Die fehlende Emanzipation
Das Land muss sich von postkolonialen Strukturen befreien – ein Beitrag aus der haitianischen Linken
Von Yves Dorestal
Im Februar dieses Jahres gab es in Port-au-Prince eine Solidaritätskonferenz für Haiti, organisiert von linken Gruppen, die aus den kommunistischen Parteien hervorgegangen sind, wie die haitianische OPL (»Organisation des kämpfenden Volkes«). Aus Europa, Südamerika, Frankreich, den USA und der Dominikanischen Republik waren Teilnehmer*innen anwesend, um durch diesen solidarischen Akt auf die dringend notwendige Unterstützung der haitianischen Bevölkerung aufmerksam zu machen. Die Lage in Haiti ist im Augenblick politisch katastrophal. Der Staat hat als Ordnungsstruktur faktisch aufgehört zu existieren. Seit Jahresbeginn, sagen manche, sind mehr als 3.000 Menschen von kriminellen Banden erschossen worden, die 80 Prozent der Hauptstadt kontrollieren. Sie sind besser ausgerüstet als die Polizei. Um in der Hauptstadt von einem Punkt zum anderen zu verkehren, muss man an diese Banden Lösegeld zahlen.
Aus den kritischen Medien in Haiti hört man oft die Meldung, Haiti verfüge über keine Waffenindustrie, es produziere keine Munition. Woher kommen dann die Waffen, die Tag und Nacht in Aktion sind? Das Waffengeschäft läuft über die USA und die Dominikanische Republik. Die US-amerikanische Regierung kontrolliert den Handel von Waffen über ihr Territorium, wenn es um Terrorismus geht. Für Haiti verspricht sie seit Jahren, dem ein Ende zu setzen, aber es wird jeden Tag schlimmer.
Die Geschichte des Staates ist ein Beispiel für die Rachsucht der Kolonialmächte.
Man sollte bedenken, dass das Bandenphänomen keine neue Erscheinung in Haiti ist. Der jetzige Präsident von El Salvador wurde neulich wiedergewählt wegen der Bekämpfung der Banden in seinem Land. In Ecuador und in Peru ist die gleiche Erscheinung zu beobachten, wenn auch nicht mit derselben Intensität wie in Haiti. Wie ist sie in Haiti zu erklären?
Der ideologisch-politische Aspekt
Haiti ist die erste Schwarze Kolonie, die nach einem langen Befreiungskrieg die damalige internationale kolonialistische Weltordnung einiger Großmächte (Frankreich, Spanien, Holland, England) 1804 siegreich in Frage stellte und damit den Zorn der Sklavenhaltergesellschaften auf sich zog. Hatten sie doch die französische Kolonialmacht besiegt. Der berühmte Satz von Napoleon nach dem Sieg der Haitianer*innen über seine Truppen, die er zur Wiederherstellung der Sklaverei geschickt hatte, ist noch in Erinnerung: »Man muss die N*** Haitis in ihrem Saft kochen lassen.«
Die berühmte Schriftstellerin Anna Seghers und ihre Bücher »Die Hochzeit von Haiti« (1948), »Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe« (1949), »Die Frauen aus Haiti (1980), aber auch das letzte Werk von ihr und Heiner Müller (»Der Auftrag«) zeigen die Bedeutung der haitianischen Revolution für die Kultur, aber auch für die Weltgeschichte.
Haiti schuf Internationalismus als aktive Solidarität und Hilfe für die Völker, die gegen den Kolonialismus kämpften. Es unterstützte Simón Bolívar, der die frühen antikolonialen Bewegungen in Lateinamerika anführte, aber auch die griechische Unabhängigkeitsbewegung gegen das Osmanische Reich.
Die Geschichte des Staates ist aber auch ein Beispiel für die Rachsucht der Kolonialmächte: Ein Land, das die herrschende Weltordnung bei sich stürzt und damit ein gefährliches Beispiel für die übrigen Unterdrückten abgibt, muss mit dem Zorn der Unterdrücker rechnen. Das beweisen auch die französische, die russische, die kubanische, die grenadische oder die venezolanische Revolution. Fast jede Revolution trifft auf eine feindliche Außenpolitik. Um das Überleben der haitianischen Revolution zu garantieren, traf der damalige haitianische Präsident Jean-Pierre Boyer 1825 die unglückliche Entscheidung, an Frankreich eine Entschädigung für die Unabhängigkeit zu zahlen, die dem Etat des gesamten Staatshaushalt Frankreichs entsprach.
Fidel Castro hat immer wieder daran erinnert, dass Haiti der Beweis der negativen Konsequenzen der Zahlung von Auslandschulden für die Länder, die für ihre Emanzipation gekämpft hatten, ist. Viele Ökonom*innen haben berechnet, wie dadurch die ganze spätere Entwicklung von Haiti negativ beeinflusst wurde.
