In der Falle
Trotz Waffenruhe bleibt die Lage in der syrischen Provinz Idlib weiter angespannt
Von Harald Etzbach
In der Proinz Idlib und dem Nordteil der Provinz Hama führt das syrische Regime und Russland eine Offensive gegen das letzte von der Opposition gehaltene Gebiet. Nach UN-Angaben starben zwischen dem 29. April und dem 29. August dieses Jahres 1089 Menschen, darunter 304 Kinder. Die meisten – 1.031 Menschen- sind Opfer der Angriffe und Bombardierungen der Regierungstruppen und ihrer Verbündeten.Die Zahlen lassen sich ergänzen: Von den drei Millionen Einwohnern der Provinz besteht die Hälfte aus Binnenflüchtlingen, die aus anderen Teilen Syriens hierher vertrieben wurden. Allein seit April haben nach unterschiedlichen Schätzungen etwa 400.000 bis 600.000 Menschen in Idlib Schutz gesucht. Viele von ihnen sind nun erneut gezwungen zu fliehen. Allein seit Anfang August sind 70.000 Menschen von den Angriffen vertrieben worden, heißt es in einer Erklärung des örtlichen Gesundheitsdirektorats Idlib und der Hilfsorganisation Syrian American Medical Society (SAMS).
Zerstörung der Infrastruktur
Besonders betroffen sind Frauen und Kinder, die etwa zwei Drittel der Flüchtlinge in Idlib ausmachen. Die Hälfte der Kinder erhält keinerlei schulische Ausbildung, nicht zuletzt, weil Schulen und Kindergärten zu den bevorzugten Zielen der Angriffe durch syrische Regimetruppen und ihre russischen Verbündeten gehören. Nach Angaben von Save the Children wurden seit Beginn der Kampfhandlungen 87 Schulen und Kindergärten zerstört, Hunderte zum Teil schwer beschädigt.
Eine weitere Zielscheibe sind Krankenhäuser und medizinische Versorgungsstationen. Die Union of Medical Care and Relief Organization (UOSSM), eine unabhängige medizinische Hilfsorganisation, berichtet von insgesamt 48 Angriffen auf medizinische Einrichtungen seit April. Zuletzt traf es Ende August ein Krankenhaus für Pädiatrie und Geburtshilfe in der Kleinstadt Marat al-Numan im Südosten der Provinz.
Mit der Bombardierung der Infrastruktur und insbesondere medizinischer Versorgungseinrichtungen wiederholt das syrische Regime eine Taktik, die es auch zuvor bei Belagerungen von Gebieten der Opposition angewandt hat. Die Logik dahinter ist perfide: Wenn Kranke nicht mehr behandelt und Verletzte nicht mehr versorgt werden können, bleibt nur noch die Möglichkeit, sich dem Regime zu ergeben. Doch diesmal ist etwas anders: Konnten Oppositionskämpferinnen und zivile Regimegegnerinnen zuvor noch mit den berüchtigten grünen Bussen in Oppositionsgebiete (zumeist nach Idlib) evakuiert werden, so gibt es diese Option nun nicht mehr. Idlib ist eine Falle: Im Süden, Osten und Westen stehen Regimetruppen und russisches Militär, im Norden hat die Türkei einen Grenzzaun errichtet, an dem auf flüchtende Syrer*innen geschossen wird.
Marsch an die Grenze
Umso bewundernswerter ist es, dass die Menschen in Idlib auch nach monatelanger – und fast täglicher – Bombardierung immer noch auf die Straße gehen, um für ihre Rechte einzutreten. Bereits Ende Mai fand ein erster Marsch in Richtung der türkischen Grenze statt, bei dem eine Öffnung der Grenzanlagen gefordert wurde. Ende August gab es einen zweiten Marsch zum Grenzort Bab al-Hawa, der allerdings ebenso wie der erste von den internationalen Medien weitgehend unbeachtet blieb. Diesmal gelang es den mehreren Hundert Teilnehmerinnen teilweise sogar, die türkischen Grenzbefestigungen zu überwinden. Die türkische Armee setzte Tränengas gegen die Demonstrantinnen ein und drängte sie zurück auf syrisches Territorium. Ein Demonstrant soll dabei getötet worden sein, zahlreiche Menschen wurden verletzt.
Die Waffenruhe gehört wohl zu den Vereinbarungen, die vor kurzem bei einem Besuch des türkischen Präsidenten Erdogan bei seinem russischen Amtskollegen Putin getroffen wurden. Ob sie halten wird, ist allerdings mehr als fraglich.
