Verquere Fronten
Wie der Bundestag mit der pauschalen Verurteilung der BDS-Bewegung der Bekämpfung des Antisemitismus mehr schadet als nützt
Von Jens Renner
Im Kampf gegen Antisemitismus sieht sich die AfD an vorderster Front. Sie sei »die Partei der Freunde Israels in diesem Parlament«, prahlte ihr Abgeordneter Jürgen Braun, als er am 17. Mai im Bundestag den AfD-Antrag (»BDS-Bewegung verurteilen – Existenz des Staates Israel schützen«) vorstellte. Da gab es ein bisschen Gejohle im Hohen Hause – in der wesentlichen Frage aber waren sich die allermeisten Parlamentarier*innen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen einig mit der Rechtsaußenfraktion: Wer in Deutschland den Antisemitismus bekämpfen wolle, müsse vor allem gegen die Bewegung vorgehen, die Israel mittels Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen (Boycott, Divestment and Sanctions: BDS) zu einer Änderung seiner Politik gegenüber den Palästinenser*innen bewegen will. Wie die AfD, die BDS kurzerhand verbieten will, erklärte die Abstimmungskoalition aus den vier Fraktionen »Argumentationsmuster und Methoden« von BDS für antisemitisch und forderte die Bundesregierung auf, »keine Veranstaltungen der BDS-Bewegung oder von Gruppierungen, die deren Ziele aktiv verfolgen, zu unterstützen«.
Welche Ziele das sind, wird in dem Bundestagsbeschluss nicht erwähnt. Laut ihrem Aufruf vom 9. Juli 2005 will die BDS-Bewegung Israel dazu bewegen, dass es: »1) die Besetzung und Kolonisation allen arabischen Landes beendet und die Mauer abreißt; 2) das Grundrecht der arabisch-palästinensischen BürgerInnen Israels auf völlige Gleichheit anerkennt; und 3) die Rechte der palästinensischen Flüchtlinge, in ihre Heimat und zu ihrem Eigentum zurückzukehren, wie es in der UN-Resolution 194 vereinbart wurde, respektiert, schützt und fördert.«
Aber nicht um diese Ziele, sondern um die Methoden von BDS ging es im Bundestag, insbesondere um den Boykott israelischer Waren, Dienstleistungen, Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Sportler*innen. Dass in Deutschland Boykottparolen gegen Israel »unweigerlich Assoziationen zu der NS-Parole Kauft nicht bei Juden!« wecken, wie es in dem am 17. Mai beschlossenen Antrag heißt, ist unbestreitbar – selbst wenn es sich beim Warenboykott ausschließlich um Produkte aus den besetzten Gebieten handeln würde. Wo die Bewegung – wie im bundesweiten BDS-Aufruf vom 20. Juni 2015 – darüber hinaus »Aktionen gegen die wirtschaftliche, militärische, wissenschaftliche, kulturelle und sonstige gesellschaftliche Zusammenarbeit des Auslands mit Israel« propagiert, schadet sie sich selbst. Auch hier haben die Antragsteller*innen der vier Bundestagsfraktionen recht, wenn sie schreiben: »Der allumfassende Boykottaufruf führt in seiner Radikalität zur Brandmarkung israelischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger jüdischen Glaubens als Ganzes«.
Skandalös ist vor allem, dass der Bundestag die Relationen des Antisemitismus in Deutschland völlig verzerrt.
Höchst problematisch ist auch das von BDS geforderte Rückkehrrecht für die 1948 und 1967 geflohenen und vertriebenen Palästinenser*innen. Verstanden als gesetzlich garantierter Anspruch der Betroffenen und ihrer Nachkommen, insgesamt mehrerer Millionen Menschen, wäre es weder wünschenswert noch umsetzbar; die härtesten BDS-Gegner*innen warnen in diesem Zusammenhang gar vor der »Vernichtung« Israels oder – um Henryk M. Broder zu zitieren – der »Endlösung der Israel-Frage«.
