Polarisierende Leerstellen
Ein neuer Sammelband diskutiert Anknüpfungspunkte marxistischer und queerfeministischer Theorie und Praxis
Von Pajam Masoumi
Glaubt man Feuilleton- und Social-Media-Diskursen, haben marxistische Feminismen und Theorien der Queer Studies keine Anknüpfungspunkte miteinander. In dem neu erschienenen Band »Materialistischer Queerfeminismus« begibt sich Herausgeberin Friederike Beier dagegen auf Spurensuche nach historischen und aktuellen Gemeinsamkeiten.
Beier bezieht sich dabei auf eine Strömung des materialistischen Feminismus, welche sich in den 1970er Jahren in Frankreich in Abgrenzung zu marxistischen Feminist*innen herausbildete.
Christine Delphy, die den Begriff des »materialistischen Feminismus« bedeutend prägte, sieht in der Methode des historischen Materialismus eine emanzipatorische Wissenschaftsmethode, deren Ziel die Überwindung aller Unterdrückungsverhältnisse ist. Delphy schreibt: »Eine feministische – oder eine proletarische – Wissenschaft hat das Ziel, Unterdrückung zu erklären. Um dies zu erreichen, muss sie bei der Unterdrückung ansetzen. Zeichnet sich diese Wissenschaft durch Kohärenz aus, wird sie unweigerlich eine Geschichtstheorie entwickeln, in der Geschichte im Sinne von Herrschaft einer Gruppe über eine andere betrachtet wird.«
Geschlechter- und Klassenverhältnisse
Wie Friederike Beier in der Einleitung schreibt, konzeptualisiert der französische materialistische Feminismus Geschlechterverhältnisse als Klassenverhältnisse. Diese Konzeptualisierung mache eine Dekonstruktion von Geschlecht erst möglich. Interessanterweise werfen sich Queerfeminist*innen und materialistisch-marxistische Feminist*innen gegenseitig Essentialisierung und ein naturalistisches Weltbild vor. Doch für Christine Delphy ist die Konzeption von Geschlecht als Klassenverhältnis alles andere als essentialistisch: »Der Begriff der Klasse geht von der Idee der sozialen Konstruktion aus und spezifiziert die damit verbundenen Auswirkungen. Gruppen sind nicht länger sui generis konstituiert, bevor sie in ein Verhältnis zueinander treten. Im Gegenteil, es ist ihr Verhältnis, das sie als solche hervorbringt.«
Folgt man Delphys These, so stehen die so genannten identitätspolitischen und historisch-materialistischen Ansätze nicht im Gegensatz zueinander, sondern ergänzen sich. Was damit gemeint ist, beschreibt Sophie Noyé im Beitrag »Für einen materialistischen und queeren Feminismus«: »Queere Zusammenhänge stellen eine Gegenhegemonie zur Verdinglichung dar, insofern sie queere Kämpfe als nicht nur ›identitätsbezogen‹, ›symbolisch‹ und ›kulturell‹, sondern auch als ›materiell‹ betrachten.«
Die Konzeption von Geschlecht als Klassenverhältnis knüpft an Simone de Beauvoirs berühmten Satz »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es« an, den auch Monique Wittig aufgreift. 1980 schrieb Wittig zehn Jahre vor Judith Butlers »Das Unbehagen der Geschlechter«: »Allein durch ihre Existenz führt die lesbische Gesellschaft die künstliche (soziale) Wirklichkeit ad absurdum, die Frauen als ›natürliche Gruppe‹ erscheinen lässt. Eine lesbische Gesellschaft deckt ganz pragmatisch auf, dass die Abtrennung von Männern, der Frauen unterzogen worden sind, politisch motiviert ist, und beweist, dass wir ideologisch als ›natürliche Gruppe‹ neu geformt worden sind.«
Unsichtbare Klassenunterschiede
Dass »identitätspolitische« Ansätze der Queer Theories durchaus gewinnbringend für marxistische Feminist*innen sein können, beweist neben Wittig auch Nat Raha, die die (Re)Produktionsarbeit queerer und trans Personen in den Mittelpunkt ihrer Analyse stellt. Auch Maria Lugones zeigt auf, dass Geschlechterverhältnisse ihre Relevanz durch die entsprechende Arbeitsteilung und Markierung biologischer Merkmale als männlich oder weiblich erhalten, die abhängig von Produktionsverhältnissen und ihrer historischen Einbettung sind. Lugones schreibt, dass Vorstellungen von Geschlecht in dieser bestimmten Form durch die »Kolonialisierung der Geschlechterverhältnisse« im Rahmen des europäischen Kolonialismus Ausdruck fanden und erst in Folge der kapitalistischen Ausbreitung hegemonial werden konnten.
