Auf der Flucht in der Bundesrepublik
Hierzulande häufen sich schwere Unfälle mit »Schlepperfahrzeugen« – eine Folge der repressiven Asylpolitik?
Auf der Autobahn 94 östlich von München wollen Bundespolizist*innen am Morgen des 13. Oktober 2023 einen Kleintransporter kontrollieren. Der Fahrer beschleunigt den Wagen, um der Maßnahme auszuweichen. In einer Kurve verliert er die Kontrolle über das Fahrzeug. Mehrere Personen werden aus dem Transporter geschleudert, sieben Menschen sterben, darunter ein sechsjähriges Kind. Die 16 übrigen Insass*innen werden teils schwer verletzt. Es sind Menschen aus Syrien und der Türkei, die nach Europa geflüchtet waren, um hier Schutz zu suchen. Stattdessen fanden sieben von ihnen den Tod.
Dies ist nicht der einzige tödliche Unfall mit einem »Schleuserfahrzeug« im vergangenen Jahr. Am 13. Juli war bereits eine 44-jährige Frau aus der Türkei bei Pirna in Sachsen auf der Flucht vor der Polizei ums Leben gekommen. Auch in diesem Fall soll der Fahrer des Fluchtfahrzeugs die Geschwindigkeit erhöht haben, um sich einer Polizeikontrolle zu entziehen. Der Kleintransporter kam von der Fahrbahn ab und überschlug sich. Neben der verstorbenen Frau befanden sich in dem Wagen sieben weitere Passagier*innen, von denen sich einige schwere Verletzungen zuzogen. Auch der Fahrer selbst musste verletzt in ein Krankenhaus gebracht werden.
Eine offizielle Statistik existiert nicht
Neben diesen Unfällen mit tödlichem Ausgang kam es letztes Jahr vor allem in Bayern, aber auch in Sachsen, zu vielen weiteren Verkehrsunfällen mit »Schleuserfahrzeugen«. Am 2. Juni 2023 stürzte ein Fahrzeug mit 17 syrischen Geflüchteten und zwei Fahrern auf der Flucht vor der Polizei im sächsischen Taubenheim in die Spree. Sechs Menschen wurden verletzt in Krankenhäuser gebracht. Mitte Juni 2023 wurden fünf Personen, darunter drei Kinder und Jugendliche zwischen zehn und 15 Jahren, bei einem Verkehrsunfall im bayerischen Landkreis Neustadt teils lebensgefährlich verletzt. Sie waren aus der Türkei geflüchtet. Am 20. Oktober prallte ein Wagen im Berchtesgadener Land gegen einen Baum; vier Personen mussten mit zum Teil schweren Verletzungen in Krankenhäuser eingeliefert werden.
Die Liste ließe sich fortsetzen. Der Bayerische Rundfunk hat von Januar bis Mitte Oktober 2023 mindestens zehn Unfälle allein in Bayern gezählt, bei denen »mutmaßliche Schleuser« vor einer Polizeikontrolle geflüchtet waren. Eine offizielle Statistik existiert nicht, aber die vermehrte Berichterstattung sowie unabhängige Dokumentationen wie die von Death in Custody oder der Antirassistischen Initiative deuten darauf hin, dass die Zahl solcher Unfälle zuletzt zugenommen hat.
Während Aktive in der Geflüchtetensolidarität sich bislang nur wenig mit Unfällen auf der Flucht vor Polizeikontrollen beschäftigen, lassen rechte Innenpolitiker*innen keine Gelegenheit aus, »kriminellen Schleusern« die alleinige Schuld für Tote und Verletzte zuzuweisen und im gleichen Atemzug härtere Strafen zu fordern. »Wir müssen das grausame Geschäft der Schleuserbanden zerschlagen, die mit der Not von Menschen maximalen Profit machen und sie auf solch lebensbedrohliche Weise über Grenzen schmuggeln«, erklärte etwa Bundesinnenministerin Nancy Faeser nach dem schweren Unfall mit sieben Toten in Bayern. Wer »so viele Leben« aufs Spiel setze, müsse »die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen«.
Bis zu zehn Jahren Haft
Strafverschärfungen sind bereits erfolgt – im Rahmen des euphemistisch als »Rückführungsverbesserungsgesetz« bezeichneten Entrechtungspakets. Das Gesetz, das im Januar vom Bundestag verabschiedet wurde und Ende Februar in Kraft trat, setzt sowohl die Mindest- als auch die Höchststrafen für das »Einschleusen von Ausländern« in die BRD deutlich hoch. Wer einer Person zur Einreise ohne das passende Visum verhilft und dafür entweder einen (finanziellen) Vorteil erhält oder gleich mehrere Menschen unterstützt, kann künftig mit zehn Jahren Gefängnis bestraft werden. Die untere Grenze liegt bei sechs Monaten Freiheitsstrafe. Bislang betrug die Höchststrafe fünf Jahre, die Mindeststrafe drei Monate.