Auch an anderen Orten der Provinz wurde demonstriert. So nutzen die Einwohner*innen von Saraqib die Ende August von Russland verkündete Waffenruhe, um nicht nur gegen die Bombardierungen und Artillerieangriffe durch das Assadregime und seine Verbündeten zu protestieren, sondern auch gegen Übergriffe der dschihadistischen Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS), einer Nachfolgeorganisation der Nusra-Front. Die Waffenruhe gehört wohl zu den Vereinbarungen, die vor kurzem bei einem Besuch des türkischen Präsidenten Erdogan bei seinem russischen Amtskollegen Putin getroffen wurden. Ob sie halten wird, ist allerdings mehr als fraglich. Nicht nur, weil sich Truppen des Assadregimes nicht daran gebunden fühlen und immer wieder Artillerieangriffe starten, sondern auch, weil Russland und die Türkei als Garantiemächte der sogenannten Deeskalationszone in Idlib letztlich grundlegend unterschiedliche Strategien verfolgen.
So hat die Türkei ein genuines Interesse an einer Beruhigung der Lage in Idlib, da weitere syrische Flüchtlinge aus innenpolitischen und ökonomischen Gründen nicht gewollt sind und um den Rücken frei zu haben für den Kampf gegen die kurdischen YPG-Milizen im Nordosten. Für Russland hingegen ist klar, dass Idlib genau wie die anderen vor zwei Jahren vereinbarten Deeskalationszonen (Ostghouta, Südsyrien, Nord-Homs) letztlich wieder an das Assadregime zurückfallen soll. Speziell im Falle Idlibs kommt hinzu, dass Russland wohl kaum die Existenz einer oppositionellen Enklave in vergleichsweise großer Nähe zu seinem Militärstützpunkt in Tartus in der Provinz Latakia zulassen wird.
Erdogans zynisches Spiel
In dieses Bild passen auch Erdogans neueste Äußerungen zur Flüchtlingsfrage. Die Türkei, so erklärte er, werde in Nordsyrien eine Million Geflüchteter entlang einer Pufferzone an der türkischen Grenze ansiedeln, außerdem könne sie die Route für Migrant*innen nach Europa wieder öffnen, wenn sie keine angemessene internationale Unterstützung für den Plan erhalte.
Die Drohungen in Richtung Europa werden ergänzt durch repressive Maßnahmen gegen Flüchtlinge im Inneren: Im vergangenen Monat ergriff die türkische Polizei in Istanbul Maßnahmen gegen Migrant*innen und Flüchtlinge ohne Papiere. Formal haben syrische Flüchtlinge mit vorübergehendem Schutzstatus, die in anderen türkischen Distrikten registriert sind, bis Ende Oktober Zeit, Istanbul zu verlassen. Flüchtlinge ohne Papiere hingegen sollen zur Registrierung in temporäre Flüchtlingslager überführt werden.
Nach Angaben von Flüchtlingsorganisationen führte dies in der Praxis jedoch zu einer Welle willkürlicher Verhaftungen und erzwungener Abschiebungen. Über 2.000 Menschen sollen dabei nach Idlib geschickt worden sein. Zudem gibt es Berichte, wonach syrische Flüchtlinge mit massiven Drohungen dazu gebracht wurden, eine »freiwillige« Rückkehr zu beantragen.
Erdogans zynisches Spiel mit Menschenleben darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die Europäische Union aufgrund des Flüchtlingsdeals mit der Türkei vom März 2016 ein hohes Maß an Mitverantwortung für die jetzige Situation trägt. Dieses Abkommen sollte den Großteil des Flüchtlingszustroms nach Europa stoppen. Als Gegenleistung sicherte die EU der Türkei ein Hilfspaket in Höhe von sechs Milliarden Euro – verteilt über sechs Jahre – und verschiedene politische Nettigkeiten wie die baldige Aufhebung der Visumspflicht für türkische Staatsbürgerinnen oder die Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen zu. Die Befürworterinnen des Deals erklärten die Türkei zum »sicheren Drittland«, das sich selbstverständlich an den völkerrechtlichen Grundsatz der Nichtzurückweisung von Flüchtlingen in Kriegsgebiete halten werde.
Mit der Auslagerung des »Flüchtlingsproblems« in die Türkei schien für die EU das Thema zunächst einmal erledigt zu sein, Europa schloss seine Türen, und die Zahl der syrischen Flüchtlinge in der Türkei stieg von 2,7 Millionen im März 2016 auf mehr als 3,6 Millionen aktuell. Wie fragil dieser Zustand war, wurde deutlich, als die Türkei im Jahr 2018 zunehmend in eine Rezession rutschte und viele Türkinnen begannen, die syrischen Flüchtlinge im Land als Konkurrenz zu betrachten, die zudem staatlich in besonderem Maße gefördert werde. Eine Umfrage vom Juni dieses Jahres ergab, dass 67,7 Prozent der Türkinnen der Anwesenheit syrischer Flüchtlinge ablehnend gegenüberstehen (gegenüber 54,5 Prozent im Jahr 2017).
Den bedrängten Menschen in Idlib bleibt trotzdem keine andere Wahl, als ihren mutigen und verzweifelten Kampf fortzusetzen. In der nächsten Zeit sollen weitere Aktionen entlang des türkischen Grenzzauns stattfinden. Wie so oft im Falle Syriens stellt sich aber auch hier erneut die Frage, warum dieser Kampf beinahe keine internationale Solidarität erfährt.