Mit der »materialistischen Wende« innerhalb der Queer Studies, setzte sich eine Kritik der Ungleichheit in vermeintlich am Kapitalismus desinteressierten Theorieströmungen durch. Aktivist*innen of Colour, trans Aktivist*innen und andere analysierten anhand ihrer Subjektposition die Ungleichheit innerhalb ihrer Communities. Zwar waren und sind diese Analysen nicht immer materialistisch eingebettet, können aber Anknüpfungspunkte liefern. Im englisch- und französischsprachigen Raum machen sich Autor*innen und Aktivist*innen schon länger auf die Suche nach Gemeinsamkeiten. »Der Ansatz dieser Autor*innen und Aktivist*innen besteht meist darin, eine Focaultsche Analyse mit einer materialistisch-marxistischen zu verbinden. Sie denken die Konstitution der sexuellen und geschlechtlichen Subjektivität sowohl in einem Regime der Normalisierung (was Focault als Unterwerfung im und durch den Zusammenhang Macht/Wissen bezeichnet hat), als auch in einem Regime der kapitalistischen Akkumulation, das seinerseits mit einem Regime der institutionellen Regulierung verbunden ist. Sie verbinden somit eine Analyse hinsichtlich des Komplexes »Macht/Wissen« mit einer Reflektion, die sich mit kapitalistischer und staatlicher Herrschaft befasst«, schreibt Sophie Foyé.
Durch die sich gegenseitig befruchtenden Ansätze werden die Leerstellen der letzten Jahrzehnte deutlich: Bisher schafften es Queer Theories nicht, zu beantworten, warum es zu geschlechtlicher Unterdrückung kommt. Im Gegensatz dazu spielten marginalisierte Subjektpositionen als Teil der Analyse innerhalb marxistischer Strömungen nur eine nebensächliche Rolle und, dabei wurden die Differenzen innerhalb der Klassen aus dem Blick verloren.
Gemeinsame Praxis
Doch gerade zusammen ermöglichen diese Theorien ein neues Feld für potenzielle feministische Praxis. Im Nachwort resümiert Herausgeberin Friederike Beier: »Ein materialistischer Queerfeminismus zeigt im Anschluss an marxistische und queerfeministische Theorien auf, inwiefern Geschlecht verbunden mit Sexualität und Begehren durch den Kapitalismus zu einer zentralen Ordnungskategorie der Gesellschaft wurde« und bietet mit dem Aufsatz von Holly Lewis – »Zehn Leitsätze für eine queer-marxistische Zukunft« – direkt einen Ausweg aus den Widersprüchen zwischen Queer Theory und historischem Materialismus an.
Statt auf Abgrenzung, setzt Lewis auf eine Erweiterung queer-materialistischer Politiken: »Geschützte Räume für Queers zu schaffen, ist nicht auf ewig politisch erstrebenswert; es ist vielmehr ein Beweis für den traurigen Ist-Zustand. (…) Statt eines queeren Nationalismus sollte ein queering des Internationalismus erfolgen, (…) in dem Sinne, dass sich Teile der queeren Bewegung mit der Arbeiter*innenklasse verbinden, um die Solidarität mit anderen unterdrückten, prekarisierten und ausgebeuteten Menschen auszuweiten, egal ob diese Queers anerkennen oder nicht.« Lewis geht es also nicht um Separatismus aktivistischer Bewegungen, um eine trügerische und wackelige Sicherheit zu schaffen.
Mit der Übersetzung und Zusammenführung wichtiger Grundlagentexte des queer-materialistischen Feminismus hat Herausgeberin Friederike Beier eine polarisierende Leerstelle im deutschsprachigen Diskurs gefüllt.
Das Buch gibt einen wichtigen Impuls in den deutschsprachigen Diskurs, sich nicht in Gegensätzen zu verheddern, sondern sich an den Gemeinsamkeiten in Theorie und Praxis zu orientieren. Denn, wie im Aufsatz »Queerer Materialismus im Anschluss an Judith Butler und Karl Marx« diskutiert wird, die Spaltung zwischen Queer Theory und materialistischen Feminismen droht nicht nur, die feministische Bewegung zu schwächen. Sie bietet auch ein Einfallstor für reaktionäre Angriffe auf die bereits erkämpften Verbesserungen der Situation von Frauen, trans Personen und Queers.
»Doch wie können wir für eine Zukunft kämpfen, in der es keinen marxististischen Feminismus oder queeren Marxismus mehr bedarf. In einer solchen Zukunft gibt es nur noch eine internationale Bewegung zur Enteignung der Enteignenden, eine Bewegung, in der traditioneller und oppositioneller Sexismus als Bedingung und Folge von Ausbeutung angegangen werden. Dies ist die einzige Zukunft, für die es sich zu kämpfen lohnt.«
Mit diesen Fragen vor Augen sollten weiterführenden Diskussionen geführt werden. Dieses Buch bietet eine breite Grundlage und gibt einen Anstoß zu spektrenübergreifender Solidarität.
Friederike Beier (Hg.): Materialistischer Queerfeminismus. Theorien zu Geschlecht und Sexualität im Kapitalismus, Übersetzung aus dem Englischen von Karina Hermes, Übersetzung aus dem Französischem von Marie Treperman. Unrast, Münster 2023. 240 Seiten, 18 EUR.