Nie mehr verschwinden
Eine hauptsächlich von Frauen organisierte Bewegung protestiert gegen Unterdrückung und das Verschleppen von Menschen in der pakistanischen Provinz Belutschistan
In der Region Belutschistan auf pakistanischem Staatsgebiet gehen seit November 2023 Tausende Frauen, deren Familienangehörige von der pakistanischen Armee verschleppt wurden, auf die Straße. Frauen initiierten auch einen Protestmarsch vom südlichen Kech-Distrikt Belutschistans nahe der iranischen Grenze bis nach Islamabad, der Hauptstadt Pakistans – eine Strecke von 1.600 Kilometern. Als der Protestmarsch Islamabad am 20. Dezember erreichte, wurde er von der Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern empfangen. Dennoch errichteten die Teilnehmer*innen ein Protestcamp, dem sich auch Wochen später noch immer Familien anschlossen.
Auslöser der aktuellen Protestbewegung war die Ermordung des belutschischen Jugendlichen Balaach Mola Bakhsh in der Stadt Turbat im November 2023. Balaach Mola Bakhsh war von den pakistanischen Antiterrorkräften CTD (Police Counter Terrorism Department) beschuldigt worden, bewaffneter Widerstandskämpfer zu sein, und Ende Oktober aus seinem Haus verschleppt worden. Noch in Untersuchungshaft wurde Bakhsh wenige Wochen später erschossen. Ende November wurde der Leichnam beigesetzt, tausende Menschen nahmen an der Beerdigung teil.
Belutschistan gilt als Armenhaus Pakistans, obwohl dort immense Bodenschätze liegen. Die Bevölkerung bekommt von diesem Reichtum nichts zu sehen.
Balaach Mola Bakhshs Ermordung traf auf eine tief verwurzelte Wut über die omnipräsente Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Repression gegen Belutsch*innen und die Politik des Verschwindenlassens, die in den letzten Jahren immer weiter eskaliert ist. Viele Menschen, die am Protestmarsch teilnahmen, haben Angehörige, Kinder, Eltern, Geschwister und Freund*innen, die von der pakistanischen Armee oder dem ISI (dem pakistanischen Geheimdienst) verschleppt wurden und seit Jahren vermisst werden. In der belutschischen Gesellschaft gibt es kaum Menschen, die nicht nahe Angehörige durch die pakistanische Repressionen verloren haben.
Das Armenhaus und die Seidenstraße
Das Verschwindenlassen von Belutsch*innen reicht zurück bis in die 1970er Jahre. Der Konflikt in der Region ist indes noch älter. Schon die koloniale Grenzziehung durch die Briten im 19. Jahrhundert teilte die Region entlang willkürlicher Linien. Heute leben Belutsch*innen sowohl in der iranischen Provinz Sistan-Belutschistan als auch in Afghanistan und Pakistan. 1947 erklärte sich Belutschistan unabhängig; im Prozess der pakistanischen Staatsgründung 1948 wurde es unter militärischem Druck in den neuen Staat eingegliedert. Seitdem gibt es Bestrebungen für eine erneute Unabhängigkeit. Bewegungen, die dieses Ziel auch bewaffnet verfolgen, sind auf beiden Seiten der iranisch-pakistanischen Grenze aktiv, was immer wieder Anlass für – auch militärische – Auseinandersetzungen zwischen Iran und Pakistan bietet.
Belutschistan gilt als »Armenhaus« Pakistans, obwohl dort immense Bodenschätze liegen. Die dortige Bevölkerung bekommt allerdings von diesem Reichtum nichts zu sehen. Geostrategisch wächst die Bedeutung Pakistans und der Region spätestens, seit China mit dem Bau der »neuen Seidenstrasse« begonnen hat. Der China-Pakistan-Wirtschaftskorridor führt als Teil der Seidenstraße quer durch Belutschistan bis zur Hafenstadt Gwadar, die China in den vergangenen Jahren zu einem Tiefseehafen ausgebaut hat.
