analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 596 | Diskussion

Solidarität und Projektionen

Deutsche Linke und der Nahe Osten. Ein Rückblick auf vier schwierige Jahrzehnte

Von Jens Renner

Krieg in Gaza und alles wie immer? Es scheint so, zumindest in der deutschen Linken: Während die einen an »bedingungsloser Solidarität« mit Israel festhalten, suchen die anderen unbeirrt den Schulterschluss mit dem »palästinensischen Widerstand«. Positionen dazwischen haben es schwer. Das war auch in den vergangenen Jahrzehnten so. Der folgende – natürlich unvollständige – Rückblick auf mehr als 40 Jahre linker Nahostdebatten ist eine Chronik schwerer Fehler und langsamer Lernprozesse.

Als am 5. Juni 1967 der Sechstagekrieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarstaaten begann, war die junge westdeutsche Linke mit anderen Dingen beschäftigt. Am 2. Juni war in Westberlin der Student Benno Ohnesorg bei einer Demonstration gegen das Schah-Regime von dem Kriminalbeamten Karl-Heinz Kurras von hinten erschossen worden. In den meisten bundesdeutschen Universitätsstädten gab es an den folgenden Tagen massenhafte Protestaktionen. Am 8. Juni, dem vierten Kriegstag in Nahost, kamen 15.000 Menschen zur Trauerfeier in Ohnesorgs Heimatstadt Hannover.

Erst im Rückblick wird deutlich, dass der Sechstagekrieg im Juni 1967 einen Wendepunkt für die Linke markierte. Noch in der Juli-Ausgabe von konkret schrieb Ulrike Meinhof unter der Überschrift »Drei Freunde Israels«: »Es gibt für die europäische Linke keinen Grund, ihre Solidarität mit den Verfolgten aufzugeben, sie reicht in die Gegenwart und schließt den Staat Israel ein, den britische Kolonialpolitik und nationalsozialistische Judenverfolgung begründet haben.« Zugleich grenzte sie sich von den falschen Freunden Israels ab: »Die Solidarität der Linken mit Israel kann sich nicht von den Sympathien der USA und der BILD-Zeitung vereinnahmen lassen, die nicht Israel gilt, sondern eigenen, der Linken gegenüber feindlichen Interessen.«

Die Interessen des staatsoffiziellen bundesdeutschen Philosemitismus waren in der Tat leicht zu durchschauen. Die Politik der »Wiedergutmachung« durch Entschädigungszahlungen an Israel diente dazu, die BRD, Rechtsnachfolgerin des NS-Staates, international aufzuwerten. Kanzler Adenauer (CDU) hatte diese Politik – mit Hilfe der SPD und gegen einigen Widerstand innerhalb der CDU/CSU, bei Ablehnung der KPD – mit dem Argument durchgesetzt, »das Judentum« sei »eine jroße Macht« mit einflussreichen Freunden in der Welt. Sprachrohr der »Aussöhnung« mit Israel war die Springer-Presse. Nach dem schnellen Sieg der israelischen Armee im Juni 1967 äußerte auch mancher Nazi seine Bewunderung: Das hatte man »den Juden« nicht zugetraut!

1969: NS-Vergleiche und ein gescheitertes Attentat

Sich gegen den schwarzbraunen Mainstream abzugrenzen, war einfach, eine eigenständige linke »Nahostpolitik« zu entwickeln, schwierig. Eine der ersten spektakulären Aktionen in diese Richtung war die Kampagne gegen den ersten israelischen Botschafter in der BRD, Asher Ben-Natan, der im Juni 1969 bei mehreren Veranstaltungen auftrat und dort wegen lautstarker Proteste nur schwer oder gar nicht zu Wort kam. In Frankfurt kam es zu einer regelrechten Saalschlacht, bei der mit diversen Gegenständen bewaffnete Zivilisten auf TeilnehmerInnen einprügelten, ohne dass die Polizei eingriff. Dabei wurden die palästinensischen Aktivisten Abdullah Frangi und Amin Al-Hindi schwer verletzt. Die FAZ (11.6.1969) sah in denen, die Ben-Natan am Reden hinderten, »Hitlers Erben«. Das Hamburger AStA-Info vom selben Tag dagegen meinte zu wissen, wie deutsche Nazis »die besten Freunde Israels« werden konnten: »Die Blitzsieger von 1940 können sich ohne Schwierigkeiten mit den Blitzsiegern von 1967 identifizieren; die Herrenmenschen des Dritten Reiches betrachten mit Genugtuung die rassistische Politik der Dayan-Meir-Clique gegen arabische Untermenschen.«

