Südafrikanisches Erbe
Eine Rückkehr zu den Ursprüngen des Begriffs des »racial capitalism« hilft, ihn heute neu zu konzipieren
Von Robert Heinze
Geschichte und Gegenwart kolonialer Strukturen haben auch in Deutschland zu einer Hochkonjunktur der Frage geführt, wie Kapitalismus und Rassismus zusammenhängen. Diese Frage wird politisch und akademisch gestellt. Zuletzt wurde die Debatte durch das Buch »Die Diversität der Ausbeutung« von Eleonora Roldán Mendívil und Bafta Sarbo (vgl. ak 686) befeuert. Nicht nur in dem vielbeachteten Sammelband beziehen sich viele Autor*innen dabei auf das in der englischsprachigen Sozialwissenschaft beliebte Konzept des »racial capitalism«.
Cedric J. Robinson machte den Begriff mit seiner 1983 erschienenen Studie »Black Marxism« bekannt. Die deutschsprachige Debatte bezieht sich vor allem auf seine These, dass »racial capitalism« die feudalen Strukturen überwinden konnte, indem Teile von ihnen im Rassismus erhalten blieben.
Die Diskussion über Rassismus und Kapitalismus begann aber schon früher in Südafrika, wo eine Gruppe marxistischer Aktivist*innen und Akademiker*innen in den 1970er Jahren versuchte, die Besonderheiten der Apartheid-Gesellschaft zu erklären. Warum blieb eine per Verfassung rassistische Gesellschaft trotz aller lokalen und globalen Umbrüche stabil? Zu ihnen gehörte auch Neville Alexander, einer der wichtigsten Intellektuellen des Landes. Außerhalb Südafrikas war er damals wenig bekannt; jetzt aber sind seine Aufsätze gerade in einem neuen Sammelband erschienen.
Obwohl die Gruppe »National Liberation Front« (NLF), die er mitgegründet hatte, aus Studierenden bestand und sich auf intellektuelle Arbeit konzentrierte, wurde sie vom Apartheidstaat als so gefährlich erachtet, dass die meisten Mitglieder in der Folge des berüchtigten Rivonia-Prozesses um Nelson Mandela und andere Mitglieder des bewaffneten Arms des ANC ebenfalls verhaftet und auf Robben Island inhaftiert wurden. Nach seiner Entlassung 1974 blieb Alexander aber auf Distanz zum ANC und verortete sich politisch bei den Panafrikanist*innen und bei dem »Black Consciousness Movement« um Steve Biko. Nach dem Ende der Apartheid, 1994, ging Alexander mit Mandela hart ins Gericht, weil dieser die wirtschaftlichen Verhältnisse, die vor allem auf rassistischer Ungleichheit aufbauten, unangetastet ließ.
Warum blieb eine per Verfassung rassistische Gesellschaft trotz aller lokalen und globalen Umbrüche stabil?
Aktuell wird das Konzept des »racial capitalism« als Analyseinstrument genutzt, um zu zeigen, wie Rassismus (Über-)Ausbeutung strukturiert und prägt. »Klassische«, vor allem marxistische Theorien, so die Kritik, blendeten das aus. Es geht also nicht mehr um die spezifische Form des Kapitalismus in Südafrika während der Apartheid, sondern um den globalen Kapitalismus als Ganzes. Kritiker*innen werfen dem Konzept dagegen vor, dass es den Rassismus als dem Kapitalismus notwendig innewohnend beschreibt und damit die historische Wandlungsfähigkeit des Rassismus ausblende. Sie stellen aber auch die Notwendigkeit von Rassismus für das Ausbeutungsverhältnis an sich in Frage. Es bleibe unklar, schreibt ein Kritiker, was das Konzept besser erklärt als existierende Theorien zu Rassismus und Kapitalismus. Eine Rückkehr zur Entstehung des Konzepts in Südafrika kann helfen, diese Spannungen produktiv zu lösen.
Alexander sprach nämlich nicht von »racial capitalism«, um Rassismus und Kapitalismus theoretisch untrennbar zu verknüpfen, sondern um zu zeigen, dass eine rein auf die Überwindung rassistischer Diskriminierung ausgerichtete Politik nicht ausreichen würde, um die in Südafrika während und nach der Apartheid bestehenden Ungleichheiten zu bekämpfen. »Race« und Klasse sind nach Alexander so eng miteinander verflochten, dass nur ein Bewusstsein für die Klassengrundlage des Rassismus und eine daran ausgerichtete antikapitalistische Politik diese Ungleichheiten bekämpfen könne.
In seinem Aufsatz »One Azania, One Nation« (1979) erklärt er, in einem Land wie Südafrika, in dem die sozialen Verhältnisse über Generationen hinweg als »race«-Verhältnisse beschrieben worden seien, sei es notwendig, »zu einer konkreten Beschreibung des Charakters dieser Beziehungen, d.h. der tatsächlichen (sozioökonomischen) Grundlage der sozialen Ungleichheit und der realen (ideologischen) Formen, in denen sie zum Ausdruck kommt«, zu gelangen. Ein ernst zu nehmender Antirassismus, schreibt er in einem anderen Text, müsse aber andersherum auch immer gegen die kapitalistischen Strukturen gerichtet sein. Auch nach der Demokratisierung 1994 hielt Alexander daran fest, dass die Grundlagen des »racial capitalism« weiterhin bestanden, und er kritisierte den regierenden ANC scharf dafür, diese tiefer liegenden Strukturen nicht anzugreifen.
Obwohl Alexander – aus naheliegenden Gründen – sich in der Analyse auf Südafrika konzentrierte, wollte er explizit das Apartheid-System nur als einen spezifischen soziopolitischen Ausdruck des »racial capitalism« verstanden wissen. Noch bevor Robinson das Konzept global ausweitete, versuchte der britische Soziologe Stuart Hall, die Analysen aus Südafrika als Grundlage für ein tiefer gehendes Verständnis von Rassismus und Kapitalismus zu nutzen. Hall schlug vor, nicht in ein neues Denken in Hauptwidersprüchen zu verfallen; Rassismus sei vielmehr »der ›Aufbruch‹, der ›Riss‹, die Verdichtung verschiedener Widersprüche, die alle ihre eigene Geschichte und Periodisierung haben.« Hall geht bei Rassismus von einer historischen Dominanz in bestimmten Epochen aus, ohne einen neuen Hauptwiderspruch zu suchen. Alexanders Arbeiten können uns helfen, die Engführung der Debatte um »racial capitalism« zu verlassen. Seine Theorie hat sich aus einem historisch konkreten Kampf entwickelt. Seine Kritik daran, wie die Apartheid abgewickelt wurde: ein Ende der rassistischen Gesetze, aber keine Ende der Ungleichheit, könnten der Debatten neue Impulse geben.
Neville Alexander: Against Racial Capitalism: Selected Writings. Pluto Press, London 2023. 328 Seiten, 26,99 EUR.