Auch wenn das reine Demagogie ist – die BDS-Bewegung täte gut daran, solche programmatischen Unklarheiten zu beseitigen. Die 16 Nahostexpert*innen, die in einer gemeinsamen Stellungnahme die »pauschale Stigmatisierung« der BDS-Bewegung zurückweisen, behelfen sich hier mit einer Beschwichtigungsformel: »Tatsächlich kann bei einer Sammlungsbewegung wie BDS nicht ausgeschlossen werden, dass einzelne Unterzeichner oder Aktivisten von Judenhass motiviert sind.« (zeit online, 4. Juni 2019)
»Fokussierung auf den Staat Israel«
Das Skandalöse an dem Bundestagsbeschluss mit dem bezeichnenden Titel »Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen« besteht vor allem darin, dass er die Relationen des Antisemitismus in Deutschland völlig verzerrt und damit seiner Bekämpfung mehr schadet als nützt. Diesen Zusammenhang arbeiten die 16 Nahostexpert*innen überzeugend heraus. So verweisen sie darauf, dass antisemitische Straftaten »ganz überwiegend auf das Konto von Rechtsextremen gehen«. Das Schweigen hierüber kennzeichnete auch schon frühere Bundestagsinitiativen gegen Antisemitismus, bei denen ausschließlich Linke in den Fokus genommen wurden. Im Mai 2011 diente eine tendenziöse Studie der antideutschen Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn und Sebastian Voigt der CDU/CSU-Fraktion als Material für ein Tribunal gegen die Linkspartei im Rahmen einer Aktuellen Stunde des Deutschen Bundestages. (ak 562)
Im September 2017 schloss sich die Bundesregierung dann der Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) an. Sie lautet: »Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.« Dem fügte die Bundesregierung noch einen Satz hinzu: »Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.« In einer Mitteilung des Auswärtigen Amtes vom 22. September 2017 wird stolz auf die eigene Leistung verwiesen: »Mit der Aufnahme des letzten Satzes zur Bekämpfung von israelbezogenem Antisemitismus geht die Bundesregierung zudem über die von der IHRA konsentierte Fassung hinaus.«
In der Sache gibt es zwischen Bundesregierung und IHRA keinerlei Meinungsverschiedenheiten – nur hat letztere den israelbezogenen Antisemitismus aus ihrer eigenen Definition herausgehalten und dieser statt dessen eine Reihe von Beispielen beigefügt. Auch dort hat die »Fokussierung auf den Staat Israel« einen besonderen Stellenwert. Genannt werden überwiegend sogenannte Propagandadelikte, während Naziangriffe auf jüdische Einrichtungen ebenso fehlen wie antisemitische Wahnvorstellungen über jüdische »Drahtzieher« hinter revolutionären und anderen progressiven Bewegungen – vermutlich fehlen sie, weil es sich hierbei um eindeutig rechte Ressentiments handelt.
Im Januar 2018 begrüßten dann die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen ebenfalls die IHRA-Definition, und zwar mit der, wie gezeigt, ganz und gar unzutreffenden Begründung: »Mit Hilfe dieser Definition werden die verschiedenen Ausprägungen von Antisemitismus verdeutlicht …« Zugleich stellt der Beschluss scheinbar ganz ausgewogen fest, dass in Deutschland »der größte Teil antisemitischer Delikte … weiterhin rechtsextrem motiviert« ist, es sich bei Antizionismus und Israelfeindlichkeit um »neue Formen« des Antisemitismus handele und insbesondere der »Gefahr eines durch Zuwanderung erstarkenden Antisemitismus« zukünftig »hohe Aufmerksamkeit« gelten müsse. In einem 17 Punkte umfassenden Sammelsurium von Maßnahmen wird dann neben der Forderung, einen Antisemitismusbeauftragten zu berufen (Punkt 1), unter Punkt 7 die BDS-Bewegung verurteilt.
Groteske deutsche Debatten
Warum ihr knapp eineinhalb Jahre später noch einmal eine gesonderte Verurteilung zuteil wurde, bleibt offen. Von einer gewachsenen Gefährdung Israels durch die – gerade in Deutschland marginale – Boykottbewegung kann keine Rede sein. Das wird von den Antragsteller*innen auch gar nicht behauptet. Offensichtlich sind ihnen die nahöstlichen Realitäten ziemlich egal. Die 16 Nahostexpert*innen kritisieren das zu Recht: »Das Nationalstaatsgesetz vom Juli 2018, das die rechtliche Ungleichheit jüdischer und arabischer Staatsbürger Israels festschreibt, die auf Dauer angelegte Besatzungspolitik, die schleichende Annexion des Westjordanlandes und die Blockade des Gazastreifens: Dies alles sind Elemente einer israelischen Regierungspolitik, die den Konflikt vor Ort dramatisch zugespitzt hat und eine von der Bundesregierung und der EU propagierte Zweistaatenregelung zunehmend verunmöglicht. All dies bleibt im Beschluss des Bundestages ausgeblendet.« Besonders kritisieren die Expert*innen das weitgehende Kontaktverbot gegenüber palästinensischen und oppositionellen jüdisch-israelischen Organisationen.