In einer Presseerklärung des Frankfurter AStA, des SDS sowie palästinensischer und israelischer Aktionsgruppen hieß es: » … man muss Partei ergreifen, entweder für die zionistischen Unterdrücker oder für die jüdischen und arabischen sozialrevolutionären Kräfte.« Während es hier noch bei Worten blieb, bereiteten sich andere westdeutsche Linke auf die Propaganda der Tat vor. Im Sommer 1969 reiste eine etwa 20-köpfige Delegation des SDS nach Jordanien in zwei Ausbildungslager der Demokratischen Front für die Befreiung Palästinans (DFLP) und von Al Fatah. Publizistisch flankiert wurde die pro-palästinensische Wende durch Veröffentlichungen in der Westberliner Zeitschrift agit 883.

Dort erschien im November 1969 auch Dieter Kunzelmanns vielzitierter »Brief aus Amman«, in dem er den »Judenknax« der deutschen Linken attackierte: »Wenn wir endlich gelernt haben, die faschistische Ideologie Zionismus zu begreifen, werden wir nicht mehr zögern, unseren simplen Philosemitismus zu ersetzen durch eindeutige Solidarität mit AL FATAH, die im Nahen Osten den Kampf gegen das Dritte Reich von Gestern und Heute und seine Folgen aufgenommen hat. Was heißt Solidarität? UNSEREN KAMPF AUFNEHMEN.«

Dass das mehr war als verbale Kraftmeierei, zeigte der – zum Glück misslungene – Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in der Westberliner Fasanenstraße am 9. November 1969. Begangen wurde er von den Tupamaros Westberlin, deren Wortführer Dieter Kunzelmann war. Unklar ist, ob die Bombe nur dank eines glücklichen Zufalls kein Blutbad anrichtete oder ob sie gar nicht explodieren konnte, weil sie von dem Verfassungsschutzagenten Peter Urbach entschärft worden war.

Die Tupamaros Westberlin allerdings nahmen Tote zumindest in Kauf. In ihren Bekennerschreiben stellten sie den Anschlag als legitimen Akt antifaschistischen Widerstandes hin. So war in dem Flugblatt »Schalom + Napalm« vom 13. November 1969 von den »faschistischen Gräueltaten Israels gegen die palästinensischen Araber« die Rede und von der »Kristallnacht«, die »heute täglich von den Zionisten in den besetzten Gebieten, in den Flüchtlingslagern und in den israelischen Gefängnissen wiederholt« würde. In einem an den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, Heinz Galinski, verschickten Tonband wurde die Gleichsetzung Israels mit Nazi-Deutschland noch gesteigert: »Mit den Milliarden der Wiedergutmachung wird ein neuer faschistischer Völkermord finanziert.« In der Linken stieß der Anschlagsversuch der Tupamaros auf totale Ablehnung.

Die 1970er: »Sieg im Volkskrieg«

Die 1968 gegründete DKP folgte über Jahre hinweg dem Kurs der sowjetischen Außenpolitik: Die SU bemühte sich um gute Beziehungen zu den arabischen Regimes und unterstützte die »gemäßigten« Kräfte innerhalb der PLO. Komplizierter ist das Bild, das die um 1970 entstehenden, an der VR China orientierten »K-Gruppen« boten. (1) Übereinstimmung bestand darin, dass »das palästinensische Volk« es mit drei Feinden zu tun hatte: »Imperialismus, Zionismus und arabische Reaktion«. Der bewaffnete Kampf palästinensischer Gruppen schien Beleg genug, dass der Nahe Osten als einer der weltrevolutionären Brennpunkte zu sehen sei. Für den Kommunistischen Bund (KB), der seit Anfang der 1970er Jahre enge Kontakte zur Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) pflegte, war das Ziel ein binationaler sozialistischer Staat, den die PalästinenserInnen im Bündnis mit den jüdisch-israelischen »Werktätigen« erkämpfen sollten. (2)

