Ein Land am Wendepunkt
Ecuador war einst das zweitsicherste Land Lateinamerikas, in wenigen Jahren ist es zum unsichersten Staat des Subkontinents avanciert – nun stehen Wahlen an
Von Knut Henkel
Der Malecón, die Promenade am Río Guayas, ist verwaist. Überall in Guayaquil, Ecuadors größter Stadt und ökonomische Drehscheibe des lateinamerikanischen Landes, ist die gedrückte Stimmung greifbar. Kaum ein Tag vergeht, an dem Besucher*innen der Drei-Millionen-Metropole mit ihrem großen Pazifikhafen, über den Bananen, etliche weitere Nahrungsmittel und Industrieprodukte in alle Welt verfrachtet werden, nicht gewarnt werden: von Taxifahrer*innen, in Hotels und Restaurants.
Guayaquil sei riskant. Diebstähle oder Express-Entführungen mit anschließender Fahrt zum Geldautomaten gehörten zum Alltag und die staatlichen Ordnungskräfte stünden der Welle der Gewalt hilflos gegenüber. Die konzentriert sich zwar auf die Armutsviertel, die die Stadt umgeben und wo die Drogenkartelle den Ton angeben, aber sicher sei selbst der Malecón nicht, wo private Wachschützer*innen und Polizeibeamt*innen Präsenz zeigen.
»Die Perspektiven sind düster«, urteilt der Arbeitsrechtsanwalt José Barahona und verweist auf die wiederkehrenden Aufstände und Massaker in den beiden großen Haftanstalten, El Litoral und Guayas I, die im Umfeld der Stadt liegen. »Mehr als 450 Menschen wurden in den letzten zwei, drei Jahren hinter Gittern ermordet. Dort, so sagen Expert*innen, werden auch Auftragsmorde von Killerkommandos koordiniert«, meint der Jurist. Eines der letzten dieser Kommandos galt dem Präsidentschaftskandidaten Fernando Villavicencio. Vieles deutet darauf hin, dass das tödliche Attentat auf ihn, förmlich eine Exekution mit drei Schüssen in den Kopf, auch hinter Gittern ausgeheckt worden war.
Macht der Kartelle
Sicher ist, dass Villavicencio vor seiner Ermordung am 9. August mindestens drei Morddrohungen erhalten und sie der Polizei gemeldet hatte. Warum der 59-jährige investigative Journalist derart liederlich geschützt wurde, dass das siebenköpfige Killerkommando relativ einfach an ihn rankam, fragt sich auch die Familie Villavicencio. Sie hat Anzeige gegen den Staat erstattet, gerade weil der Kandidat der Partei Movimiento Construye (Bewegung Baue!) von den Sicherheitsbehörden nicht ausreichend geschützt wurde. Die Frage, die im Raum steht, lautet: Steckt da noch etwas anderes dahinter?
Villavicencio war ein Unbequemer, der mit seinen investigativen Recherchen, vor allem über die Korruption im Erdölsektor, immer wieder für Aufsehen gesorgt und mit zahlreichen fundierten Anzeigen gegen Ex-Präsident Rafael Correa (2007-2017) und dessen Regierung dazu beigetragen hat, dass Correa in Abwesenheit zu acht Jahren Haft verurteilt wurde und im belgischen Exil lebt. Die letzte Anzeige hatte Villavicencio einen Tag vor seiner Ermordung bei der Staatsanwaltschaft gegen Correa und mehrere Ex-Minister gestellt. Er hatte ihnen vorgeworfen, durch die Neuvergabe von Förderlizenzen von Petroecuador an internationale Förderunternehmen dem ecuadorianischen Staat in den letzten Jahren rund neun Milliarden US-Dollar Kosten verursacht zu haben.
Daher war Villavicencio, der den Drogenkartellen, die in den letzten fünf Jahren an Macht und Einfluss gewonnen haben, den Kampf angesagt hatte, nicht nur für die organisierte Kriminalität, sondern auch für Teile des politischen Establishments ein Risiko. Haben die Sicherheitsbehörden den Präsidentschaftskandidaten bewusst im Stich gelassen, um das Attentat zu ermöglichen, ist eine Frage, die die Familie Villavicencio stellt.
