analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 703 | Diskussion

»Teil eines größeren Gewaltkomplexes«

Die Recherchegruppe Death in Custody sammelt künftig auch Fälle von Menschen, die nicht von Rassismus betroffen sind – warum?

Interview: Nelli Tügel

Mehrere Polizisten in Uniform und Helm stehen drohend in einer Reihe, im Hintergrund ist Qualm zu sehen
Wofür gibt es eigentlich die Polizei? Foto: ak

Nach Ende der 2019 ins Leben gerufenen Kampagne Death in Custody setzte die Recherchegruppe von DIC ihre Arbeit fort: die Dokumentation von bislang 252 Todesfällen rassifizierter Menschen in deutschem Gewahrsam (1). Im vergangenen Jahr begann die Gruppe einen Reflexionsprozess darüber, nach welchen Kriterien sie Polizeigewalt dokumentiert und ob es weiterhin sinnvoll ist, Todesfälle von Personen, die nicht von Rassismus betroffen waren, aus der Dokumentation auszuschließen. Über die Gründe für dieses Hinterfragen und die Ergebnisse der Diskussion sprechen Katharina Schoenes und Maruta Sperling im Interview.

Ihr habt euch in den vergangenen Monaten mit der Frage beschäftigt, welche Todesfälle in Polizeigewahrsamssituationen ihr dokumentiert. Was war der Anlass dafür?  

Katharina Schoenes: Es gibt eine Genossin in unserer Gruppe, die von Anfang an unzufrieden war mit der Beschränkung auf Fälle von Menschen, die von Rassismus betroffen sind, und die das auch immer wieder mal angesprochen hat, bei uns aber nicht so richtig auf Verständnis gestoßen ist. Der Auslöser für die Diskussion war dann, dass diese Genossin einen Text veröffentlicht hat, eine Rezension von Cedric Johnsons Buch »The Panthers Can’t Save Us Now: Debating Left Politics and Black Lives Matter«. Der US-Politologe setzt sich darin unter anderem kritisch mit den liberaleren Strömungen in Black Lives Matter auseinander. Als ich ihre Besprechung davon las, habe ich zum ersten Mal verstanden, was eigentlich ihr Punkt ist und dass es sich schon lohnen würde, darüber weiter nachzudenken. 

Was ist denn der Punkt?

KS: Dass es darum gehen müsste, Polizeigewalt und das Knastsystem viel stärker als Klassenfrage zu analysieren und aus dieser Perspektive zu überlegen, was man dagegen tun kann. 

Der Text war ein Auslöser für unsere Diskussion. Es gab daneben aber auch andere Entwicklungen, die ein Unbehagen hinterlassen haben, das aber zumindest ich bis dahin nicht so gut in Worte fassen konnte. Zum Beispiel diese eine Augustwoche 2022: Damals gab es in wenigen Tagen vier Tote durch Polizeigewalt in Deutschland, der bekannteste ist Mouhamed Dramé. Von zwei weiteren kennen wir zumindest die Namen. Von dem vierten Toten, der wahrscheinlich ein weißer Deutscher war, nicht einmal das. Für Unbehagen hat auch gesorgt, dass wir in der Recherche für unsere Dokumentation bisher eine Art Racial Profiling – in Anführungszeichen – betreiben, also dass wir immer versuchen, herauszufinden, ob die betroffene Person in unsere Rassismusdefinition (2) passt oder nicht. In der Praxis haben wir gemerkt, das fühlt sich manchmal komisch, irgendwie fragwürdig an.

Maruta Sperling: Ich betreue die E-Mail-Adresse unserer Gruppe. Häufig werden über Mail Fälle an uns herangetragen und ich habe dann die Aufgabe, zu sagen: Den Fall können wir nicht aufnehmen, weil wir nur Fälle von Rassismusbetroffenen dokumentieren. Das ist zwar nie auf Unverständnis gestoßen bei denen, die sich bei uns melden. Aber ich selbst fand es oft schade, weil ich dachte, das wäre ein Fall, dem ich auch gern einen Platz geben würde. So kam es immer mal wieder – ohne dass ich das analytisch gefasst hätte – in der Arbeit vor, dass ich mich gefragt habe: Was mache ich hier eigentlich, warum sortieren wir nach diesen Kriterien vor?

