalternen Bevölkerung war.
Der Autor versucht sich an einer Aktualisierung der Imperialismustheorie.
Den Krieg analysiert Ischtschenko ebenfalls im Kontext dieser »postsowjetischen Zustände« und versucht sich hierbei an einer Aktualisierung der Imperialismustheorie. Er attestiert den »politischen Kapitalist*innen« einen inhärenten Drang zur Expansion des eigenen Territoriums mit exklusivem Zugang zu den dortigen politischen Institutionen, der ihre Hauptakkumulationsquelle bildet und der sie vor der Konkurrenz des transnationalen Kapitals schützt. Die These kann vielleicht nicht die Invasionsentscheidung direkt erklären, aber durchaus plausibel das materielle Interesse hinter dem Kampf um »Einflusssphären« oder die »multipolare Weltordnung« herausarbeiten. Es handelt sich dabei nicht um quasi »natürliche« Interessen Russlands, sondern um die seiner herrschenden Klasse.
Diese und weitere Thesen in dem Buch regen mehr zum Weiterdenken an, als dass sie abschließende Erklärungen bieten, was aber durchaus auch eine Stärke ist. Einiges bleibt allerdings sehr vage, etwa die Überlegungen, wie ein Ausbruch aus dem Teufelskreis der postsowjetischen Dauerkrise aussehen könnte, den Ischtschenko am ehesten in Russland für möglich hält. Dort macht er seit dem Krieg einen Übergang zu einem stärker ideologisierten und auf Mobilisierung setzenden Hegemonieprojekt aus, was gegenhegemoniale Bewegungen in Gang setzen könnte. Viel mehr erfährt man leider nicht. In einem Interview zum Schluss des Bandes gibt sich der Autor wieder vorsichtiger. Anzeichen für eine bevorstehende Revolution oder Palastrevolte kann er nicht erkennen. Es sei eher der »Ausgang des Krieges, der determiniert, ob Russland eine Revolte sieht, einen Putsch oder eine Konsolidierung des Putinismus«.
Volodymyr Ishchenko: Towards the Abyss – Ukraine from Maidan to War. Verso Books, London/New York 2024. 160 Seiten, 11,99 EUR.