analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 704 | Soziale Kämpfe

»Die Fahrer haben eigentlich eine große organische Macht«

Kann gewerkschaftliche Organisierung in der durch viele Subunternehmen zersplitterten Paketbranche funktionieren?

Von Jan Ole Arps und Nelli Tügel

Viele Pakete stapeln sich im Innenraum eines Transportfahrzeugs
Wenn sie nicht fahren, bleibt alles liegen. Paketbot*innen werden in Deutschland oft brutal ausgebeutet. Foto: Claudi Schwarz / Unsplash

Die Paketbranche ist ein besonderer Wirtschaftszweig, denn seine Beschäftigten sind im Allgemeinen hochzufrieden. Das vermeldete zumindest Ende April der Bundesverband Paket- und Expresslogistik (BPEX). Der Unternehmerverband hatte eigens eine Umfrage unter Paketzusteller*innen in Auftrag gegeben, weil es in der Debatte um die Neufassung des Postgesetzes zuletzt immer häufiger darum ging, dass die Arbeit der Zusteller*innen besonders hart, die Bezahlung aber besonders niedrig ist; nicht selten ist von Überausbeutung die Rede. Für den BPEX ein unerträglicher Zustand. Nun liegen dessen Zahlen vor, die das Bild zurechtrücken sollen. Demnach sind 83 Prozent der etwa 1.000 befragten Zusteller*innen mit ihrer Arbeit zufrieden, 90 Prozent mit ihrem Arbeitgeber, immerhin 70 Prozent mit der Bezahlung. »Zum ersten Mal hatten die von zahlreichen geplanten Regulierungen der Politik potenziell Betroffenen die Gelegenheit, selbst Stellung zu beziehen«, erklärt der Unternehmerverband in seiner Pressemitteilung.

Muss das Bild der Branche korrigiert werden? So sieht es der BPEX. Die meisten, die mit Paketbot*innen sprechen, erhalten indes ganz andere Informationen, als bei dessen Befragung herausgekommen ist: Überlange Arbeitstage, nicht bezahlte Überstunden, Lohndiebstahl durch willkürliche Abzüge, Unterschlagung von Sozialabgaben – das sind nur einige der vielen Missstände, über die Zusteller*innen berichten. Diese Missstände sind so verbreitet, dass selbst der Zoll vergangenen Herbst in einem Brief an das Bundesfinanzministerium »schwere strukturelle Kriminalität« in der Branche beklagte. Insbesondere durch die vielen Subunternehmen werde planmäßig ein System geschaffen, mit dessen Hilfe Kontrollbehörden getäuscht, Verantwortlichkeiten verschleiert und so erhebliche wirtschaftliche Vorteile erzielt würden.

Subsubsubunternehmertum

Die Zustände, die der Zoll anhand zahlreicher Beispiele beschreibt, sind schon länger bekannt. Journalist*innen berichten darüber, Gewerkschaften und gewerkschaftsnahe Beratungsnetzwerke wie Faire Mobilität dokumentieren seit Jahren derartige Fälle und fordern, analog zur Fleischindustrie, ein Verbot von Werkverträgen und Subunternehmerketten in der Branche. Der vorliegende Gesetzesentwurf für ein neues Postgesetz sieht ein solches Verbot jedoch nicht vor. Der BPEX scheint dennoch zu befürchten, dass hier das letzte Wort noch nicht gesprochen ist, daher die Umfrage.

Dass die Arbeitsbedingungen in der Paketzustellung derart prekär sind, hat Gründe. Der wichtigste ist das Geschäftsmodell der Branche: möglichst viele Sendungen in möglichst kurzer Zeit zu möglichst günstigem Preis zuzustellen. Wenige große Player konkurrieren um Marktanteile. Da sind zum einen Unternehmen wie UPS und vor allem DHL, die vorwiegend mit Festangestellten arbeiten. Auch deren Arbeit ist hart, aber geltendes Arbeitsrecht wird im Großen und Ganzen eingehalten, es gibt Betriebsräte und, jedenfalls bei DHL, Tariflöhne. Unter diesen Bedingungen arbeitet etwa die Hälfte der gut 90.000 Paketzusteller*innen in Deutschland. Die andere Hälfte ist bei Subunternehmen beschäftigt, über die wiederum Hermes, GLS, DPD (vorwiegend) und teilweise auch UPS die Zustellung abwickeln lassen – und seit einigen Jahren auch Amazon, das vorher die Dienste der Konkurrenten Hermes und DHL in Anspruch nahm und diese nun immer stärker über Subunternehmen unter Amazon-Kontrolle aussticht.