Entwickelt wurde diese Linie im Gefolge des palästinensischen Kommandounternehmens während der Olympischen Spiele in München 1972: Eine bewaffnete Gruppe des Schwarzen September nahm israelische Sportler als Geiseln; bei der völlig missglückten »Befreiungsaktion« der deutschen Polizei starben neun Israelis und fünf Palästinenser. Dazu musste die Linke Position beziehen. Kontrovers diskutiert wurde die Aktion in der KB-Zeitung Arbeiterkampf (AK); die Redaktion schrieb: »Normale Bürger eines imperialistischen Staates als Geiseln festzuhalten, scheint uns weder moralisch vertretbar noch politisch sinnvoll.« (AK 22) Die RAF dagegen machte den »Moshe-Dayan-Faschismus« für das Blutbad verantwortlich; unter Verteidigungsminister Dayan – für die RAF der »Himmler Israels« – habe Israel »seine Sportler verheizt wie die Nazis die Juden – Brennmaterial für die imperialistische Ausrottungspolitik«. Als Autorin dieses Textes (»Den antiimperialistischen Kampf führen!«) gilt Ulrike Meinhof – vergleicht man ihn mit dem oben zitierten konkret-Artikel »Drei Freunde Israels« von 1967, dann wird ihr dramatischer Positionswechsel deutlich.

Mit dem israelisch-arabischen Krieg im Oktober 1973 verfestigte sich das Kräfteverhältnis im Nahen Osten – und die Sichtweise der westdeutschen Linken. Die Leitung des KB erklärte in einer Stellungnahme: »Eine Lösung des Konflikts ist nur möglich, wenn der zionistische Staat Israel zerschlagen wird, wobei jedoch die Existenz des hebräischen Volkes in dieser Region respektiert werden muss. Der KB unterstützt wie in der Vergangenheit alle Vorschläge und Pläne, in Palästina einen sozialistischen Staat zu schaffen, in dem Palästinenser und Hebräer gleichberechtigt zusammenleben werden. Eine solche Lösung setzt u.E. voraus, dass sich soziale Umwälzungen in der gesamten Region vollziehen und die hebräische Bevölkerung Israels am antizionistischen Kampf teilnimmt.« (3) Implizit angezweifelt wurde damit auch die Strategie der PFLP, die nach wie vor einen »langdauernden Volksbefreiungskrieg« propagierte.

1976: Selektion in Entebbe

Die von der PFLP abgespaltene PFLP-SC (Special Command) war verantwortlich für eine der spektakulärsten Aktionen gegen Israel. Ein Kommando, zu dem auch zwei deutsche Mitglieder der Revolutionären Zellen (RZ) gehörten, entführte Ende Juni 1976 ein Passagierflugzeug der Air France auf der Route Tel-Aviv-Paris, um insgesamt 53 inhaftierte GenossInnen freizupressen: 40 in Israel und 13 in Europa, darunter je drei Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni. Ein israelisches Spezialkommando beendete die Geiselnahme am 4. Juli in der Halle des Flughafens von Entebbe (Uganda). Dabei kamen die Entführer, drei Geiseln, der israelische Kommandeur und mindestens 20 ugandische Soldaten ums Leben.

Bis heute gibt es unterschiedliche Darstellungen über die von den Geiselnehmern vorgenommen »Selektion« (4): Wurden »nicht israelische« Geiseln freigelassen – weil es um die Erpressung der israelischen Regierung ging? Oder waren es »nicht jüdische« – das wäre lupenreiner Antisemitismus? Eindeutig ist, dass sich ein Teil der jüdischen Geiseln, darunter Überlebende des Holocaust, an die nazistischen Selektionspraktiken erinnert fühlten – auch weil zwei Deutsche unter ihren Peinigern waren. Europäische, US-amerikanische und israelische Medien jedenfalls werteten »Entebbe« als Beleg für einen mörderischen Antisemitismus bei den linken »Schülern der Muftis und Goebbels«. (Haaretz, 5.7.1976)

Jahre später übernahmen auch Teile der deutschen Linken diese Interpretation. In ihrer Erklärung »Gerd Albartus ist tot« von Dezember 1991 leisteten die RZ eine umfassende Selbstkritik wegen der Selektion »entlang völkischer Linien« in Entebbe, die sie als Folge ihrer verfehlten Volkskriegsstrategie sahen: »Wo wir unter anderen Voraussetzungen auf der Unterscheidung zwischen oben und unten beharrten, sahen wir im Nahen Osten vor allem gute und schlechte Völker.« Als generelle Erkenntnis hielten sie fest: »Wo zwei ethnische Gemeinschaften Ansprüche auf dasselbe Stück Land erheben, gibt es keine revolutionären Lösungen.«

