»Nie war die Hoffnung so groß wie jetzt«
Ein Jahr Widerstand gegen staatliche Gewalt und gesellschaftliche Unterdrückung in Iran
Von Mina Khani
Kurz vor dem Jahrestag der »Frau, Leben, Freiheit«-Bewegung (Jin, Jiyan, Azadî) habe ich mit vielen Menschen in Iran gesprochen, um mehr über die politische Lage zu erfahren. Ich hörte, wie hoffnungsvoll die Menschen sind – und das trotz der brutalen Gewalt, die während der harten Niederschlagung der Bewegung in Iran zu sehen und spüren war. Im Zuge der Revolution »Frau, Leben, Freiheit« hat der iranische Staat im Jahr 2023 doppelt so viele Menschen hingerichtet wie im Jahr zuvor. Hunderte Menschen wurden auf der Straße ermordet, darunter mehr als 50 Jugendliche und mehrere Kinder.
Mehr als 20.000 Menschen wurden während der Aufstände festgenommen, es gibt Berichte über schwere Folter und schlechte Haftbedingungen. Trotzdem ist nur ein Bruchteil der Verhaftungen bekannt. Als ich für meine Berichte in deutschen Medien und für meine Arbeit im farsisprachigen Raum mit den Menschen in Iran sprach, wiederholten fast alle den Satz: »Nie war die Hoffnung so groß wie jetzt.« Ich war erstaunt darüber: Warum? Woher nehmen sie die Kraft, trotz der Repressionen weiterzumachen?
»Was macht ihr eigentlich da?«
Eine meiner Quellen erklärte mir: »Mina, was bleibt uns noch anderes als die Hoffnung? Sonst haben sie uns alles genommen, was wir hatten«. Vielleicht ist genau das mit dem berühmten deutschen Sprichwort »Die Hoffnung stirbt zuletzt« gemeint.
Eine andere Person erzählte mir: »Ach, Mina weißt du was? Euch draußen geht es seelisch schlimmer als uns drinnen. Weil ihr nur noch über die Repressionen des Staates berichtet, um sie zu stoppen. Aber ihr seid nicht da, um die gesellschaftlichen Veränderungen zu erleben. Es hat sich innerhalb eines Jahres so viel verändert, und auch deshalb nennen wir es Revolution, während ihr vielleicht denkt, dass es vorbei ist.«
Wer die Frau-Leben-Freiheit-Bewegung in Iran beobachtet, erkennt, dass Frauen, Jugendliche und Minderheiten wie Kurd*innen und Belutsch*innen die treibenden Kräfte sind.
Ein Freund erzählte mir: »In Teheran gibt es bereits Hubschraubereinsätze, die sie anscheinend für den Jahrestag des Mordes an Jina Mahsa Amini einsetzen. Denkst du, das bedeutet, dass ich nicht rausgehe? Ich gehe raus, koste es, was es wolle. Ich gehe raus, weil noch Menschen da sein werden, die kämpfen, und das heißt, dass die Revolution noch am Leben ist. Wir geben nicht auf, weil diese Gelegenheit eine einzigartige ist. Aber Mina, sag es der Welt, sie haben vor, es im Keim zu ersticken. Sie haben vor, uns zu schlachten. Will die Welt noch mal zusehen, wie ›mutig‹ wir sind und dass wir noch rausgehen? Ich glaube, wir liefern diese Bilder auch dieses Mal. Aber es muss sich etwas in der Diaspora und in der Welt verändern. Was macht ihr eigentlich da?«
Kurz vor dem Jahrestag der Jina-Bewegung ist sehr deutlich zu beobachten, dass der Staat nicht nur versucht, die Proteste zu unterdrücken und durch massive präventive Verhaftungen von Familienangehörigen der Ermordeten und Aktivist*innen einzuschüchtern, sondern dass der iranische Staat mit allen Mitteln, auch mit einer großen Cyber-Armee, versucht, die Revolution »Frau, Leben, Freiheit« diskursiv zu unterdrücken. Der Grund ist klar: Erstens ist die »Frau, Leben, Freiheit«-Bewegung nicht nur eine Bewegung gegen den Staat, sondern eine Bewegung gegen die vorhandenen patriarchalen Strukturen innerhalb der Gesellschaft. Zweitens ist die Bewegung nicht nur eine Bewegung gegen das Patriarchat innerhalb der Gesellschaft und gegen den Staat, sondern auch gegen das tiefsitzende, patriarchale und nationalistische Denken innerhalb der iranischen Opposition.
Ein großer Anteil der iranischen Gesellschaft innerhalb und außerhalb des Iran will die Mullahs loswerden. Aber wer will das Patriachat abschaffen? Wer kommt damit klar, dass Frauen und queere Menschen innerhalb dieser Bewegung im Iran und außerhalb sichtbarer als je zuvor werden?
Wer will akzeptieren, dass links und progressiv in Iran jetzt unbedingt queer und feministisch sein muss, sonst ist man einfach rückständig. Auch in seinem Linkssein ist man rückständig, wenn man nur von einer Arbeiterklasse in Iran spricht, ohne zu betonen: Nur 18 Prozent der iranischen Frauen haben einen Job, obwohl mehr als die Hälfte der Student*innen in Iran Frauen sind. Wer die »Frau, Leben, Freiheit«-Bewegung in Iran und außerhalb beobachtet, erkennt, dass Frauen, Jugendliche und Minderheiten wie Kurd*innen und Belutsch*innen die treibenden Kräfte sind. Wer versuchte jedoch, die alte iranische Opposition zu repräsentieren? Alte rechtskonservative Männer, die nicht in der Lage waren, die gesellschaftliche Veränderung durch die Anwesenheit der ethnischen Minderheiten, insbesondere von Kurd*innen oder die Führungsrolle der Frauen, Queeren und Jugendlichen zu akzeptieren.
