Interessen statt Frieden
Im Krieg um Bodenschätze und staatliche Macht sind im Kongo seit 1996 fast sechs Millionen Menschen gestorben
Von Paul Dziedzic
Ich lebe im Osten der Demokratischen Republik Kongo. Was bei uns passiert, ist unvorstellbar. Was hier passiert gleicht einer Horrorgeschichte«, sagt Tiktokerin Ada Lulonga in einem Video, das sie Anfang Februar gepostet hat. In den letzten zwei Jahren sind alleine in der Kivu-Region im Osten des Landes über 1,6 Millionen Menschen geflüchtet. Seitdem dauert die Kampagne der sogenannten Bewegung 23. März (M23) an. Sie ist eine der bedeutendsten der über 100 bewaffneten Gruppen, die unterschiedlichste politische und wirtschaftliche Interessen verfolgen, und hat mittlerweile große Teile der Provinz Nord-Kivu eingenommen. Nun steht M23 kurz vor der Großstadt Goma. Gehalten wird diese durch die Streitkräfte der Demokratischen Republik Kongo und eine Interventionstruppe der südafrikanischen Staatengemeinschaft SADC. Der Konflikt zwischen der Armee des Kongo und M23 birgt auch die Gefahr einer Eskalation zwischen dem Kongo und Ruanda, das verdächtigt wird, M23 zu unterstützen. Der Außenminister Kongos, Nicolas Kazadi, wirft dem Nachbarland vor, Rohstoffe wie Koltan und Gold im Wert von über einer Milliarde US-Dollar aus dem Land geschmuggelt und exportiert zu haben. Vorwürfe, die Ruandas Präsident Paul Kagame bestreitet. Der vermeintliche Showdown zwischen den beiden Staaten sollte nicht darüber hinwegtäuschen: Im Kongo sterben die Menschen wegen der Ausbeutung von Rohstoffen und zwischenstaatlicher Rivalität.
Lautes Schweigen
Die Tiktokerin Ada Lulonga beschreibt die Schrecken in ihrem Video. »Die Welt muss das SOS hören«, sagt sie in dem Video. Aufgerufen wurde es über 100.000 Mal. Das ist wenig verglichen mit den Solidaritätsbekundungen zum massenhaften Sterben von Zivilist*innen in Gaza infolge des israelischen Militäreinsatzes. Inzwischen sind einige Content-Creators auf der Plattform TikTok dazu übergegangen, in ihren Videos zu Gaza auch auf die Situation in Sudan, wo ein Bürgerkrieg herrscht, und in Kongo einzugehen. Die Kongoles*innen selbst teilen Aufnahmen ihres Protests, bei dem sie eine Hand vor ihren Mund halten und eine Fingerpistole an die Schläfe halten, eine Geste gegen das globale Schweigen. Diese Geste benutzte auch die kongolesische Nationalmannschaft, die es beim Africa-Cup Mitte Februar überraschend ins Halbfinale schaffte. Adressat dieses Protests ist nicht nur die Staatengemeinschaft, sondern auch die eigene Regierung in Kinshasa.
»In den letzten zwölf Jahren hat es immer eine fehlende Antwort der Regierenden auf die Sicherheitslage im Osten gegeben«, sagt Steward Muhindo, Mitglied von Lutte Pour le Changement (Lucha, Kampf für Veränderung). Die zivilgesellschaftliche Organisation setzt sich für die Rechte der Menschen im Kongo ein und mobilisiert gegen Korruption und Gewalt. Sie organisieren Kampagnen für politische Gefangene, Demonstrationen gegen staatliche Repression und ähneln Demokratie-Bewegungen wie »Il y en a marre« in Senegal oder Balai Citoyen in Burkina Faso. »Es ist nicht hinnehmbar, dass wir in diesem ständigen Krieg leben«, sagt der Aktivist.
Seinen Anfang nahm der Konflikt 1996. Nach dem Genozid an den Tutsi 1994 flüchteten mehrere Hunderttausend Menschen vor der anrückenden Ruandischen Patriotischen Front, angeführt vom späteren Präsidenten Paul Kagame. Unter den vielen Geflüchteten waren diejenigen, die den Genozid begangen hatten. Sie gruppierten sich in der DR Kongo neu und firmieren noch heute unter dem Namen Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas (FDLR). Lange Zeit versuchten sie, in Ruanda einzumarschieren.
