Sackgasse und Neuanfang in Chiapas
Die EZLN hat angekündigt, alte Strukturen aufzugeben, und reagiert damit auch auf eskalierende Konflikte in der Region
Von Anne Haas
Wir laden euch herzlich zu unserer 30-Jahr-Feier ein […]. Doch wir empfehlen euch nicht zu kommen.« Diese bizarre Einladung veröffentlichte die EZLN, die Zapatistische Armee der nationalen Befreiung, im Rahmen einer Reihe von Kommuniqués als Vorbereitung auf den Jahrestag des zapatistischen Aufstandes vom 1. Januar 1994, auf ihrer offiziellen Internetseite. Darin kündigen sie diverse interne Umstrukturierungen an, die als neue Etappe in ihrem »Kampf für das Leben« gewertet werden, aber auch als Reaktion auf die sich rasant zuspitzende Konfliktlage im südlichsten mexikanischen Bundesstaat Chiapas.
Die Sicherheitslage in Mexiko, vor allem im Norden, ist geprägt von Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Drogenkartellen, korrumpierter Polizei und Armee sowie einer Wirtschaftspolitik auf Kosten der lokalen Bevölkerung. 107.000 registrierte verschwunden gelassene Menschen, seit sechs Jahren jährlich mehr als 30.000 Ermordete, darunter 31 Aktivist*innen und 43 Journalist*innen allein 2022, sind nur die messbaren Auswirkungen dieser seit Jahrzehnten herrschenden Gewalt. Die Tatsache, dass die Politik dem Süden des Landes so wenig Aufmerksamkeit schenkte, verschärfte dort zwar die Armut, eröffnete aber auch jenen Raum, in dem Bewegungen wie die Zapatistas ihre Autonomie festigen konnten. Viel Kraft wurde dort in eine bessere Nahrungs- und Gesundheitsversorgung, Bildung sowie gerechtere Justiz investiert. Parallel dazu operierten im Klandestinen aber auch die Kartelle in dieser Grenzregion, ohne dass die breite Bevölkerung davon viel mitbekam. Sie handelten mit Holz, Öl und Autos, aber auch mit Waffen, Drogen, Organen, Kinder- und sogenannter Ethno-Pornografie mit indigenen Menschen, mit Zwangsprostitution und Migrant*innen. Aufgrund von territorialen Absprachen zwischen den Kartellen und aufgrund der Abwesenheit des Staates kam es dort, im Vergleich zum Norden, jedoch kaum zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen diesen Akteuren.
Wirtschaftsinteressen im Süden
Mit der Regierung des Movimiento Regeneración Nacional (Morena) unter Andrés Manuel López Obrador änderte sich ab 2018 die Politik gegenüber Chiapas. Der Süden müsse »entwickelt« werden, angefangen bei einer massiven Infrastrukturerweiterung, die vor allem mit dem Ausbau von Straßen und Zugstrecken einher ging, aber auch mit der Privatisierung von Gemeindeland. Dies schürte diverse Konflikte. Neben der EZLN stellten sich auch viele indigene Organisationen gegen den Kurs des linkspopulistischen Präsidenten. Obrador bezeichnete die Gegner*innen seiner Politik seinerseits als konservativ und zurückgeblieben.