Die meisten Zusteller*innen kommen aus jenem prekären Segment des Arbeitsmarkts, aus dem auch andere Niedriglohnbranchen wie das Baugewerbe, die Fleischindustrie oder Tesla rekrutieren.

Für das Geschäftsmodell der großen Firmen ist es entscheidend, die hohen Kosten auf der personalintensiven »letzten Meile« der Sendungen, also der Lieferung an die Endkund*innen, so niedrig wie möglich zu halten. Hier kommen die Subunternehmen ins Spiel, die den auf sie abgewälzten Preisdruck an die Zusteller*innen weitergeben. Die Subunternehmen – oft Firmen mit nur zehn bis 20 Mitarbeiter*innen – sind von Hire and Fire geprägt, Lohnprellerei und Arbeitszeitbetrug sind Gang und Gäbe. Branchenriesen wie Amazon achten dabei darauf, dass ihre Subunternehmen klein bleiben, begrenzen die Werkverträge mit ihnen auf zwölf Monate und verlängern sie auch nur in diesem Turnus. Das verdeutlicht, wie stark die Auftraggeber auch die ökonomischen Handlungsmöglichkeiten der Subunternehmen vorgeben und kontrollieren.

Dass die Subunternehmen besonders ausbeutbare Beschäftigte in großer Zahl rekrutieren, ist ihre zentrale Funktion für die Auftraggeber. Daher werben sie gezielt um migrantische Fahrer*innen, die bis zu 90 Prozent der Beschäftigten in den Subunternehmen ausmachen. Sie kommen zum überwiegenden Teil aus jenem besonders prekären Segment des Arbeitsmarkts, aus dem auch andere Niedriglohnbranchen wie das Bau- und Reinigungsgewerbe, die Fleischindustrie, die Landwirtschaft oder in Berlin-Brandenburg die Tesla-Fabrik rekrutieren. Viele haben vorher in einem Schlachtbetrieb gearbeitet oder tauschen den Job in der Zustellung irgendwann gegen eine Stelle bei Tesla ein. In all diesen Sektoren machen Unternehmen es sich zunutze, dass ihre vorwiegend nichtdeutschen Beschäftigten wenig Alternativen auf dem deutschen Arbeitsmarkt haben oder, weil ihr Aufenthaltsstatus an den Arbeitsplatz geknüpft ist, besonders erpressbar sind. Oder sie vertrauen darauf, dass die Arbeiter*innen ihre Rechte nicht so genau kennen oder nicht einfordern, weil sie ohnehin nur vorübergehend zum Arbeiten in Deutschland sind.

Schwieriges Terrain für Gewerkschaften

Während die Zusteller*innen bei DHL in ein Tarifwerk eingebunden und oft auch gewerkschaftlich organisiert sind, sieht das in den Subunternehmen ganz anders aus. Zersplitterung in viele kleine Betriebe, oft mit kurzer Lebensdauer, vorübergehende oder befristete Beschäftigung, Sprachbarrieren – für Gewerkschaften ist das schwieriges Terrain.

Trotz dieser Schwierigkeiten finden sich aber auch in der Paketbranche vereinzelt Beispiele dafür, dass sich Arbeiter*innen gegen unzumutbare Bedingungen wehren, etwa indem sie die Weiterfahrt verweigern, wenn ausstehende Löhne nicht bezahlt werden. Die Voraussetzungen für den Erfolg solcher, in der Regel aus extremer Not geborener, Widerstandsaktionen haben sich durch die hohe Nachfrage nach Zusteller*innen zuletzt zumindest geringfügig verbessert. Gleichwohl bleibt eine gewerkschaftliche Strategie für die Branche dringend notwendig. Ver.di setzt dabei vor allem auf ein Verbot von Subunternehmen. Dafür gibt es seit 2013 die Kampagne »Fair zugestellt statt ausgeliefert«. Sind die Zusteller*innen erst einmal in der Festanstellung bei einem der großen Paketdienstleister, so die Überlegung, wird ihre Organisierung ungleich einfacher, als dies in der zerklüfteten Subunternehmerlandschaft der Fall ist.