Katharina Schoenes und Maruta Sperling

sind Teil der Recherchegruppe von Death in Custody. Zuvor waren sie unter anderem zu Rassismus im Justizsystem aktiv. Die Recherchegruppe von Death in Custody dokumentiert seit 2019 Todesfälle rassifizierter Menschen in deutschem Gewahrsam und veröffentlicht diese unter doku.deathincustody.info. Hinweise auf weitere Fälle können an diese E-Mail-Adresse geschickt werden: death-in-custody@riseup.net.

Was sind die Ergebnisse der Reflexion, also: Welche Konsequenzen zieht ihr, wie ändert sich nun eure Arbeit?  

MS: Wir haben einen Vermerk auf die Homepage gesetzt, dass wir ab sofort darum bitten, uns auch Fälle zuzutragen, bei denen die Opfer nicht von Rassismus betroffen waren, allerdings mit dem Hinweis, dass wir diese nicht sofort veröffentlichen, sondern erstmal separat sammeln und später entscheiden, wie wir das aufbereiten können. Darüber sind wir noch im Gespräch miteinander. Außerdem wollen wir auch über unsere Gruppe hinaus in Diskussion mit anderen Aktiven treten. Das ist auch der Grund dafür, dass wir unseren Reflexionsprozess öffentlich machen. 

Was sind es denn konkret für Fälle, die euch dazu veranlasst haben, zu hinterfragen, ob eure bisherigen Kriterien so sinnvoll sind? 

KS: Ein Fall, über den wir lange diskutiert haben, ist Dennis Jockel, der Ende 2008 im Alter von 26 Jahren bei einem Festnahmeversuch aus nächster Nähe von der Polizei erschossen wurde. Er ist in Berlin-Neukölln in prekären Verhältnissen aufgewachsen, in Zeitungsartikeln wird er teils als Kleinkrimineller beschrieben, der gelegentlich Autos klaute und wegen Verkehrsdelikten gesucht wurde. Manche Initiativen analysieren seine Erschießung als Fall von rassistischer Polizeigewalt, weil er sich in einem sehr migrantisch geprägten Umfeld bewegte, ohne selbst rassifiziert zu sein. Heute frage ich mich: Muss man diesen Umweg gehen, also den Fall als Rassismus labeln, um sich damit näher zu beschäftigen? Wäre es nicht sinnvoller, darüber nachzudenken, dass tödliche Staatsgewalt sich gegen proletarische Milieus richtet – und Menschen mit und ohne Rassismuserfahrungen treffen kann?

Immer wieder auftauchende Gemeinsamkeiten sind psychische Krisen und Armut.

Maruta Sperling

Inwiefern sind das Fälle, die – wie ihr in einem bereits publizierten Reflexionstext schreibt – zeigen, dass »der starke oder gar ausschließliche Fokus auf Rassismus dazu beiträgt, Gemeinsamkeiten zwischen rassifizierten und nicht rassifizierten Opfern von Polizeigewalt zu verdecken und eine breite Solidarisierung erschwert«?

MS: Eine immer wieder auftauchende Gemeinsamkeit betrifft das Thema psychische Gesundheit und psychische Krise. Ein anderes ist Armut. Beides geht auch oft Hand in Hand. Es gab beispielsweise einen Fall in Leipzig, bei dem es um Ladendiebstahl ging, um einen Sack Kartoffeln und eine Flasche Wodka. Nachdem gegen den Menschen ein Hausverbot erlassen wurde, soll er die Supermarktmitarbeiter*innen bedroht haben. Später hat die Polizei seine Wohnung gestürmt und ihn erschossen. Das war einer dieser Fälle, bei denen ich den starken Impuls hatte, ihn dokumentieren zu wollen. Er weist auch Parallelen zu Matiullah Jabarkhil auf, der 2018 in Fulda in einem psychischen Ausnahmezustand von der Polizei erschossen wurde. Er hatte bei einer Bäckerei an die Scheibe geklopft und nach Brot gefragt. Als er keines bekam, soll er dort randaliert haben. 