Seit Jahresbeginn gab es 4.000 Morde in Ecuador, darunter 18 Anschläge auf Politiker*innen.
Ohnehin haben die Sicherheitsbehörden in Ecuador einen zunehmend schlechten Ruf. Die Tatsache, dass Drogenbosse wie Adolfo Macías alias Fito, Kartellchef der Los Choneros, aus dem Regionalgefängnis Guayas vor einigen Wochen eine Pressekonferenz geben konnte, in der er einen Pakt der Kartelle ankündigte, ist Beleg dafür. Besagter Fito, der als potentieller Auftraggeber für den Mord an Villavicencio gilt, wurde nach dem Mord in eine andere Haftanstalt verlegt.
Expert*innen wie Fernando Carrión von der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (Flacso) kritisieren seit Jahren, dass die Behörden die Kontrolle über die Haftanstalten verloren haben. Das hat Gründe: In Ecuador sei es mit der 2018 erfolgten Auflösung des Justizministeriums, der parallel erfolgten Auflösung des Sicherheitsministeriums und massiven Einsparungen bei den Sicherheits- und Strafvollzugsbehörden zu einer Schwächung der Institutionen gekommen, die den Vormarsch der organisierten Kriminalität erleichtert habe. Verantwortlich dafür sei eine neoliberale Sparpolitik der Regierungen von Lenín Moreno (2017-2021) und dem noch amtierenden Präsidenten Guillermo Lasso, für die der Schuldendienst an den IWF (Internationaler Währungsfonds) Priorität habe. Das habe zu einer Erosion des Sicherheitsapparats beigetragen. Hinzu kommt die omnipräsente Korruption, die auch vor Polizei, Justiz und Militär nicht Halt mache.
Stichwahl im Oktober
Erschwert wird die Situation durch eine beispiellose Inkompetenz des erzkonservativen und der Korruption verdächtigen Präsidenten Guillermo Lasso. Der habe den Sicherheitsapparat des Landes weiter destabilisiert, kritisiert Rechtsanwalt Barahona aus Guayaquil. »Wie kann es sein, dass bis Mitte Juli nur acht Prozent des Etats für Sicherheit abgerufen wurden, angesichts der Gewaltwelle?«, fragt er sich. Mit rund 4.000 Morden seit Jahresbeginn, darunter 18 Anschläge auf Politiker*innen, ist Ecuador vom einst zweisichersten Land Lateinamerikas zum unsichersten geworden, kritisiert Gabriela Rivadeneira, Direktorin des Instituto IDEAL (El Instituto para la Democracia Eloy Alfaro – Eloy Alfaro Institut für Demokratie) und ehemalige Parlamentarierin. Wie sich das ändern lässt, das ist die zentrale Frage, die über dem ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen am 20. August schwebte.
Die vorgezogenen Wahlen waren nötig geworden, weil der noch amtierende Lasso nach einem Misstrauensvotum wegen Veruntreuung am 17. Mai das Parlament aufgelöst und Neuwahlen angesetzt hatte. Die Verfassung sieht in einem solchen Fall vor, dass Präsident*in und Parlament für den Rest der Legislaturperiode neu gewählt werden. Sie erhalten somit nur ein Mandat bis zum Ende der Legislaturperiode im Frühjahr 2025, haben demnach Übergangscharakter und stehen vor der Mammutaufgabe, das Land aus dem drohenden Chaos zu führen. Dafür haben die 13,5 Millionen Wähler*innen zwei sehr unterschiedlichen Kandidat*innen, dem liberalkonservativen Daniel Noboa und der linkspopulistischen Luisa González von der Bürgerrevolution des ehemaligen Präsidenten Rafael Correa (2007-2017), das Vertrauen ausgesprochen. Sie treffen im zweiten Wahlgang am 15. Oktober aufeinander.