Ruanda und Uganda unterstützen eine Rebellenarmee im Kongo, die gegen die Regierung des jahrzehntelang autoritär regierenden Mobutu Sese Seko kämpfte. Angeführt wurde diese von Laurent-Désiré Kabila. Mit dieser Hilfe gelang es Kabila, in Kinshasa an die Macht zu kommen. Kabila brach relativ bald mit seinen alten Verbündeten. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Situation im Osten Kongos nicht stabilisiert. Die Staatsmacht der Regierung in Kinshasa schafft es nicht, Kontrolle über den Osten des Landes zu erlangen. In diesem Vakuum formieren sich immer wieder bewaffnete Gruppen, die sich als Selbstverteidigungseinheiten der vielen Gemeinschaften im Osten des Landes verstehen. »Der Kongo ist reich an Rohstoffen«, sagt der Aktivist Muhindo. »Hinter den Ausreden, eine Gruppe beschützen zu wollen, steckt auch oft die Absicht, diese Rohstoffe auszubeuten. Der einfachste Weg ist es für sie, den Krieg weiterzuführen.«
Wertvolle Erze
Die wohl wichtigsten Erze des Kongo sind Gold und Koltan. Im Osten des Kongo werden sie vor allem durch Kleinbergbäuer*innen abgeschöpft; von Frauen, Männern und Kindern mit schlechtem Werkzeug und keiner Schutzausrüstung. In den oftmals intransparenten Wertschöpfungsketten gelangen die Erze zur Erstverarbeitung, Zwischenhändler*innen schaffen diese dann zur Weiterverarbeitung außer Landes. Das politisch stabile Nachbarland Ruanda eignet sich gut für einen Export solcher Erze. Derzeit prangt der Satz »Visit Rwanda« auf den Trikots von Fußballmannschaften wie Arsenal London oder Paris Saint-Germain. Auch in der Bayern-Arena in München läuft der Slogan auf den Banden. Zusammen mit dem Deal, Geflüchtete aus Großbritannien und möglicherweise bald auch aus EU-Ländern aufzunehmen, hat sich die Regierung in Ruanda viel Unterstützung aus dem Westen geholt.
Dass die Regierung in Kigali Sicherheitsbedenken an der Grenze zum Kongo wegen der FDLR hat, stimmt also. Doch diese Gefahr ist nicht mehr wie 1996 existenziell, sondern sie bedroht die Tourismusindustrie, die das Land mit der »Visit Rwanda«-Kampagne fördern will. Eine weitere wirtschaftliche Säule ist jedoch der Export von Erzen, von denen vor allem Koltan für die Elektromobilität gebraucht wird, weil es ein zentraler Bestandteil von Lithium-Batterien ist, die in Elektroautos verbaut werden. Während der Osten des Kongos durch den Abbau der Erze destabilisiert wird, stellt sich Ruanda als regionale Ordnungsmacht auf und plant, sich in diese Lieferketten als Wertschöpfer und Weiterverkäufer aufzustellen.
»Die Frage der Umwandlung des kongolesischen Erzes verbindet dieses Gebiet unmittelbar mit dem Rest der Welt«, sagte der kongolesische Künstler Sam Baloji in einem Interview mit dem Magazin The Funambulist. Diese Verbindungslinien reichen bis in die Kolonialzeit zurück. So habe am Anfang der Abbau von Kautschuk die industrielle Revolution vorangebracht, Kupfer habe im Ersten Weltkrieg eine wichtige Rolle gespielt, Uran im Zweiten. Dementsprechend ziel Baloji den Schluss: »Elektroautos verwandeln den Osten des Kongo zum Wilden Westen von morgen.« Über 70 Prozent des produzierten Koltan kommt aus dem Land. Die Kriegswirtschaft ermöglicht es, diese Preise niedrig zu halten.
»Es gab einen völligen Zusammenbruch der Staatsgewalt, die Regierenden profitieren, während die Menschen sich selbst überlassen werden«, sagt Muhindo. Doch die Frage ist, wie sehr die Zentralregierung überhaupt daran interessiert ist, volle Kontrolle zurückzuerlangen? Der im Dezember 2023 zum Präsidenten Kongos wiedergewählte Félix Tshisekedi sah sich mit einer Opposition konfrontiert, die die Ergebnisse der Wahl infrage stellte. Seitdem ist die Strategie, den Feind im Ausland auszumachen und gleichzeitig mit einer patriotischen Rhetorik eine politische Basis zu schaffen. Doch für wie lang?
Der Konflikt im Osten Kongos ist auch ein Kampf um die Macht im Staat. In vergangenen Zyklen versuchten die Milizen auch immer eine Integration die Armee zu erzwingen. Der Aufstieg von M23 begann mit einer solchen Auseinandersetzung. Der Name der Gruppe bezieht sich auf den 23. März 2009, als die Regierung Kongos einen Friedensvertrag mit der Vorgängerorganisation von M23 abschloss, mit dem Versprechen, die Soldaten der Miliz in die Armee zu integrieren. Die Regierung hat sich aus Sicht von M23 nicht daran gehalten.