1982ff.: Umorientierung im Kommunistischen Bund

Das dämmerte anderen Teilen der Linken schon früher. Anlässlich der israelischen Intervention im Libanon 1982 hatte der Arbeiterkampf (AK 222) noch mit der Schlagzeile »Die Endlösung der Palästinenserfrage« aufgemacht – nach dem Massaker christlicher Milizen in den palästinensischen Flüchtlingscamps Sabra und Shatila, unter den Augen der israelischen Armee und ihres Oberbefehlshabers Ariel Sharon. In den folgenden AK-Ausgaben wurde daraufhin »die Bösartigkeit eines Vergleichs zwischen NS-Deutschland und Israel« kritisiert und die darin enthaltene »Gleichsetzung von Tätern und Opfern« als »weder politisch noch moralisch vertretbar« zurückgewiesen. Diese Sichtweise setzte sich in der KB-Publizistik auch durch. Strategisch kam es ebenfalls zu einer Umorientierung: Nach dem historischen Gespräch des israelischen Friedensaktivisten Uri Avnery mit dem PLO-Vorsitzenden Jassir Arafat im Juli 1982 griff der AK die Idee der gegenseitigen Anerkennung Israels und der PLO auf – und damit die Zwei-Staaten-Lösung. Auch »Arafats Friedensdiplomatie« wurde im AK nun als die »im Prinzip richtige, weil praktisch einzig mögliche Politik« gewürdigt.

Mit dieser Umorientierung stand der KB innerhalb der radikalen Linken erst einmal allein. Das zeigte sich nach Beginn der Intifada im Dezember 1987. Anlass für eine scharfe Kontroverse zwischen dem KB einerseits und Autonomen sowie diversen »antiimperialistischen« Palästina-Soligruppen andererseits war die Weigerung der Hamburger KB-Gruppe, eine Demonstration zur Solidarität mit der Intifada zu unterstützen. Begründet wurde das mit der Ausrichtung der Demo: »Im Aufruf … wird bewusst vermieden, den Staat Israel zu erwähnen, der – unabhängig von unserer Kritik an der Weise seines Entstehens und seiner expansionistischen und repressiven Politik – das Selbstbestimmungsrecht von 3,3 Millionen jüdischer Israelis verkörpert. Im Aufruf ist statt dessen lediglich die Rede von einem seit 1948 besetzten Gebiet und von einem zionistischen Gebilde.« Auch die Forderung nach einem »allseitigen antiisraelischen Boykott« wies der KB als unangemessen zurück, weil sie in der BRD zwangsläufig an die Nazi-Parole »Kauft nicht bei Juden« erinnern musste.

Um diese Stellungnahme und die Probleme der Palästina-Solidarität entbrannte ein erbitterter Streit, der weit über Hamburg hinaus Wellen schlug. Durchsetzen konnte sich der KB mit seiner Position nicht.

1991: Zweiter Golfkrieg, linker Bellizismus

Der tiefste und bis heute fortwirkende nahostpolitisch begründete Bruch innerhalb der deutschen Linken datiert auf den Januar 1991. Damals begann die Operation Desert Storm, der Angriff der westlichen Kriegsallianz gegen den Irak. Offizielles Ziel war die Befreiung Kuwaits, das irakische Truppen seit Anfang August 1990 besetzt hielten. Für den Fall eines Krieges gegen den Irak drohte dessen Diktator Saddam Hussein damit, Israel anzugreifen. Nicht nur dort wurde befürchtet, dass irakische Raketen mit chemischen Waffen – Giftgas aus deutscher Produktion! – bestückt sein könnten. Diese Bedrohung wurde auch bei Teilen der radikalen Linken in Deutschland zum entscheidenden Argument für die Unterstützung des Krieges.