Unabhängig von den jüngst beschlossenen Verschärfungen läuft die Verfolgung von »Schleusern« schon jetzt auf Hochtouren. Ende Oktober 2023 machte die Meldung die Runde, dass in Passau und anderen Städten in Ostbayern die Gefängnisse überfüllt seien, weil so viele »Schleuser« festgenommen wurden. Die Sächsische Zeitung berichtete im Februar, das Amtsgericht Pirna befinde sich aufgrund der vielen »Schleuserprozesse« an der Belastungsgrenze – für »normale Kriminalität« bleibe kaum noch Zeit. Dem Bericht zufolge verhandelt das Gericht momentan jede Woche über zehn Schleuserverfahren, Ende Januar warteten 160 mutmaßliche »Schleuser« auf ihren Prozess. Der 23-jährige Fahrer des Wagens, in dem eine Frau aus der Türkei im vergangenen Juli tödlich verunglückt war, wurde Anfang März vor dem Dresdener Landgericht wegen Mordes in einem Fall und gefährlicher Körperverletzung in sieben Fällen zu lebenslanger Haft verurteilt.
Während Faeser und Co die Verfolgung von »Schleuserbanden« als Mittel der Wahl gegen tödliche Unfälle auf der Flucht verkaufen wollen, weisen Ergebnisse aus der Forschung zu Flucht und Grenzregimen in eine ganz andere Richtung. Demnach führen staatliche Maßnahmen wie der Bau von Mauern, die Überwachung der Grenzen und Polizeipatrouillen überhaupt erst dazu, dass Menschen auf die Dienste von Fluchthelfer*innen angewiesen sind – anders würden sie es gar nicht über die hochgerüsteten Grenzen schaffen. Darauf wies der Wissenschaftler und Aktivist David Suber kürzlich im Interview mit dem Mediendienst Integration hin. Wenn Kontrollmaßnahmen verschärft werden, kann das den Effekt haben, dass die Schmuggler*innen sich »skrupelloser« verhalten, indem sie zum Beispiel Unfälle riskieren, um Polizeikontrollen auszuweichen. Dass sich Verkehrsunfälle mit »Schleuserfahrzeugen« in den letzten Monaten häuften, steht also ziemlich sicher in Zusammenhang mit der Entscheidung der Bundesregierung, an den »Schleuserrouten« entlang der deutschen Grenzen vermehrte Kontrollen durchzuführen.
Gefahr durch mehr Grenzkontrollen
Dass entlang der innereuropäischen Grenzen überhaupt so intensiv kontrolliert wird, ist nicht selbstverständlich. Das Schengener Abkommen sieht eigentlich einen Verzicht auf Grenzkontrollen an den innereuropäischen Grenzen vor, bei gleichzeitiger gemeinsamer Kontrolle der EU-Außengrenzen. Bis Mitte der 2010er Jahre gab es solche Binnengrenzkontrollen tatsächlich nur in Ausnahmefällen. Die EU-Staaten beschränkten sich darauf, in Grenznähe und an Verkehrsknotenpunkten »verdachtsunabhängige« Kontrollen durchzuführen, um »unerlaubt eingereiste« Menschen ausfindig zu machen. Erst als das europäische Grenzregime infolge der großen Fluchtbewegungen des Jahres 2015 vorübergehend brüchig wurde, reagierten zahlreiche Mitgliedstaaten mit der Wiedereinführung stationärer Grenzkontrollen, um die Weiterflucht von Menschen aus der europäischen Peripherie ins Zentrum zu stoppen. An der deutsch-österreichischen Grenze gibt es solche Kontrollen ohne Unterbrechung seit Herbst 2015, vor wenigen Monaten wurden sie auf weitere Grenzabschnitte ausgeweitet.
Die reaktionäre Bearbeitung des »Sommers der Migration« hat somit zu Prozessen der Renationalisierung des Schengenraums geführt – mit der Folge, dass die innereuropäischen Grenzübergänge sich in Form und Funktion wieder »klassischen« Grenzen annähern. Dazu passt, dass die letzten dokumentierten Verkehrsunfälle mit »Schleuserfahrzeugen«, die tödlich endeten, in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren stattfanden, als die BRD noch eine EU-Außengrenze hatte. Im April 2001 wurde ein Mensch aus Vietnam in Sachsen vom Bundesgrenzschutz in den Tod getrieben, im November 2000 stürzte ein Mann aus Rumänien nahe der tschechischen Grenze auf der Flucht vor dem Bundesgrenzschutz mit einem VW-Bus 15 Meter in die Tiefe und starb. Im Juli 1998 kamen sieben Geflüchtete aus dem Kosovo auf der Flucht vor der Polizei im sächsischen Weißenborn ums Leben, als ihr Fahrzeug mit überhöhter Geschwindigkeit gegen eine Mauer prallte. Damals bemühten sich linke Aktivist*innen, zu den Überlebenden solcher Unfälle Kontakt aufzunehmen und Unterstützung zu organisieren. Heute schauen jene, die sich mit Menschen auf der Flucht solidarisieren, vor allem auf die Zustände an den EU-Außengrenzen. Es wäre angebracht, diesen engen Fokus zu überdenken.