Doch wann oder ob es dazu überhaupt kommt, ist ungewiss. Der Versuch, entsprechenden Einfluss auf das Postgesetz zu nehmen, war zumindest bislang nicht erfolgreich. Und so stellt sich die Frage, was ver.di in der Zwischenzeit tun könnte. Einer, der eine Organisierung der Zusteller*innen auch in Subunternehmen für möglich hält, ist der ver.di-Gewerkschafter Nonni Morisse. Er ist in Niedersachsen und Bremen für die Organisierung von Amazon-Verteilzentren – den kleineren Depots, von denen die Pakete zu den Kund*innen auf den Weg gebracht werden – zuständig. In dem Zusammenhang hatte er auch mit Fahrer*innen aus Subunternehmen zu tun, die die Sendungen in diesen Verteilzentren abholen. Bei Gesprächen mit Fahrer*innen sei er durchaus auf Interesse gestoßen, sich gewerkschaftlich zu organisieren, sagt Morisse. »Unmöglich ist das nicht«, so sein Fazit. Und: »Fahrer haben eigentlich eine große organische Macht. Wenn die eng getaktete Lieferkette unterbrochen ist durch Fahrer, die auf dem Hof stehen und nicht weiterfahren, dann ist das ein richtiges Problem für Konzerne wie Amazon.«

Vorbilder in Italien und den USA?

Dass eine solche Organisierung prinzipiell möglich ist, legen auch Beispiele aus Italien und den USA nahe. In Italien fand im März 2021 ein 24-stündiger Streik bei Amazon statt, an dem bis zu 40.000 Beschäftigte aus allen Bereichen die Arbeit niederlegten, unter ihnen viele Fahrer*innen von Subunternehmen, über die Amazon auch in Italien einen großen Teil der Zustellung abwickelt. Laut Amazon beteiligten sich 20 Prozent der Zusteller*innen am Streik, die Gewerkschaften sprechen von 70 bis 75 Prozent. Im Ergebnis schlossen die Logistikgewerkschaften der drei Dachverbände CGIL, CISL und UIL im Oktober 2021 ein Abkommen mit Amazon über einen Tarifvertrag und Betriebsräte in allen Amazon-Lagern, in denen es Gewerkschaftsmitglieder gibt. Für die Fahrer*innen wurde parallel mit dem Unternehmerverband Assoespressi, einem Zusammenschluss von Transportunternehmen, die für Amazon ausliefern, ein Abkommen verhandelt.

Die italienischen Amazon-Zusteller*innen waren bereits 2017 durch spontane Arbeitsniederlegungen in Erscheinung getreten. Insbesondere die Logistikgewerkschaft der CGIL hat daraufhin eine Menge Ressourcen in die Organisierung der Fahrer*innen gesteckt. Ein Grund für diese Entscheidung war vermutlich auch der Streikzyklus in der italienischen Logistikbranche in den Vorjahren, in denen die kleinen bis mittelgroßen unabhängigen Basisgewerkschaften federführend waren. Diese Kämpfe haben die großen Gewerkschaften, insbesondere die CGIL, unter Zugzwang gesetzt, wenn sie ihren Einfluss im Sektor nicht verlieren wollten. In Italien hat also die Gewerkschaftskonkurrenz das Geschäft belebt.

Als Schlüssel zum Erfolg beschreiben Elisa Gigliarelli und Danilo Morini von der italienischen Transportgewerkschaft FILT CGIL in einem Interview für die Rosa-Luxemburg-Stiftung, dass sie die Zersplitterung zwischen den unterschiedlichen Beschäftigtengruppen überwunden hätten. Im Vorfeld des Streiks hatte die Gewerkschaft regionale Treffen initiiert, auf denen Arbeiter*innen aus den Amazon-Logistikzentren und Zusteller*innen gemeinsame Forderungen und Ziele festgelegt hatten.