In der März-Ausgabe von konkret wurde auf insgesamt sieben Seiten für den Krieg geworben. Herausgeber Hermann L. Gremliza begründete seine Zustimmung damit, dass »hier einmal aus falschen Gründen und mit falschen Begründungen das Richtige getan zu werden scheint«. Zwar gehe es den USA und ihren Verbündeten um Öl und um die von Präsident George W. Bush so genannte neue Weltordnung – »die anstandslose Unterordnung der drei hungernden Kontinente unter die Prinzipien und Interessen der führenden imperialistischen Staaten.« Das »Richtige« sah Gremliza darin, »dass der Irak der Fähigkeit beraubt werden muss, Israel – wie von Saddam angekündigt – anzugreifen und zu liquidieren«.

Flankiert wurde Gremlizas – im Ton vergleichsweise zurückhaltende – Zustimmung zum Krieg in konkret von hemmungslosen Tiraden von Wolfgang Pohrt und Wolfgang Schneider. Da konnten selbst die Bürgerblätter (Die Zeit, Der Spiegel) mit ihren Edelfedern – Enzensberger, Broder, Biermann u.a. – nicht mithalten. Anlässlich der Kriege in Afghanistan (2001) und Irak (2003) wiederholte sich die gleiche Konstellation: Antideutsche AutorInnen begrüßten imperialistische Interventionen und begründeten das mit der angeblich existenziellen Bedrohung Israels bzw. dem Erstarken einer vom »Islamfaschismus« angeführten »Antisemitischen Internationale«.

Seit 1997, als aus einer Spaltung der Redaktion der Tageszeitung junge Welt die Jungle World entstand, gibt es ein weiteres einflussreiches linkes Publikationsorgan, in dem – vorsichtig formuliert – bellizistische Propaganda ihren festen Platz hat. Palästinenser kommen hauptsächlich als antisemitische Fanatiker vor – auch Ende September 2000, als Israels Ministerpräsident Ariel Sharon in Begleitung von 1.200 »Sicherheitskräften« mit einem »Rundgang« auf dem arabisch verwalteten Jerusalemer Tempelberg zur Auslösung der zweiten Intifada beitrug. Trotz seiner gezielten Provokation war Sharon für die antideutschen Israel-FreundInnen das unschuldige Hassobjekt des antisemitischen Mobs.

Wachsamkeit und Alarmismus

Der Versuch, in der Jungle World eine kritische Nahost-Debatte zu führen, wurde zum Fiasko. Ein Dossier von Klaus Holz, Elfriede Müller und Enzo Traverso verstanden die meisten AutorInnen und viele LeserInnen als Angriff auf den »Gründungskonsens« der Jungle World. Die drei hatten u.a. »die legitimen Rechte der PalästinenserInnen« verteidigt und den »Sharon-Linken« vorgeworfen: »Sie setzen der antisemitischen Täter-Opfer-Umkehr eine Verabsolutierung des Täter-Opfer-Modells entgegen.« (»Schuld und Erinnerung«, Jungle World 47/2002)

Dass nahostpolitische Kontroversen auch anders ausgetragen werden können, zeigte der Antisemitismusstreit bei attac 2003. Nachdem die von Linksruck-Mitgliedern beeinflusste AG »Globalisierung und Krieg« zum Boykott israelischer Waren und zu einem gemeinsamen Gedenktag gegen die Besetzung im Irak und in Palästina aufgerufen hatte, gab es eine auch öffentlich geführte Debatte. Ziel war es, kritisches Bewusstsein zu schaffen, um Forderungen zu vermeiden, die Antisemitismus befördern.

Dokumentation: Welche Kritik an Israel ist antisemitisch?

Beispiele von Antisemitismus im Zusammenhang mit dem Staat Israel und unter Berücksichtigung des Gesamtkontextes können folgende Verhaltensformen einschließen, ohne auf diese beschränkt zu sein:
– Das Abstreiten des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen.
– Die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet und verlangt wird.
– Das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehen (z.B. der Vorwurf des Christusmordes oder die Ritualmordlegende), um Israel oder die Israelis zu beschreiben.
– Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten.
– Das Bestreben, alle Juden kollektiv für Handlungen des Staates Israel verantwortlich zu machen.
Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden.
Auszug aus der Arbeitsdefinition des European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia (EUMC), Januar 2005