Die Übernahme des Fischfangs durch chinesische Trawler hat die einheimische Fischerei, bis dahin die Lebensgrundlage für viele Menschen in Gwadar, zum Erliegen gebracht. Für den Bau des Hafens wurden Ortschaften zerstört und ihre Bewohner*innen vertrieben. Da die chinesischen Unternehmen Arbeiter*innen aus China mitbringen und auch viele Waren importieren, hat die ansässige Bevölkerung außer noch mehr Unterdrückung und Vertreibung nichts von der Neuen Seidenstrasse.
Die Organisation Voice for Baloch Missing Persons (VBMP) zählt aktuell 7.000 Verschwundene aus der Provinz Belutschistan.
Widerstand gegen die Ausplünderung der Region und die politische Unterdrückung der Belutsch*innen in Pakistan gibt es seit Jahrzehnten. In den frühen 2000er Jahren gewann der bewaffnete Konflikt zwischen belutschischen Unabhängigkeitskämpfern und der Zentralregierung an Intensität. Seitdem sind das gewaltsame Verschwindenlassen und »außergerichtliche« Tötungen (also Hinrichtungen ohne Gerichtsprozesse) zu einem Instrument der Aufstandsbekämpfung der pakistanischen Armee in der Provinz geworden.
Die Organisation Voice for Baloch Missing Persons (VBMP) zählt aktuell 7.000 Verschwundene aus der Provinz Belutschistan. Nach Angaben des Human Rights Council of Balochistan, dem Menschenrechtsrat Belutschistans, werden täglich durchschnittlich zwei Personen entführt und getötet. Aus dem Jahresbericht der Organisation für 2023 geht hervor, dass in Belutschistan im letzten Jahr 586 Menschen gewaltsam verschwunden sind und 504 ihr Leben verloren haben. Dafür werden vor allem das Frontier Corps, eine paramilitärische Einheit des Innenministeriums, und der pakistanische Geheimdienst ISI verantwortlich gemacht.
Iran, Sudan, Afghanistan, Belutschistan
Ähnlich wie in Kurdistan ist die Befreiungsbewegung in Belutschistan eher säkular und sozialistisch geprägt. Sie geht quer durch alle gesellschaftlichen Schichten – von Menschenrechtsorganisationen über Studierendengruppen bis zu den Kämpfer*innen, die Belutschistan bewaffnet verteidigen. Politisch Aktive sind täglich mit Gewalt konfrontiert, ihre Familien erfahren kollektive Bestrafung durch die pakistanische Armee. All das zwingt viele Menschen ins Exil.
Nach dem Mord an Balaach Mola Bakhsh waren es vor allem Frauen, die ihre Stimme erhoben, »gegen Autoritarismus, Tyrannei und die Herrschaft der Mullahs«, wie das internationale Onlinemagazin The Diplomat schreibt. Damit reihen sie sich ein in von Frauen geführte Aufstände der letzten Jahre, so das Magazin: »Afghanische, belutschische, sudanesische und iranische Frauen standen im Mittelpunkt des Widerstands im Jahr 2023 und spielten eine zentrale Rolle bei dem kollektiven Streben nach Veränderung. Das liegt daran, dass die Frauen die Hauptlast des Autoritarismus und der Herrschaft der Mullahs in dieser Region tragen.«
Auch der Marsch und das Protestcamp in Islamabad wurden von Frauen des Baloch Yakjehti Committee (BYC) angeführt. Dem Protest schlossen sich unterwegs Hunderte an, viele unterstützten die Marschierenden in den Dörfern entlang der Strecke mit Schlafplätzen und Essen. Seitdem das Protestcamp in Islamabad besteht, reagiert der pakistanische Staat auch darauf mit Gewalt und Verhaftungen. Hunderte Aktivist*innen wurden festgenommen, geschlagen, gefoltert, auch Sprecher*innen wie Mahrang Baloch. Gegenüber The Diplomat sagte die bekannte Menschenrechtsaktivistin: »Wir marschierten über 1.600 Kilometer von Turbat nach Islamabad und veranstalteten ein Sit-in, in der Hoffnung, dass das Problem gelöst werden würde. Als wir jedoch mit 300 Familien in Islamabad ankamen, mussten wir feststellen, dass der Staat weder bereit war zuzuhören noch daran interessiert, das Problem der Vermissten anzugehen. Stattdessen ist er darauf vorbereitet, uns zu bekämpfen, anzuklagen und, wenn nötig, zu inhaftieren, weil wir friedlich protestieren.«