Schattenboxen in Hamburg
Im Rondenbarg-Prozess versucht die Justiz, erneut G20-Gegner*innen mit einem Hooligan-Paragrafen zu kriminalisieren
Von Gaston Kirsche
Ein Donnerstagmorgen vor dem Hamburger Strafjustizgebäude. Im Schnee steht ein roter Pavillon, es gibt Soli-Kaffee aus Chiapas. Auf der Kundgebung vor dem mächtigen klassizistischen Gebäude trägt eine Frau ein kleines Schild, darauf steht: »G20: Wer sind hier die Verbrecher*innen?«, ein paar Fahnen der Gewerkschaft ver.di sind zu sehen. So protestierten etwa 100 Leute am 18. Januar gegen den Beginn des dritten Prozesses wegen Teilnahme an einer Demonstration gegen den G20-Gipfel durch die Straße Rondenbarg in Hamburg.
Damals, am 7. Juli 2017, waren 200 Demonstrierende hinter einem Transparent »Gegenmacht aufbauen!« mit roten Fahnen auf dem Weg, um die Zugänge zum Tagungsort des G20-Gipfels zu blockieren. Die Demonstration, so schildert es Christiane Schneider, damals Abgeordnete der Linken in der Hamburgischen Bürgerschaft, stieß zuerst auf eine Hundertschaft aus der Polizeikaserne Eutin, »dann, als sie vor der Konfrontation in den Rondenbarg auswich, auf die berüchtigte BFHU Blumberg der Bundespolizei. Diese stürmte binnen weniger Sekunden auf die vorderen Reihen des Zuges, zeitgleich rückten von hinten zwei Wasserwerfer und die Eutiner Hundertschaft an – die Falle schnappte zu.« Mehrere Flüchtende wurden gegen ein verrostetes Geländer gedrängt, das unter dem Druck brach, worauf sie über drei Meter in die Tiefe auf Asphalt stürzten. Die Feuerwehr musste mit dutzenden Krankenwagen anrücken, 14 Schwerverletzte kamen in Krankenhäuser, mit offenen Brüchen, mit gestauchten Halswirbeln. Die Polizei erhob von allen Personalien und verhaftete 73 weitere Teilnehmende. »Für mich ergibt sich aus den Akten und den Ausführungen der Innenbehörde im G20-Sonderausschuss, dass die Ereignisse am Rondenbarg nicht Ergebnis eines dynamischen Prozesses waren, sondern einer Falle«, kommentiert die damalige Innenpolitikerin Schneider.
Mehr als sechs Jahre später, im September 2023, war es so weit – sechs Angeklagten wurde die Anklageschrift zugestellt. Die Vorwürfe: »gemeinschaftlicher schwerer Landfriedensbruch in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte in einem besonders schweren Fall, versuchte gefährliche Körperverletzung, die Bildung bewaffneter Gruppen und Sachbeschädigung zur Last gelegt«, wie die Pressestelle der Hamburgischen Staatsanwaltschaften mitteilte.
Vorwurf: »ostentatives Mitmarschieren«
Im Kern geht es um das Konstrukt des »ostentativen Mitmarschierens«. Am 24. Mai 2017 fällte der Bundesgerichtshof (BGH) in einem Rechtsstreit um eine Gruppe Hooligans, die sich für eine nicht öffentliche Prügelei verabredet hatten, ein letztinstanzliches Urteil: Die Hooligans seien auch ohne individuelle Gewalthandlungen des Landfriedensbruchs schuldig. Durch das »ostentative Mitmarschieren« in geschlossener Formation zum verabredeten Ort der Prügelei hätten sie psychische Beihilfe zu den Taten geleistet, so das Gericht. Aber der BGH erklärte auch, dass sich solche Hooligan-Schlachten von Fällen des Demonstrationsrechts unterscheiden. Dennoch versucht die Hamburger Staatsanwaltschaft verbissen, G20-Gegner*innen als unpolitische, gewaltgeile Hooligans zu verurteilen. Schon zweimal zog die Justiz gegen damals Minderjährige zu Felde, beide Male platzten die Prozesse. Nun also der dritte Anlauf. Insgesamt gab es bis zur Eröffnung des jetzigen Rondenbarg-Verfahrens mit Stand 12. Januar 2024 in Hamburg 964 Verfahren gegen 1.286 Personen im Zusammenhang mit den Protesten gegen den G20-Gipfel 2017, wie der Hamburger Senat auf Anfrage der Fraktion der Linken in der Hamburgischen Bürgerschaft erklärte.