Wachsamkeit statt Alarmismus, Zwischentöne statt Überidentifikation mit einer der beiden nahöstlichen Konfliktparteien zu stärken und in der aufgeladenen Debatte »den Leisen ein Mikrofon« zu geben, wie Peter Ullrich in ak 563 forderte, ist zweifellos richtig. Wahrgenommen werden aber vor allem diejenigen, die am lautesten »Skandal« schreien. Eine Spezialität der deutschen »Antisemitismus-Skandale« der vergangenen Jahre besteht darin, dass immer wieder die Linkspartei zur Zielscheibe der Kritik wurde. Eine tendenziöse »Studie« der antideutschen Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn und Sebastian Voigt diente der CDU/CSU-Fraktion im Mai 2011 gar als Material für ein Tribunal gegen die Linke, zelebriert als Aktuelle Stunde des Deutschen Bundestages. Offizielles Thema: »Aktuelle sozialwissenschaftliche Untersuchungen zu möglichen antisemitischen und israelfeindlichen Positionen und Verhaltensweisen in der Partei Die Linke.«

Salzborn, Voigt und ihre EpigonInnen verfahren dabei nach einem einfachen Rezept: Kritikwürdige Äußerungen und Verhaltensweisen von Linken-PolitikerInnen werden zusammengetragen, Forderungen aus Resolutionen aus dem Zusammenhang gerissen und zur antisemitischen Bedrohung von links vermengt. Als Beleg dafür reicht dann schon die bloße Forderung der Linkspartei, die Hamas in politische Gespräche einzubeziehen. Salzborn: »Wer mit der Hamas reden will, fordert den Pakt mit einer antisemitischen Terrororganisation.« (Die Welt, 8.6.2010)

In der antideutschen Ideologie lässt sich die Frontstellung gegen die Linke sogar mit einem – allerdings speziellen – Bekenntnis zum Kommunismus vereinbaren. So schreibt Stefan Grigat, »die Parteinahme für Israel, für die man sich keine Sekunde lang darüber hinwegzutäuschen braucht, dass staatliche Verteidigungsmaßnahmen immer auch zu grauenerregenden Übergriffen führen«, sei »eine zwingende Konsequenz aus der kommunistischen Kritik.« Weil nämlich, schrieb die Initiative Sozialistisches Forum (ISF) Freiburg 2005, »für den Staat Israel … die üblichen Muster der bürgerlichen Rollenverteilung keinerlei Geltung« hätten, sei Israel »der bewaffnete Versuch der Juden (!), den Kommunismus noch lebend zu erreichen, und so nimmt heute die militante Aufklärung die Gestalt Ariel Scharons und der Panzer der israelischen Armee an.« (www.isf-freiburg.org)

Das dürfte auch im Lager derjenigen Linken, die sich bedingungslos auf die Seite Israels schlagen, eine Minderheitsposition sein. Unbestreitbar ist, dass der anti-antisemitische Alarmismus seine Wirkung tut. Schon während des Gazakrieges 2009 kritisierte Pedram Shahyar in ak 535 das Schweigen der deutschen Linken: »Der Krieg der israelischen Regierung gegen Gaza ist keine Verteidigungsaktion, sondern eine kalkulierte humanitäre Katastrophe. So sehr man die Hamas und ihre reaktionäre Ideologie ablehnen muss, so darf man nicht vergessen, wer die Leidtragenden dieses Krieges sind. Hamas wird, so wie die Hizbollah nach dem letzten Libanonkrieg, als politischer Sieger aus diesem Krieg hervorgehen; der radikale Islamismus wird im ganzen Nahen Osten Auftrieb erhalten. Das weiß jeder, der das Einmaleins der Politik kennt.« Mit ihrer Untätigkeit lande die deutsche Linke »faktisch bei Merkel«.

Jens Renner

war bis 2020 ak-Redakteur.

Anmerkungen:

1) Die mitgliederstärksten waren KPD/ML (gegründet 1968), KPD/AO (1970), KB (1971), KBW (1973).

2) Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Nahostpolitik des Kommunistischen Bundes ist nachzulesen in dem zweiteiligen Artikel »Imperialismus, Zionismus und arabische Reaktion« in ak 504 und 505.

3) Die befremdliche Verwendung des Wortes »Hebräer« für Juden entspricht dem sowjetischen Sprachgebrauch nach 1945.

4) Siehe etwa den Aufsatz von Alexander Sedlmaier und Freia Anders: »Unternehmen Entebbe« 1976. Quellenkritische Perspektiven auf eine Flugzeugentführung. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 22, Berlin 2013.