Wenn das Wasser schwindet
Die Türkei gefährdet mit ihrer Staudammpolitik die Selbstverwaltung in Rojava – und entzieht den Menschen ihre Lebensgrundlage
Von Lukas Spelkus
Als Anfang Juni der Kachowka-Staudamm mutmaßlich von Russland gesprengt wurde, um ukrainische Gebiete zu überfluten, beherrschte plötzlich ein Thema die Öffentlichkeit, das alles andere als neu ist: Wasser als Waffe in Kriegen. Bereits im Ersten und Zweiten Weltkrieg wurde Wasser genutzt, um feindliche Gebiete zu überfluten, und in Syrien und im Irak kontrollierte der sogenannte Islamische Staat (IS) während seiner Herrschaft fast alle großen Staudämme der beiden Länder und setzte die Macht über das Wasser als Waffe gegen die Bevölkerung ein. Wasser kann also eine mächtige Waffe sein, und seine (militärische) Kontrolle ist je nach Kontext vergleichsweise einfach. Das zeigt sich auch in Nord- und Ostsyrien.
Dort setzt die Türkei Wasser als Instrument in ihrem Kampf gegen die Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES/Rojava) ein. Hier liegt der Ursprung der Kontrolle über das Wasser bereits Jahrzehnte zurück und wurde als Südostanatolien-Projekt (türksich Güneydogu Anadolu Projesi, GAP) bekannt. Gestartet wurde es in den 1980er Jahren, um mit einem Netz an Staudämmen die Kontrolle über die in der Türkei entspringenden Flüsse Euphrat und Tigris zu erlangen. Der Euphrat fließt von der Türkei über Syrien in den Irak; der Tigris von der Türkei über den Irak bis in den Iran. Insgesamt wurden 22 Staudämme und 19 Wasserkraftwerke auf türkischem Territorium errichtet, die heute zur politischen Machtausübung in einem militärischen Konflikt genutzt werden.
In einem Protokoll von 1987 hat die Türkei versichert, durchschnittlich mehr als die Hälfte des durch den Euphrat fließenden Wassers – ungefähr 950 Kubikmeter pro Sekunde – nach Syrien durchzulassen. Daran hat sie sich auch noch bis in die 2000er Jahre gehalten, wie etwa ein Papier des Wissenschaftlichen Dienstes der Bundesregierung namens »Wasser und Frieden« aus dem Jahr 2008 zeigt. In diesem wird der Konflikt um das Wassser bereits thematisiert, jedoch auf zwischenstaatlicher Ebene zwischen dem syrischen und türkischen Nationalstaat.
Das ist ein entscheidender Punkt. Denn völkerrechtlich ist AANES eine de facto Autonomieregion innerhalb des syrischen Staatsgebietes, und es fehlt der Selbstverwaltung an Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft. Zum Problem wird das, weil heute die von der Türkei durchgelassene Wassermenge sukzessive reduziert wird, wie Vertreter*innen der Wasserbehörde von Nord- und Ostsyrien beklagen. Die Selbstverwaltung hat aber keinerlei rechtliche oder juristische Mittel in der Hand, um gegen die Türkei vor internationalen Gerichten zu klagen.
Dass das Wasser aus der Türkei weniger wird, beobachtet auch Şermin Güven, Kultur- und Sozialanthropologin an der FU Berlin. Seit 2018 würden nur noch ungefähr 200 Kubikmeter Wasser nach Syrien durch den Euphrat kommen – weniger als die Hälfte der ursprünglich vereinbarten Menge (FR, 15.9.2023). Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch Human Rights Watch, die sich auf einen Bericht des UN-Hochkommissariats für humanitäre Angelegenheiten (OCHA) vom Juli 2020 beruft. Demnach wurde die von der Türkei vereinbarte Wassermenge von 500 Kubikmetern pro Sekunde für Syrien um 65 Prozent reduziert.
Grünflächen werden immer kleiner
Die Auswirkungen sind in ganz Nord- und Ostsyrien zu spüren und lassen sich sogar aus der Luft beobachten. Mit Timelapse in Google Earth können Satellitenbilder im Zeitverlauf dargestellt werden. Analysiert man diese Bilder im Zeitraffer, lässt sich erkennen, dass die Flüsse und Stauseen sowie umliegende Grünflächen immer kleiner werden. Das bestätigen auch die Bilder vom Syrian Observatory for Human rights (SOHR). SOHR ist eine in Großbritannien ansässige Menschenrechtsorganisation, die unter anderem die Wasserkrise in Nord- und Ostsyrien dokumentiert.
