Eskalation der Entmenschlichung
Nach den Angriffen auf Israel gilt es, alle Kräfte gegen eine Ausweitung des Krieges zu sammeln
Von Tsafrir Cohen
Der Einmarsch der Hamas und deren Angriffe auf Städte und Kibbuzim im Süden Israels, die zum Ziel hatten, grauenhafte Tatsachen und unauslöschliche Bilder zu schaffen, ist eine Zäsur im israelisch-palästinensischen Konflikt. Die politische Tragweite der Geschehnisse lässt sich noch immer kaum ermessen.
Der 7. Oktober ist schon jetzt ein historischer Tag der Erschütterung der Sicherheit des israelischen Staates und seiner Bevölkerung. Er wird sich im kollektiven Gedächtnis einbrennen und alle Ängste, die von Generation zu Generation aufgrund der jahrhundertelangen Ausschluss- und Auslöschungserfahrung von Jüdinnen und Juden weitergegeben wurden, neu nähren. Das zionistische Sicherheitsversprechen ist seit diesem Tag beispiellos erschüttert, wenn nicht sogar Geschichte geworden. Und auch die Situation der Palästinenser*innen hat einen nie gekannten Grad an Ausweglosigkeit erreicht. Die Eskalation der Gewalt beschleunigt die gegenseitige Entmenschlichung.
Die militärische Antwort der israelischen Armee ist bekannt: Ein Bombenregen geht auf die Bevölkerung Gazas nieder, die eingeschlossen ist und derzeit eine Strom- und Wasserblockade durchleidet. Schon jetzt ist klar, dass die Bewohner*innen des dichtbesiedelten Streifens einen fürchterlichen Preis bezahlen werden. Noch ist eine Regionalisierung des Konflikts nicht auszuschließen. Bei allem Entsetzen über die brutalen Angriffe der Hamas auf Zivilist*innen, geht es deshalb darum, auf allen Ebenen und überall Kräfte gegen die gegenwärtige Eskalation zu sammeln.
Ohne ein Recht auf Rechte für alle Menschen in Israel und Palästina wird es kein Ende der Gewalt und damit keine Sicherheit für Israelis wie Palästinenser*innen geben.
Damit das politisch gelingen kann, müssen wir aber auch zur Kenntnis nehmen, dass der 7. Oktober zwar eine Zäsur darstellt, dass jedoch die gewaltvollen Auseinandersetzungen in der Region nicht an diesem Tag begonnen haben. Gerade in Deutschland ist das wichtig, weil in den letzten Jahren fast alle Erwähnungen der seit 16 Jahren andauernden israelischen Blockade Gazas, der Perspektivlosigkeit und der israelischen Übergriffe in der Westbank mit dem Hinweis auf israelische Sicherheitsinteressen verharmlost oder ignoriert wurden. Palästinenser*innen, von denen Hunderttausende hier in Deutschland leben, hatten kaum öffentliche Räume, in denen ihre Erfahrungen wahrgenommen wurden. Die totale Perspektivlosigkeit, die auf Ewigkeit angelegte Kontrolle und übermächtige Herrschaft Israels über zwei Millionen Menschen im Gaza-Streifen sowie auch in der Westbank ist die Grunderfahrung der Menschen dort. Auch ihren friedlichen Initiativen begegnete man hier nicht mit Wohlwollen, sondern mit Gleichgültigkeit und Rassismus.
Das Massaker der Hamas wird die israelische Belagerung Gazas nicht aufheben, sondern zu noch größerer Grausamkeit der Belagerer*innen führen. Aber es hat auch deutlich gemacht, dass die israelische Strategie nicht aufrechtzuerhalten ist, über militärische Dominanz und die Vorenthaltung von Menschenrechten die israelische Sicherheit herzustellen.
Seit der zweiten Intifada und insbesondere unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wurde die Mär verbreitet, statt eines gerechten Friedens – bei dem notwendigerweise ein lebensfähiger Palästinenserstaat neben Israel entstünde oder aber ein binationaler Staat – könnte man die Palästinenser*innen in Enklaven einhegen und abriegeln. Sie klammerte sich an die Illusion, dass Strukturen der permanenten Herrschaft den Israelis Sicherheit bieten und dies noch mit dem Anspruch auf Demokratie vereinbar bleiben könnte.
Es gibt nur eine Alternative: den Kreislauf zu durchbrechen. Dazu gehört das Ende der aktuellen Eskalation. Ihr folgen muss eine politische Lösung statt einer militärischen. Denn ohne ein Recht auf Rechte für alle Menschen in Israel und Palästina, in welchen staatlichen Formen auch immer, wird es kein Ende der Gewalt und damit auch keine Sicherheit für Israelis wie Palästinenser*innen geben. Das galt vor dem 7. Oktober, und das gilt auch danach.