KS: Uns ist klar geworden, dass eine Gemeinsamkeit von nahezu allen Fällen, die wir bisher dokumentiert haben, jenseits des Betroffenseins von Rassismus, ist, dass die Personen arm waren, oft keinen Zugang zu grundlegenden Gütern hatten, sich oft in psychischen Ausnahmesituationen befanden. Bei vielen Fällen wissen wir nur wenig über die Lebensumstände der Personen, aber mir ist kein Fall einer Schwarzen oder migrantischen »Business Person« in Erinnerung, die in Gewahrsam getötet wurde. Klar, so etwas kann es auch geben, aber es sind absolute Ausnahmefälle.

Seid ihr nicht besorgt, dass die von euch angestoßene Diskussion nun wieder umgekehrt dazu führen könnte, die mühsam über die letzten Jahre erarbeiteten Erkenntnisse über den Zusammenhang von Rassismus, Klassengesellschaft und Staatsgewalt über Bord zu werfen? 

MS: Wenn wir jetzt nicht mehr ausschließlich auf Rassismus schauen, heißt das im Umkehrschluss nicht, dass uns Rassismus egal ist. Eher so: Rassismus ist Teil dieses größeren Gewaltkomplexes.

KS: Auf keinen Fall wollen wir sagen, dass zu viel über tödliche Polizeigewalt gegen Betroffene von Rassismus gesprochen werde – ganz im Gegenteil. Uns ist aber aufgefallen, dass dank der jahrelangen, mühevollen Kleinarbeit an vielen Orten mittlerweile eine Infrastruktur entstanden ist, die bei Fällen von rassifizierter Polizeigewalt aktiviert werden kann – eine oft prekäre Infrastruktur, aber es gibt sie. Und Personen, die nicht in das Rassismus-Raster passen, die aber andere Gemeinsamkeiten zu Todesfällen in Polizeigewahrsamssituationen aufweisen – wie eben Armut, Obdachlosigkeit oder psychische Krisen – haben da tatsächlich schlechtere Chancen, auf dem Radar aufzutauchen.

MS: Es ist auch nicht so, dass wir jetzt sagen, es sei alles Quatsch gewesen, was wir bisher gemacht haben. Das hatte schon gute Gründe! Meine Hoffnung ist eher, dass wir darauf aufbauen können, und Rassismus wird dabei weiterhin ein wichtiger Fokus sein. Worum es uns geht, ist zu hinterfragen, ob Polizei und Knast in erster Linie dafür da sind, eine rassistische Gesellschaftsformation zu verteidigen oder es nicht eher um Eigentumsverhältnisse geht. Also darum, die prekarisierten Teile der Bevölkerung, die oft auch rassifiziert sind, aber nicht immer, und die Folgen von Armut in Schach zu halten, einerseits über den Sozialstaat, andererseits über den staatlichen Gewaltapparat. Ich würde sagen: Rassismus ist kein Nebenwiderspruch, er ist als Teil des staatlichen Gewaltkomplexes ein wichtiger, aber eben nicht der einzige Faktor.

Anmerkungen:

1) Death in Custody arbeitet mit einem breiten Begriff von Tod in Gewahrsam bzw. Gewahrsamssituation – gemeint sind Todesfälle, bei denen der staatliche Gewaltapparat für den Tod eine ursächliche Rolle gespielt hat.

2) Die Rassismusdefinition, mit der DIC arbeitet, umfasst alle Personen, die aufgrund von körperlichen Merkmalen, Religion, Sprache, Herkunft oder Aufenthaltsstatus als fremd, gefährlich, kriminell und so weiter markiert werden.

Nelli Tügel

ist Redakteurin bei ak.

Unterstütz unsere Arbeit mit einem Abo

Yes, du hast bis zum Ende gelesen! Wenn dir das öfter passiert, dann ist vielleicht ein Abo was für dich? Wir finanzieren unsere Arbeit nahezu komplett durch Abos – so stellen wir sicher, dass wir unabhängig bleiben. Mit einem ak-Jahresabo (ab 58 Euro, Sozialpreis 38 Euro) liest du jeden Monat auf 32 Seiten das wichtigste aus linker Debatte und Praxis weltweit. Du kannst ak mit einem Förderabo untersützen. Probeabo gibt es natürlich auch.