Das Jahr, in dem Sowjetdeutschland hätte entstehen sollen
Aufgeblättert: »Die deutsche Revolution« von Pierre Broué
Von Nelli Tügel
Vor 100 Jahren scheiterte der Deutsche Oktober. Nicht nur Sowjetdeutschland rückte in weite Ferne, sondern auch das, was seit 1917 die Strategie der Kommunistischen Internationale gewesen war: die Weltrevolution. Die Folgen waren weitreichend: In der UdSSR beschleunigte sich unter dem Eindruck von Isolation und Demoralisierung die Stalinisierung. Eingeklemmt zwischen Thälmann-Kult, der bürgerlichen Erzählung, die Weimarer Republik sei von »den Rändern« bedroht gewesen, und der späteren Behauptung Heinrich Brandlers und August Thalheimers (1923 KPD-Vorsitzender und -Cheftheoretiker), 1923 sei quasi nix gewesen, konnte sich keine differenzierte linke Beschäftigung mit der Niederlage der Revolution in Deutschland etablieren – zumindest nicht hierzulande.
Das liegt auch daran, dass die trotzkistische Geschichtsschreibung stets marginalisiert blieb – anders als im französisch- und englischsprachigen Raum. Eines ihrer Standardwerke zu Deutschland, »Révolution en Allemagne 1917–1923«, aus der Feder von Pierre Broué erschien vor mehr als 50 Jahren und vor 20 Jahren in der englischen Übersetzung. Nun wird es – endlich! – in zwei Teilen vollständig auf Deutsch präsentiert (eine vergriffene deutsche Ausgabe aus den 70er Jahren enthielt nur einen Bruchteil des Originals). Der erste Teil reicht von 1918 bis zur Märzaktion 1921 und erschien im April. Der zweite Teil, in dem Broué u.a. 1923 aufarbeitet, wird im November in den Handel kommen. Das Erscheinen ist eine riesige Chance, die linke Geschichte von 1923 neu zu entdecken.
Pierre Broué: Die deutsche Revolution (1917–1923), übersetzt von Wolfram Klein. Manifest Verlag, Berlin 2023. 1100 Seiten, 59,90 EUR.