Die Weltgeschichte hat auch bewiesen: Der Kolonialismus ist nicht die einzige Form der nationalen Unterdrückung, wenn sich der Kampf gegen die koloniale Abhängigkeit nicht in einer weiteren Emanzipation vertieft.
Lenin hat es in »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« und in den »Heften zum Imperialismus« analysiert. Unter dem Imperialismus kennt man andere Formen der nationalen Unterdrückung: die neokoloniale Unterdrückung, die Schaffung der abhängigen Länder, die Formierung der semikolonialen Länder. Frantz Fanon in »Die Verdammten dieser Erde« oder für die afrikanische Revolution Kwame Nkrumah in »Neo-Colonialism: The Last Stage of Imperialism« haben diese These weiterentwickelt. In seiner Schrift »Toward colonial Freedom« schreibt Nkrumah: »The object of imperialist powers is to exploit. By granting the right to the colonial peoples to govern themselves, they are defaiting that objective. Therefore, the struggle for political powers by colonial and subject peoples is the first step towards and the necessary prerequisite to complete social, economic and political emancipation.« (1)
Auf die Unabhängigkeit Haitis im Jahr 1804 mit der Abschaffung des französischen Kolonialsystems folgte keine wirkliche politische, ökonomische, kulturelle und soziale Emanzipation. Die weißen Kolonialist*innen wurden durch die Bourgeoisie aus Schwarzen und Gens de Coleur (Nachkommen Schwarzer Sklavinnen und weißer Sklavenhalter) abgelöst.
Fortlaufende Unterdrückung
Haiti wurde von 1915 bis 1934 von den Vereinigten Staaten von Amerika militärisch besetzt, offiziell begründet mit dem »Schutz ausländischen Eigentums«. Seit dieser Zeit behandeln sie das Land wie eine Neokolonie. Kein zweites Kuba in der Karibik ist zudem ein Leitmotiv in der US-Außenpolitik seit 1959. In der jüngsten Zeit wurde keine Regierung, die für die Emanzipation der haitianischen Bevölkerung stand, akzeptiert. Der »Volkspriester« (Jean-Bertrand Aristide), der 1990 gewählt wurde, hätte einen großen Schritt nach vorne bedeutet, denn in seiner ersten Amtszeit wollte er einen Umbau der Gesellschaft angehen. Aristide wurde aber bereits nach sieben Monaten durch einen Putsch gestürzt. Alle korrupten Regierungen, die die soziale Ordnung für die Ewigkeit bewahren wollten, wurden vom Ausland unterstützt, auch vom ersten Schwarzen Präsidenten der USA.
Die Unterstützung der Banden unter den letzten haitianischen Regierungen – Michel Martelly, Jovenel Moïse, Ariel Henry – und den amerikanischen Präsidenten ist systematisch gewesen. Die Vertreterin des UNO-Generalsekretärs auf Haiti hieß die Vereinigung der Banden gut mit dem Argument, dass sie damit kontrollierbar gemacht werden. Unter Jimmy Chérizier schlossen sich 2020 viele kleine Banden zu einer großen zusammen. Er ist bis heute das bekannteste Gesicht unter den Bandenführern.
Ein Teil der haitianischen Bourgeoisie hat den Kauf der Waffen für die Banden finanziert. Durch Entführung und Raub, sind die Banden ökonomisch so stark geworden, das sie heute autonom sind. Die Wiederwahl von Donald Trump wäre keine gute Nachricht in der gegenwärtigen Situation. Er würde die Hinterhofpolitik weiter eskalieren lassen.
Die politischen Parteien in Haiti, rechts wie links, sind nach militärischen Interventionen und 29 Jahren Duvalier-Diktatur immer noch schwach entwickelt. Vater und Sohn Duvalier hatten das Land von 1957 bis 1986 fest im Griff. Auch durch die verödete politische Landschaft gibt es keine Alternative für die Bevölkerung Haitis, als weiter zu kämpfen und neue Formen des Widerstands sowie des Internationalismus zu entwickeln.
Haiti ist ein berühmtes Beispiel für neokoloniale Herrschaft. Was dem Land fehlt, ist ein wirkliche Emanzipation von den internationalen Abhängigkeiten, sie muss politisch und ökonomisch sein. Diese sozialistische Revolution kann aber nur gelingen, wenn die Linke im Land gut aufgestellt ist. Diese Linke reorganisiert sich gerade neu. Die OPL, die aus der Kommunistischen Partei Haitis hervorgegangen ist, oder die »Partei des Lagers des Volkes« zählen zu den wichtigsten linken Kräften. Aber auch sie suchen nach einem Ausweg aus dem Neokolonialismus. Und das wird ein langer Prozess.
Anmerkung:
1) »Das Ziel des Imperialismus ist Ausbeutung. Verhindert wird dieses Ziel dadurch, dass den Kolonisierten das Recht zusteht, sich selbst zu regieren. Daher ist der Kampf der kolonisierten und unterworfenen Völker um politische Macht der erste Schritt und die notwendige Voraussetzung für die vollständige soziale, wirtschaftliche und politische Emanzipation.«