Als Schlüssel zum Erfolg beschreiben Elisa Gigliarelli und Danilo Morini von der italienischen Transportgewerkschaft FILT CGIL, dass sie die Zersplitterung zwischen den unterschiedlichen Beschäftigtengruppen überwunden hätten.

Auch in den USA gibt es erste Ansätze der Organisierung von Amazon-Zusteller*innen. Im April 2023 gelang es der US-Transportgewerkschaft Teamsters erstmals, ein Subunternehmen zu organisieren. Ein Sieg für gewerkschaftliches Organizing – dennoch nur ein kurzer Glücksmoment: Denn Amazon stellte die Zusammenarbeit mit dem Subunternehmen ein.

Die Teamsters hatten 2021 eine größere Amazon-Abteilung ins Leben gerufen, um die gewerkschaftlichen Aktivitäten im Konzern voranzutreiben. Hierbei knüpfen aktive Teamsters-Gewerkschafter*innen aus anderen Unternehmen, etwa von UPS, in ihrer Freizeit Kontakte zu Amazon-Kolleg*innen und versuchen, sie von den Vorteilen gewerkschaftlicher Organisierung zu überzeugen und bei praktischen Schritten zu unterstützen. Die ersten Früchte dieser Arbeit: 84 Fahrer*innen und Dispatcher des Amazon-Subunternehmens Battle Tested Strategies (BTS) in Palmdale, Kalifornien, eines von etwa 3.000 Amazon-Subunternehmen in den USA, konnten das Unternehmen zur Anerkennung ihrer Gewerkschaft und zum Abschluss eines Vertrags bewegen, der unter anderem die Erhöhung der Löhne und die Möglichkeit, gefährliche Touren abzulehnen, beinhaltet.

Die Fahrer*innen bei BTS kämpfen seither für die Anerkennung ihrer Vereinbarung mit dem Subunternehmen durch Amazon und organisieren Solidaritätsaktionen vor Amazon-Standorten in den gesamten USA. Bisher sitzt Amazon die Aktivitäten allerdings aus. Wie der Kampf ausgeht, wird sowohl für die Teamsters-Strategie als auch für Überlegungen hierzulande, wie der Konzern entlang der gesamten Lieferkette unter Druck gesetzt werden kann, von Bedeutung sein.

Auch in Deutschland könnte ein Pilotprojekt, etwa für einen Betriebsrat in einem Amazon-Subunternehmen, ein Ausgangspunkt sein, davon träumt zumindest ver.di-Gewerkschafter Nonni Morisse. Bei Amazon kämpft ver.di seit mehr als zehn Jahren für einen Tarifvertrag, bisher sind allerdings vor allem die großen Logistikzentren gewerkschaftlich organisiert – ohne das dies bislang gereicht hätte, um dem Konzern einen Tarifvertrag abzuringen. Durch die Expansion des Konzerns in die Zustellung droht sich der strategische Nachteil der Beschäftigten gegenüber dem global aufgestellten Branchenriesen noch zu verschärfen.

Die Konkurrenten auf dem Zustellmarkt würden dadurch ebenfalls weiter unter Druck geraten; diesen Druck dürften dann auch die gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten in diesen Unternehmen, insbesondere bei DHL, zu spüren bekommen. Für ver.di könnte die Entscheidung, ob sie die Organisierung der Zustellung in Angriff nimmt, also zur existenziellen Frage für die Zukunft der Gewerkschaft in der gesamten Branche werden.

Der Text basiert auf der Studie »Ausgeliefert« über Arbeits- und Organisierungsbedingungen in der Paketbranche, die Jan Ole Arps und Nelli Tügel für die Rosa-Luxemburg-Stiftung verfasst haben und die dort bestellt werden kann.

Nelli Tügel

ist Redakteurin bei ak.

Jan Ole Arps

ist Redakteur bei ak.