Sogar ein Blick in Google Maps gibt Aufschluss: Entlang des Grenzverlaufs im Norden von AANES zur Türkei lassen sich auf türkischer Seite teils kilometerbreite Grünflächen erkennen, die zur Landwirtschaft verwendet werden. Auf Seiten der Selbstverwaltung hingegen ist alles kahl, obwohl die Gebiete nur wenige hundert Meter trennen. Der Grund: Die Türkei entzieht der Selbstverwaltung durch Pumpen das Grundwasser, wie es der Journalist Christopher Wimmer in seinem Buch »Land der Utopie? Alltag in Rojava« beschreibt.
Weil Stauseen mit immer weniger Wasser gefüllt sind, können Wasserkraftwerke nicht mehr ausreichend betrieben werden.
Die Wasserknappheit führt zusammen mit den natürlichen, klimatischen Bedingungen der Region zu einer humanitären Notlage. Menschen sind vielerorts auf Wasserlieferungen aus umfunktionierten Tankwagen angewiesen. Das Ökosystem des Euphrat ist an seiner Belastungsgrenze: Das Wasser ist dreckig und riecht schlecht. Die Wasseraufarbeitung durch Anlagen ist quasi nicht mehr möglich, weil diese in der Vergangenheit von der Türkei zerbombt wurden. Menschen, die das Wasser dennoch nutzen, werden oftmals krank. Bis zum Jahr 2023 meldete die Gesundheitsbehörde der Selbstverwaltung 73.000 Verdachtsfälle von Cholera. Angesichts der derzeitigen medizinischen Versorgungslage können diese tödlich verlaufen.
Fischerei ist kaum noch möglich, Bäuer*innen können ihre Felder nur noch sehr begrenzt bestellen. Seit Jahren geht die Saat von Weizen oder Getreide vielerorts nicht mehr auf, die Ernten werden schlechter. Auch Nutztiere können nur noch selten gehalten werden, weil sie durch das Wasser ebenfalls erkranken. Die Kosten für die Landwirtschaft in ganz Syrien sind über die letzten Jahre um fast das Doppelte gestiegen. Die Türkei verhindert somit die Ernährungssouveränität der Menschen.
Hinzu kommt: Weil die Stauseen mit immer weniger Wasser gefüllt sind, können Wasserkraftwerke nicht mehr ausreichend betrieben werden. Pro Tag gibt es nur wenige Stunden Strom. Stattdessen setzen die Menschen – insofern sie es sich leisten können – auf umweltschädliche Dieselgeneratoren, um ihr tägliches Leben zu bewältigen.
Türkische Milizen blockieren die Versorgung
Nach der Besetzung der Stadt Serê Kaniyê (Ras Al-Ayn) im Jahr 2019 kontrolliert die Türkei bzw. ihr nahestehende Milizen das Wasserwerk Allouk. Dieses hatte in der Vergangenheit die Region Heseke mit frischem Wasser versorgt. Auch das ist heute nicht mehr möglich. Über die letzten Jahre wurde die Wasserversorgung durch die Milizen immer wieder blockiert, außerdem ist das Werk durch entstandene technische Mängel kaum noch einsatzfähig. Die Selbstverwaltung bemüht sich nun um eine Alternative. Für gut eine Million Menschen in der Region Heseke soll durch ein neues Wasserversorgungsprojekt südlich von Amude Wasser gepumpt werden. Die Kosten belaufen sich nach Angaben der regionalen Wasserbehörde vom August auf rund 18 Millionen US-Dollar – viel Geld für eine Gesellschaft, die unter einem internationalen Embargo und einer wirtschaftlichen Rezession leidet.
Anfang Oktober hat die Türkei ihre militärischen Angriffe auf zivile Ziele und Infrastruktur in Nord- und Ostsyrien intensiviert. Dadurch verschärft sich die Wasserkrise noch weiter, da unter anderem Staudämme und Wasserversorgungsanlagen getroffen wurden. Diese waren zum Teil ohnehin schon beschädigt, weil sie bei der Rückeroberung vom IS durch die Syrian Democratic Forces (SDF) Schäden erlitten hatten, die wegen fehlender finanzieller und technischer Unterstützung nur sporadisch repariert werden konnten.
Oft ist von einem Krieg der Türkei gegen Rojava die Rede. Doch es ist kein Krieg wie jeder andere. Vielmehr handelt es sich um einen Konflikt, der entgegen jeglichem Völkerrecht und mit sehr ungleichen Mitteln geführt wird. Die Türkei braucht keinen militärischen Sieg über die Selbstverwaltung. Es reicht, ihr die Lebensgrundlage und die Perspektive zu entziehen. Eines ist dabei sicher: Konsequenzen der sogenannten internationalen Gemeinschaft braucht Erdoğan für sein Vorgehen nicht zu fürchten.