»Es ist, als müsse man Waffen in die Hand nehmen, um ein Stückchen vom Kuchen zu haben. Das ist kein Modell, das Frieden bringen kann«, sagt der Lucha-Aktivist Muhindo. Generell sei die weitverbreitete Straflosigkeit bei den vielen Kriegsverbrechen ein Problem. »Die Opfer verdienen Gerechtigkeit. Außerdem ist Straflosigkeit der Nährboden für die nächsten Rebellionen.«
Straflosigkeit ist der Nährboden für die nächsten Rebellionen.
Steward Muhindo
Die Straflosigkeit ist jedoch nicht auf das Konfliktgebiet selbst beschränkt, sie zieht sich bis in den Westen. Anfang März hatten in den USA 16 Parteien, unter ihnen Angehörige von fünf Kindern, die im Zusammenhang mit dem Abbau von Kobalt getötet worden waren, die Konzerne Alphabet (Google), Apple, Dell, Microsoft und Tesla angeklagt. Sie warfen den Firmen vor, sich durch ihre Zulieferer an Zwangsarbeit beteiligt zu haben, die in den Minen vorherrscht. Zwar wurde die Klage vor einem US-Gericht abgewiesen – die Klagebefugnisse der Kläger*innen wurden allerdings anerkannt, es seien lediglich nicht genügend Beweise für eine Beteiligung der Tech-Unternehmen an den Menschenrechtsverletzungen vorgetragen worden. Die Kläger*innen könnten dementsprechend einen weiteren Versuch starten.
Globale Verschränkungen
Seit 1996 sind fast sechs Millionen Menschen im Kongo gestorben. Es ist der tödlichste Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg. Im Osten des Landes ist eine Vielzahl an Akteuren aktiv, auch multinationale Unternehmen, ihre Zwischenhändler, weiterverarbeitende Industrien, vor allem aus China. Gerade deshalb dürfte die EU verstärkt in der Region anklopfen, weil die Staatengemeinschaft im Handelskrieg mit China mehr von dieser Wertschöpfung in die eigene Einflusssphäre holen will. Interventionen, ob von der bisher größten und teuersten UN-Mission Monusco, der von Kenia angeführten Mission der Ostafrikanischen Gemeinschaft, oder Vermittlungsversuche aus den USA, haben bisher keinen Erfolg gehabt.
Was die Versprechen eines grünen Kapitalismus, gekoppelt mit einer Zunahme der Rivalität zwischen den Weltmächten bedeutet, zeigt sich schon heute auf dem afrikanischen Kontinent. Es gibt Überlegungen, wie es möglich sein kann, sich aus der Überausbeutung zu befreien und die Rolle des Zulieferers von Rohstoffen abzulegen. Dieses Erbe des Kolonialismus, fortgeführt durch den globalen Kapitalismus, behaupten eigentlich die panafrikanischen Institutionen bekämpfen zu wollen. Doch was bisher auf der Ebene ebenjener Institutionen versucht wird, reicht nicht aus. Nationalen Egoismen wird in diesen Institutionen der Vortritt gelassen. Es gibt wenig Instrumente, um wirklich Druck auf Staaten auszuüben, die die panafrikanische Idee verletzen.
Um zu verstehen, woher dann panafrikanische Lösungen kommen sollen, hilft es, zwischen oben und unten zu unterscheiden. Arbeiter*innen in Staaten wie Niger, Burkina Faso oder Senegal haben nicht den Eindruck, regionale Wirtschaftsgemeinschaften würden ihre Situation verbessern. Zu sehr machen es sich politische Eliten in der bestehenden globalen Hierarchie gemütlich oder sind in ihr gefangen. Dabei ist eine panafrikanische Sichtweise vielleicht sogar nötiger denn je: Jeder Konflikt, der sich wie eine Wiederholung über den nächsten legt, macht eine Auflösung in Zukunft nur schwieriger. In den letzten Jahrzehnten haben sich Bewegungen formiert, die einander inspirieren, die ein Ende der neokolonialen Abhängigkeit fordern, sich gegen ihre Ausbeutung wehren und vor allem die Regierungen auf dem Kontinent unter Druck setzen. Das kann eine Basis sein, auf der Ideen entwickelt werden, nicht nur um Bürgerkriege zu beenden, sondern auch um Gerechtigkeitsprinzipien zu entwickeln, die zu einer Versöhnung führen.