»Die Situation ist komplexer geworden, vor allem mit dieser Regierung«, so Jorge Santiago Santiago gegenüber ak. Sie habe unterschätzt, dass die indigenen Gemeinschaften unter den Bedingungen zunehmender Konflikte um die Region mehr und mehr »um ihre Selbstbestimmung und Autonomie« haben kämpfen müssen. Santiago Santiago nahm 1995 als Mitglied der Diözese unter dem Befreiungstheologen und Bischof Samuel Ruíz nach dem zapatistischen Aufstand an den Friedensverhandlungen von San Andrés teil. Als Vorstand des renommierten mexikanischen Menschenrechtszentrums Fray Bartolomé de Las Casas (Frayba) analysiert er seit vielen Jahrzehnten die Konflikte in Chiapas. »Die Aufstandsbekämpfung dauert an, denn für den Staat ist die Kontrolle des Territoriums essentiell. Diese Kontrolle wird durch das Militär aufrecht erhalten.« Von Seiten der Regierung sei zuletzt aber auch eine gefährliche Annäherung an die Kartelle spürbar gewesen, so Santiago Santiago, zumindest gäbe es »eine generelle Akzeptanz der Kontrolle, die durch die Organisierte Kriminalität und die Kartelle ausgeübt wird.« Es hält sich außerdem das hartnäckige Gerücht in Chiapas, dass sowohl der von Morena ernannte Gouverneurskandidat für die Wahlen 2024, als auch diverse Bürgermeister-Kandidat*innen für Städte und Landkreise direkte Beziehungen zu einem der beiden großen Kartelle pflegen.
Der Ausverkauf des Bundesstaates hat nun einmal mehr begonnen, und so drängen nicht mehr nur Unternehmen in die Region; auch brutale bewaffnete und blutige Auseinandersetzungen durch die Kartelle nehmen zu. Recherchen des Menschenrechtszentrums Frayba legen einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Entwicklungen nahe: So sind es häufig die Kartelle, die sowohl den Firmen als auch dem Staat den Zugang zu Land sichern, das, würde es unter lokaler oder indigener Verwaltung bleiben, wirtschaftlich nicht verwertbar wäre. Zugleich festigen die Kartelle so ihre Herrschaft über die Gebiete im Süden.
Wie kann Widerstand unter diesen Bedingungen gelingen, wenn Wirtschaft, Staat und Organisierte Kriminalität gemeinsam und gegen die Interessen der lokalen Bevölkerung agieren? Diese Frage stellt sich die EZLN schon seit Jahren. Ihre Überlegungen dazu präsentieren sie nun in den – bis Redaktionsschluss – 16 Kapiteln ihres Kommuniqués. Sie tun dies mal in der Form einer biblischen Fabel, vom Wolf, der sich nach dem Versuch um des Friedens willen ein zahmes Leben zu führen, losreißt, und wieder in die Wälder zieht; in Berichten über zyprische Fußballspiele im Niemandsland; oder im Bild einer Zukunftsvision für zapatistische Kinder in 120 Jahren. Auch Videos und Berichte über interne Angelegenheiten der EZLN, Selbstreflexionen und politische Analysen finden sich in den Publikationen.
Die Pyramide umdrehen
Bekanntgegeben hat die EZLN auch die Reorganisation ihrer zivilen Autonomieverwaltung. Bisher organisierte sich die Bewegung in den Autonomen Rebellischen Zapatistischen Landkreisen, den MAREZ, die sich in einer Art föderalem System unter dem Dach von zwölf Räten der Guten Regierung zusammenfanden. Nach der Logik des sogenannten »gehorchenden Befehlens« sollten die ernannten Autoritäten Entscheidungen stets in enger Rücksprache mit den Gemeinden treffen. Selbstkritisch gab die Bewegung nun bekannt, dass dies nicht immer gelungen sei. Entscheidungen hätten wegen der kleinschrittigen Kommunikationswege mitunter sehr lange gedauert und wurden letztlich von Personen getroffen, die thematisch weniger im Bilde waren über die Probleme vor Ort. Subcomandante Moisés, Sprecher und Militärchef der Zapatistischen Befreiungsarmee, konstatiert »eine Entfremdung der Gemeinden und Autoritäten. (…) Also drehten wir die Pyramide um und stellten die auf den Kopf.«
Subcomandante Moisés, Sprecher und Militärchef der Zapatistischen Befreiungsarmee, konstatiert selbstkritisch eine Entfremdung der Gemeinden und Autoritäten.