Die Demonstration am Rondenbarg war vor allem von Polizeigewalt gekennzeichnet
Die 169 Ermittlungsverfahren wegen Polizeigewalt wurden dagegen bis auf drei alle eingestellt – und nur ein Polizist wurde verurteilt, weil er einen anderen Beamten am Finger verletzte, als er ihm sein Pfefferspray abnahm. Die Anwendung von Gewalt durch die Polizei beim G20-Gipfel in Hamburg sei demnach »in den allermeisten Fällen gerechtfertigt« gewesen, erklärte Oberstaatsanwältin Liddy Oechtering im Dezember. Dabei gab es beim G20-Gipfel 2017 etwa 1.500 durch Polizeigewalt teilweise schwer verletzte Protestierende. Wie kaum eine andere Demonstration stehen die Ereignisse vom Rondenbarg für massive, unverhältnismäßige und menschenrechtsverletzende Polizeigewalt. Selbst auf den Videos der Bundespolizeieinheit Blumberg ist zu sehen, wie die Demonstration von den Beamten in Kampfmontur überrannt wird. Auf den vom Magazin Panorama im Fernsehen ausgestrahlten zwei Sequenzen, die aus dem Fahrerhaus eines Hochdruckwasserwerfers gefilmt wurden, ist zu hören, wie ein Polizist zu einem anderen am Schluss sagt: »Die haben sie aber schön platt gemacht, alter Schwede.« Kein Polizist wurde verletzt, kein Polizeiwagen beschädigt. Auch hier – keine Anklage wegen Polizeigewalt.
Nicht der letzte G20-Prozess
Einige Ermittlungsverfahren und eine Fahndung mit Haftbefehl gegen einen G20-Gegner laufen noch, und die Anklagen gegen 85 Teilnehmende der Demonstration am Rondenbarg beginnen jetzt. »Die Staatsanwaltschaft Hamburg bleibt dabei ihrer Linie treu, zu versuchen, eine Kollektivschuld aller Teilnehmer*innen der Demonstration zu konstruieren. Allein die Anwesenheit in der Demo soll für eine Strafbarkeit zum Beispiel wegen schweren Landfriedensbruchs ausreichend sein«, so Ulrich von Klinggräff. Ulrich von Klinggräff ist Strafverteidiger in Berlin und am Prozess beteiligt: »Nach dieser Rechtsauffassung kommt es nicht darauf an, dass darüber hinaus eine individuelle Straftat nachgewiesen werden kann.« Dementsprechend gibt es keine konkreten Tatvorwürfe: »Auch die Anklageschrift sagt nur aus, dass unsere Mandant*innen in dieser Demonstration, die Staatsanwaltschaft spricht nur von einem Aufmarsch und verneint den Demonstrationscharakter, beteiligt haben soll«, erläutert von Klinggräff. »Dabei werden unseren Mandant*innen die Straftaten anderer Versammlungsteilnehmer*innen zugerechnet.«
Die Angeklagten widersprachen der Anklage am ersten Prozesstag in einer gemeinsamen Erklärung: »Wir stehen hier vor Gericht, weil Polizei und Staatsanwaltschaft offensichtlich verzweifelt versuchen, ihre Erzählung vom Feindbild ›Demonstrant*in‹ aufrechtzuerhalten und damit die Einschränkung von Grundrechten und die Polizeigewalt zu legitimieren«. Die Angeklagten streiten nicht ab, gegen den G20-Gipfel demonstriert zu haben und verteidigen das Versammlungsrecht: »Nicht nur diese Demo, sondern die gesamten Aktionen gegen den G20-Gipfel und überhaupt jeder gut koordinierte Protest wird durch die Argumentation in der Anklageschrift kriminalisiert.«
Die Demonstration am Rondenbarg war vor allem von Polizeigewalt gekennzeichnet: »Das Thema der Polizeigewalt ist für uns Verteidiger*innen zentral«, betont Ulrich von Klinggräff: »Es wird seitens der Staatsanwaltschaft der Versuch gemacht, einen brutalen Polizeiangriff dadurch zu rechtfertigen, dass es einzelne Steinwürfe gab, die niemanden verletzt haben. Diesen Versuch werden wir nicht durchgehen lassen.« Die Beweisaufnahme wird sicher intensiv werden. Das Landgericht Hamburg hat bis in den Hochsommer, bis zum 16. August insgesamt 26 Verhandlungstermine angesetzt.