Es gibt eine Art iranisches Schamgefühl, das davon abhält, über diese Probleme laut zu sprechen. Sofort gilt man als spalterisch, gar separatistisch, vor allem wenn man in anderen Sprachen als Farsi davon erzählt. Auch in Iran gibt es eine rechtsradikale Opposition, die zutiefst rassistisch, misogyn und queerfeindlich ist.
Ich denke erneut über das nach, was mein Freund mich gefragt hat: »Mina, was macht ihr eigentlich da?«
Ein Jahr nach Beginn der »Frau-Leben-Freiheit«-Bewegung können wir eine gesellschaftliche Veränderung in Iran beobachten, die nicht nur den Staat als Feind hat, sondern ebenfalls Teile der Opposition.
Die feministische Revolution wurde nur kurz nach ihrem Beginn mit der Parole »Mann, Heimat, Entwicklung« vom Staatsapparat und von der Opposition angegriffen.
Wer sich mit der faschistischen Ideologie beschäftigt hat, weiß, dass die Parole »Mann, Heimat, Entwicklung« im Gegensatz zu »Frau, Leben, Freiheit« zutiefst patriarchal ist. Wer sich mit dem Faschismus auskennt, weiß, dass wer die Heimat dem Leben gegenüberstellt, ein zutiefst nationalistisches Denken einem emanzipatorischen Denken gegenübergestellt hat, und wer Mann und Heimat in Bezug zur »Entwicklung« des Landes bringt, spricht den Faschist*innen aus der Seele.
Wie überall auf der Welt haben Teile der Gesellschaft die Parole »Mann, Heimat, Entwicklung« gerufen, ohne zu wissen, wie menschenverachtend sie ist. Auch Musiker*innen haben den Slogan in ihren Werken verwendet, Sportler*innen, die in die rechte Szene der iranischen Opposition gegangen sind, weil sie dort besser aufgehoben schienen. Student*innen, dachten, wenn sie die Frau erwähnen, müssen sie unbedingt auch den Mann erwähnen, da sonst die männliche Fragilität nicht mehr weiß, wohin mit sich.
Doch es ist wesentlich zu wissen, wer diese Parolen und Diskurse verbreitet hat. Die Revolutionsgarde und Propagandamaschine des Mullah-Regimes auf der einen Seite und die iranischen Monarchist*innen auf der anderen Seite.
Reza Pahlavi und seine zutiefst rassistische Basis, die in der Diaspora sehr aktiv ist, haben versucht, aus der »Frau, Leben, Freiheit«-Revolution eine, wie sie selbst es nennen, »Nationale Revolution« zu machen. Reza Pahlavi selbst spielt eine äußerst problematische Rolle. Um die Diaspora von seiner Fortschrittlichkeit zu überzeugen, kapert der abgesetzte Kronprinz die Losung »Frau, Leben, Freiheit«, obwohl auch er in im farsisprachigen Raum »Mann, Heimat, Entwicklung« propagierte. In englischsprachigen Interviews betont er, dass die Bewegung in Kurdistan ihren Anfang genommen hat, und zwar vor allem in der Heimatstadt von Jina Mahsa Amini. Im farsisprachigen Raum attackierte er in einem Interview mit dem monarchistischen Fernseher Manoto die ethnischen Minderheiten als Separatist*innen. Vor allem die monarchistische Basis stört es, wenn man betont, dass die Bewegung sowohl diskursiv als auch organisatorisch in Kurdistan ihren Anfang nahm.
Zwischen Repression und Patriarchat
Jetzt, zum Jahrestag der Ermordung von Jina Mahsa Amini, sind viele Pahlavi-Anhänger*innen in den sozialen Netzwerken damit beschäftigt herzuleiten, weshalb es langsam mit der »Frau, Leben, Freiheit«-Parole reicht, und warum man jetzt andere nationale Diskurse braucht, um die Revolution voranzubringen. Über all dem sitzt noch die iranische Cyber-Armee und verbreitet im Namen der Monarchist*innen und der islamischen Republik genau dasselbe. Und darüber soll nicht berichtet und gesprochen werden, weil es spalterisch wirken könnte?
In der Realität geht die »Frau-Leben-Freiheit«-Revolution in Iran kräftig voran. Medi Yarrahi, ein bekannter iranischer Sänger, hat vor kurzem erneut einen Song veröffentlicht, in dem er das Abnehmen der Kopftücher besang. Er wiederholte darin die Parole »Frau Leben Freiheit« und wurde daraufhin festgenommen. Frauen aus dem Gefängnis schreiben Briefe und betonen die Wichtigkeit der Parole und dass sie darauf bestehen, sie zu nutzen. Jugendliche wiederholen das und erklären, dass dieser Slogan ihnen Kraft gegeben hat.
Die feministische Revolution in Iran hat es nicht gerade leicht, aber sie geht voran, weil es eben, wie mir diverse Menschen in Iran so oft in den letzten Tagen sagten, eine gesamtgesellschaftliche und politische Revolution ist. Und es bleibt revolutionär die Wahrheit und damit auch die bittere Wahrheit zu sagen: Die iranische Diaspora und die westlichen Beobachter*innen, die eine einheitliche Opposition fordern, sind nicht unschuldig an der Verlangsamung der Revolution.