Die alte Struktur ist abgeschafft, stattdessen wurden die Autonomen Lokalregierungen, die GAL, ins Leben gerufen. Jedes Dorf, jeder zapatistische Stadtteil und jede Siedlung entscheidet nun selbst über wichtige Fragen und Lösungswege, dennoch sind auch die GAL überregional vernetzt. Angesichts der sich verschärfenden Konfliktlage sind zügige Entscheidungen ein großer Vorteil für die Sicherheit in den Gemeinden. Auf lokaler Ebene ist es außerdem leichter nachbarschaftliche Beziehungen zu anderen Gemeinden oder Gruppen aufzubauen und gemeinsame Strategien zu entwickeln. Diese neue Struktur ist laut Santiago Santiago jedoch nicht nur Resultat einer besseren Verteidigungsstrategie: »Was sie suchen, sind Alternativen, um das Leben an sich zu gestalten.« In indigenen Gesellschaften, die unterschiedlichen Versuchen der Ausrottung und Genoziden standgehalten haben, ist Leben und Überleben als Gemeinschaft und der Erhalt von Natur und Territorium, die das Überleben erst ermöglichen, essentiell. Sich selbst zu regieren musste jedoch erst einmal erlernt werden, besonders von jenen Personengruppen, die historisch und strukturell von Bildung und Mitentscheidung ausgeschlossen waren. Dieser Schritt sei in den letzten zehn Jahren geschehen, so die EZLN.
Santiago Santiago, Jahrgang 1943, kennt noch die Zeit vor dem Aufstand, als die indigene Bevölkerung vorwiegend in feudalen, Sklaverei-ähnlichen Verhältnissen auf den Plantagen arbeitete, mancherorts bis heute. »Ich beobachte, dass die neuen Generationen so viel fähiger sind und ein effizienteres Handwerkszeug haben, um auf die Bedürfnisse ihrer Gemeinde zu reagieren.« Die Jugend definiere sich als »indigen«, beispielsweise als tsotsil, tseltal, chol, als eine der drei größten Maya-Gruppierungen, aber ihre Identität sei »keine kolonisierte mehr«. Sie kennen ihre Gemeinden, ihre Landwirtschaft, die Riten und Autoritäten, und gleichzeitig haben sie studiert, »ihre Vision ist wissenschaftlich, interkulturell und divers«, so beschreibt es der Theologe. Sie seien nicht mehr Produkt der Dominanz und der Ausbeutung. »Sie sind Ergebnis dieser Suche nach der Wahrheit. Und sie zeigen, dass eine andere Gesellschaft möglich ist.«
Aufgeben ist keine Option
Diese optimistische Rückschau ist wichtig, denn außerhalb der Bewegung sind die Aussichten indigener Jugendlicher in Chiapas düster, die Suizidrate steigt seit Jahren. Ziemlich aussichtslos klingt auch die politische Analyse des Capitán Marcos, ehemals Subcomandante Galeano und neuer »Chef-Pessimist« der Bewegung. Er beschreibt das aktuelle System als kapitalistisch-neoliberal und neodarwinistisch, angereichert durch verschiedene Nationalismen. Durch die Ausbeutung des Planeten und Verschwendung von Ressourcen tendiere die Welt über Kurz oder Lang zur Auslöschung aller »überflüssigen« und entrechteten Menschen. Doch »allein die winzige Möglichkeit (…), dass die Widerstände und die Rebellion zusammentreffen«, bringe die Maschine zum Stottern, so ist es im 14. Kapitel des Kommuniqués zu lesen. Aufgeben ist für die Zapatistas also trotz dystopischer Aussichten keine Option – oder erst recht nicht.
Die Umstrukturierungen der Autonomie seien im Übrigen nur die kleinste Neuigkeit, die die EZLN zu verkünden habe. Derweil machen die Zapatistas es spannend und laden nationale wie internationale Unterstützer*innen über Weihnachten und Neujahr nach Chiapas ein – trotz der bedrohlichen Sicherheitslage, die sie ohne Schönfärberei darstellen.