Noboa, 35-jähriger Unternehmer und Sohn des erzkonservativen Bananen-Milliardärs Álvaro Noboa, war die Überraschung des ersten Wahlgangs. Von den hinteren Plätzen in den Umfragen katapultierte er sich mit einem glänzenden Auftritt in der finalen TV-Debatte der acht Kandidat*innen auf den zweiten Platz, mit knapp 24 Prozent der Stimmen. Noboa bekannte sich parallel zu den Wahlen zum laufenden Referendum zum Schutz des Yasuní-Nationalparks. Das vor allem von indigenen Gruppen getragene und von vielen jungen Menschen unterstützte erfolgreiche Referendum stoppte im August die Erdölförderung im ecuadorianischen Regenwald.
Mit seiner Zustimmung zu sozial-ökologischen Politiken wurde Naboa auch für junge Wähler*innen zu einer Alternative zur linken Kandidatin der Bürgerrevolution, Luisa González. Die tritt für eine Rückkehr zum Correísmo (2007-2017), der linkspopulistischen Politik Rafael Correas, ein. Doch dessen Politikmodell polarisiert das Land. Während die einen dem funktionierenden Sozialstaat des Correísmo hinterhertrauern, kritisieren die anderen das Ausmaß an Korruption unter Rafael Correas Regie und dessen Bekenntnis zur Ausplünderung der natürlichen Ressourcen – selbst in nationalen Schutzgebieten wie dem Yasuní-Nationalpark.
Das Bekenntnis zu ihrem politischen Mentor, Rafael Correa, der aufgrund von Korruption zu acht Jahren Haft in Ecuador verurteilt wurde, hat die lange in den Umfragen führende Luisa González höchstwahrscheinlich Stimmen gekostet – genauso wie die bereits erwähnte neuerliche Korruptions-Anzeige des ermordeten Fernando Villavicencio gegen Correa und ehemalige Minister seiner Regierung. Diese Konstellation sorgt dafür, dass Analyst*innen wie Alberto Acosta, ehemaliger Bergbauminister und Nachhaltigkeitstheoretiker, es für möglich halten, dass Noboa in der Stichwahl am 15. Oktober triumphieren könnte.
Votum für neues Wirtschaftsmodell
Die »Jugend« habe ihn gewählt, um Correas Partei zu schlagen, erklärte Noboa, der für ein neues Wirtschaftsmodell eintritt. Das und sein Bekenntnis zum Schutz des Yasuní-Nationalparks und dem Ende der dort laufenden Erdölförderung dürfte ihm etliche Wähler*innenstimmen eingebracht haben. Doch wie das potentielle neue Wirtschaftsmodell aussehen könnte, ist bisher recht unklar. Klar ist, dass die Bevölkerung mit rund 60 Prozent der Stimmen sich deutlich für den Schutz des Nationalpakrs ausgesprochen hat. Zudem gibt es ein weiteres Referendum der Bevölkerung im Großraum Quito, dass den Bergbau im Biosphärenreservat Chocó Andino untersagt hat. Diese Referenden erzwingen de facto ein Umdenken, so Alberto Acosta: »Wir müssen ein neues ökonomisches Modell entwickeln. Die Ergebnisse erzwingen quasi einen ökonomischen Wandel: weg von der tradierten Rohstoffförderpolitik.«
Wohin ist die zentrale Frage, die nun die beiden Kandidat*innen für die Stichwahl am 15. Oktober beantworten müssen – neben der Frage, wie das Land wieder sicherer werden kann. Für Luisa González, die im ersten Wahlgang rund 33 Prozent der Stimmen erhielt, ist die Ausgangslage ausgesprochen komplex, denn sie hatte sich für ein Weiter So nach dem Modell des Correísmo ausgesprochen. Die Neudefinition eines alternativen Wirtschaftsmodells ist eine echte Herausforderung für sie und ihren Berater Rafael Correa. Gleiches gilt für die Sicherheits- und Justizpolitik. Der fehle es nicht nur an Unabhängigkeit, sondern auch an Effektivität, monieren Jurist*innen wie Barahona. Die nötigen Reformen benötigen jedoch Zeit – Zeit, die Ecuador nicht hat.