Seit der Kanzlerschaft Konrad Adenauers (»das Judentum ist eine jroße Macht«) unterstützt die bundesdeutsche Politik die jeweilige israelische Regierung bedingungslos. Das ist offizielle deutsche Staatsdoktrin und gilt auch gegenüber Benjamin Netanjahus repressiver Rechtskoalition.
Zugleich bewegt sich die mediale Debatte – sofern man überhaupt von einer Debatte sprechen kann – auf einem beklagenswerten Niveau. So versuchte Der Spiegel (12. Juli 2019), den Anti-BDS-Beschluss vom 17. Mai auf eine sowohl ideologische als auch finanzielle Einflussnahme pro-israelischer Lobbygruppen zurückzuführen. Was insgesamt fünf Redakteur*innen auf etlichen Seiten zur Stützung ihrer These zusammentragen, ist allerdings nur eine Sammlung von Vermutungen und Indizien, die allenfalls einen ziemlich alltäglichen Fall von Lobbyismus belegen. Dazu gehört etwa der Bericht über ein »Spendendinner« im Haus des Berliner Zahnarztes Elio Adler, der zugleich Vorsitzender des pro-israelischen Vereins WerteInitiative ist. Etwa 20 teilnehmende Personen, darunter Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), hätten im Anschluss an das Essen dem Verein Spenden »in insgesamt vierstelliger Höhe« überwiesen. Vierstellig – unfassbar! Die Empörung über die tendenziösen Spiegel-Enthüllungen war vorhersehbar. »Mitte-Links-Antisemitismus« bescheinigte Michael Wolffsohn dem Hamburger Magazin: Es habe »das Märchen der jüdischen Weltmacht« reproduziert – wenn’s dem Kampf gegen (Mitte-)Links dient, ist dem konservativen Historiker auch die gröbste Übertreibung nicht peinlich. (Die Welt, 15.7.2019)
Innerhalb der bundesdeutschen Linken sind die Positionen zum israelisch-palästinensischen Konflikt seit Jahren weitgehend unverändert. Die Antideutschen rücken eher noch weiter nach rechts und finden sich mittlerweile an der Seite von Nationalkonservativen und Islamhassern – wenn sie nicht selbst dazu geworden sind. Der langjährige konkret-Autor Alex Feuerherdt begrüßt, wie zu erwarten war, nicht nur den Anti-BDS-Beschluss, sondern fordert darüber hinaus die Bundestagsparteien auf, nun »gegenüber ihren eigenen Parteistiftungen konsequent« zu sein. Denn jetzt biete sich »eine echte Chance, die schädliche Kooperation von Stiftungen, Hilfswerken und anderen Organisationen mit palästinensischen Vereinigungen, die zur antisemitischen BDS-Bewegung gehören oder sie unterstützen, zu beenden und die diesbezügliche staatliche Förderpraxis zu ändern.« (mena-exklusiv) Bei den Geschichtsrevisionisten Alexander »Vogelschiss« Gauland und Björn »Denkmal der Schande« Höcke von der selbsternannten »Partei der Freunde Israels«, die seit Jahren zivilgesellschaftliche Akteure mit ähnlichen Forderungen verfolgt, wird er damit auf volle Zustimmung stoßen. Wenn das keine Querfront ist!
Trotz der grotesken Besonderheiten der deutschen Debattenlage sollten auch die internationalen Auswirkungen des Bundestagsbeschlusses vom 17. Mai ernst genommen werden. So hat Netanjahu schon die Parlamente anderer Länder aufgefordert, dem deutschen Beispiel zu folgen und gegen BDS vorzugehen. Dagegen appellieren 240 israelische und jüdische Wissenschaftler*innen an die Bundesregierung, den Anti-BDS-Beschluss nicht umzusetzen, unter anderem mit dem Argument, er behindere »die Herausbildung echter Solidarität zwischen Juden, Israelis, Muslimen und Arabern im Kampf gegen Antisemitismus und andere Formen von Rassismus«. So richtig dieser Einwand ist – zum Umdenken wird er die Bundesregierung und die Protagonist*innen der (anti-)deutschen Querfront wohl kaum bewegen.