Die Vorsitzende Richterin der 12. Strafkammer, Sonja Boddin, signalisierte bereits, dass aufgrund der jahrelangen Verzögerung keine hohen Strafen mehr zu erwarten seien. Das Gericht werde die hohe Belastung der Angeklagten berücksichtigen. Sie mussten jahrelang auf den Prozess warten und müssen nun im Durchschnitt einmal die Woche zum Verfahren anreisen – zwei von ihnen aus Süddeutschland.
Schon am ersten Verhandlungstag deutete die Richterin an, dass sie die Demonstration als politische Versammlung betrachtet und sie die Hooligan-Rechtsprechung für nicht anwendbar hält. »Es geht nach wie vor darum, den politischen Angriff der Hamburger Staatsanwaltschaft auf das Versammlungsrecht zurückzuweisen«, betont Kim König von der Roten Hilfe Hamburg.
Einstellung gegen Distanzierung
Zu Beginn des zweiten Prozesstages verlas die Richterin Sonja Boddin einen Vermerk über die Möglichkeit der Einstellung gegen Auflagen für alle Angeklagten. Eine Einstellung könne mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft nach Paragraf 153a (Absehen von der Verfolgung unter Auflagen und Weisungen) erfolgen: Wenn sie eine Erklärung abgeben, in welcher sie sich gegen gewalttätigen Protest aussprechen und eine Geldstrafe akzeptieren, wird der Prozess gegen sie eingestellt – ein Freispruch wäre dies nicht. Nachdem die sechste Angeklagte zum ersten Prozesstag nicht erschienen war, wurde ihre Verhandlung bereits zuvor abgetrennt. Von den fünf übrigen Angeklagten nahmen zwei das Angebot der Richterin an.
Die beiden Angeklagten, Nils Jansen und Gabi Müller (Name geändert), die sich weiterhin dem Prozess stellen, gaben am dritten Verhandlungstag, dem 8. Februar, eine gemeinsame Erklärung ab: »Wir haben uns entschieden, die von der Staatsanwaltschaft geforderten Auflagen abzulehnen. Seit sechseinhalb Jahren leben wir in Ungewissheit über den Ausgang des Verfahrens. Die Entscheidung ist uns nicht leichtgefallen: Für jeden von uns ist es eine Belastung, hier vor Gericht zu stehen. Als Angeklagte stehen wir unter enormem Druck, mit ernsten beruflichen, finanziellen und gesundheitlichen Einbußen. Für eine Mitangeklagte war sogar ihr Aufenthaltsstatus von dem Ausgang dieses Verfahrens abhängig. Manche von uns haben das Angebot deshalb notgedrungen angenommen. Wir alle kritisieren aber einheitlich die von der Staatsanwaltschaft geforderten Auflagen und fordern die Einstellung des Verfahrens.«
Der Beschuldigte Nils Jansen betont im Gespräch: »Der Prozess hat uns als Angeklagte zusammengebracht. Linke Proteste werden in Deutschland gerade zunehmend kriminalisiert. Davon werden sich fortschrittliche Proteste aber nicht einschüchtern lassen. Ganz im Gegenteil: Gerade angesichts der gegenwärtigen wirtschaftlichen Krise sind Proteste für Frieden, Gerechtigkeit, Umweltschutz heute nötiger denn je.«
Für jeden von uns ist es eine Belastung, hier vor Gericht zu stehen.
Nils Jansen und Gabi Müller
Die Angeklagte Gabi Müller ergänzt: »Unser Verfahren, also der Versuch, Demonstrant*innen ohne individuellen Tatvorwurf zu verurteilen, ist ein langersehnter Schritt der konservativen Seite, der angesichts der Zuspitzung der Krise und der Widersprüche in dieser Gesellschaft immer mehr Befürworter*innen bekommt, damit sie einfacher gegen kommende Proteste vorgehen und ihren Reichtum schützen können. Aus all diesen Gründen lehnen wir den Deal der Staatsanwaltschaft ab und führen das Verfahren fort. Die Welt muss und wird auch nicht so bleiben, wie sie ist.«
Die Anklage der Staatsanwaltschaft bricht nach den ersten beiden Prozesstagen zusammen, trotzdem will sie nach sechs Jahren noch über Auflagen diskutieren.
Adrian Wedel, Strafverteidiger
Adrian Wedel, einer der weiterhin beteiligten Strafverteidiger, kommentierte: »Die Anklage der Staatsanwaltschaft bricht nach den ersten beiden Prozesstagen zusammen, trotzdem will sie nach sechs Jahren noch über Auflagen diskutieren. Es gibt aber nichts, wovon sich die Angeklagten distanzieren müssten: Sie werden nicht für Gewaltakte angeklagt, sondern für ihre bloße Anwesenheit bei einer Demonstration. Das Verfahren sollte sofort und ohne Auflagen eingestellt werden.«
Am dritten und vierten Prozesstag wurde aber keine Einstellung verfügt, sondern die Beweisaufnahme fortgeführt. Es bleibt spannend, ob dadurch neue Details aufgedeckt werden können über den Polizeieinsatz am Rondenbarg. Bereits am ersten Prozesstag gab Anwalt Sven Richwin eine Erklärung zur berüchtigten Bundespolizeieinheit Blumberg ab: »Immer wieder erleben wir vor Berliner Gerichten, dass sich Beamt*innen in ziviler, vermeintlich ›angepasster Bekleidung‹ als sogenannte Tatbeobachter*innen, sogenannte ›Tabos‹, unter Teilnehmer*innen von Versammlungen gemischt haben.« Daraus leitete er ab: »Im vorliegenden Verfahren besteht nunmehr die Gefahr, dass verdeckte Polizeibeamte nicht nur an der Schaffung einer Einsatzgrundlage teilhaben, sondern durch ihr Agieren, sogar eine Strafbarkeit für Personen begründen können, die selbst gar keine Straftaten begehen.«
Einer, der am ersten Prozesstag aus Solidarität mit den jetzt Angeklagten mit im Gerichtssaal saß, kennt eine solch aufwendige und umstrittene Beweisaufnahme schon: Fabio V., der lächelnd und zurückhaltend, wie in seinem Prozess, Platz nahm – nur endlich nicht mehr auf der Anklagebank. Der Prozess gegen ihn wurde im August 2023 endgültig eingestellt. Eine Haftentschädigung für die über viermonatige Untersuchungshaft im Jugendgefängnis Hahnöfersand hat er bisher nicht erhalten.
Kundgebungen
Vor dem Strafjustizgebäude wird es an den nächsten Verhandlungstagen, am 22. und 23. Februar erneut Solidaritätskundgebungen geben. Die Verhandlungen sollen um 9:30 Uhr beginnen. Zur Prozessbegleitung hat die Rote Hilfe eine informative Extra-Website eingerichtet: rondenbarg-prozess.rote-hilfe.de. Auf der Webseite der breit angelegten Solidaritätskampagne für die Rondenberg-Angeklagten »Gemeinschaftlicher Widerstand« finden sich die weiteren Verhandlungstermine und laufend Prozessberichte der solidarischen Prozessbeobachtung eingestellt: gemeinschaftlich.noblogs.org. Die Angeklagten sind nicht allein.