»Die Ausbeutung werden wir besiegen, hey!«
Vor 50 Jahren endete ein wilder Streik beim Elektrokonzern Philips Valvo in Aachen nur vordergründig mit einer Niederlage
Von Malte Meyer
Er ist bis heute weitgehend unbekannt. Dabei war der wilde Streik im Aachener Bildröhrenwerk von Philips Valvo im August 1973 alles andere als ein singuläres Ereignis: Er war Teil einer großen Welle von Arbeiterunzufriedenheit, die allein in der Bundesrepublik mehrere hundert Betriebe erfasste, und muss als ein wichtiges Moment jener »Klassenkämpfe in Westeuropa« verstanden werden muss, die die proletarische Seite der 68er-Bewegung ausmachten.
Dennoch gab es spezifische Gründe, warum der damals international verbreitete Überdruss an fordistischer Fabrikarbeit am Philips-Standort Aachen in einen gewerkschaftsunabhängigen Streik einer überwiegend migrantischen Belegschaft umschlug. So war Aachen als Sitz zahlreicher größerer Industriebetriebe in den frühen 1970er Jahren noch längst nicht so akademisch geprägt wie heute. Trotzdem (oder gerade deswegen) ging die 68er-Bewegung selbst an den als »unpolitisch« verschrienen jungen Männern (und wenigen Frauen) nicht spurlos vorbei, die im äußersten Westen Nordrhein-Westfalens Maschinenbau, Physik oder eine Ingenieurwissenschaft studierten.
Der Streik stärkte das politische Selbstbewusstsein der nach Westdeutschland zugewanderten Arbeitskräfte.
Im Gegenteil: Auch in der (sozial-)katholisch geprägten CDU-Hochburg von damals waren rund um die Technische Hochschule etliche linke Gruppen aktiv: im maoistischen Spektrum die KPD, die Kommunistische Gruppe und der Kommunistische Bund Westdeutschland, im trotzkistischen die Gruppe Internationale Marxisten, aber natürlich auch DKP und Jusos, um nur einige zu nennen. Wie andernorts wandten sich manche der Aktivist*innen Anfang der 1970er Jahre der betrieblichen Agitation zu – sei es in den umliegenden Steinkohlezechen des Eschweiler Bergwerksvereins, beim Waggonbauer Talbot, beim Reifenhersteller Uniroyal oder eben bei Philips.
An seinem Standort Aachen hatte der niederländische Elektrokonzern seit 1934 zunächst Radiogeräte (im Krieg »Volksempfänger« genannt) und Glühlampen produziert, bevor in der Nachkriegszeit die Herstellung von Bildröhren für die boomende Fernsehgeräteindustrie hinzukam. Millionen von Elektronenröhren für Schwarz-Weiß-Fernseher verließen das Aachener Werk zwischen 1954 und 1972; mit einer Jahresproduktion von über 900.000 Stück war Philips Valvo 1973 sogar die größte Farbbildröhrenfabrik Europas. Der Ausstoß pro Stunde lag bei 100-110 Farbbildschirmen, während es zu Zeiten der Schwarz-Weiß-Produktion erst 65-70 Bildröhren gewesen waren.
Gegen Arbeitshetze und steigende Preise
Betrieblicher Konfliktstoff hatte sich bei Philips Valvo schon seit längerem angehäuft. Da war zum einen die seit einigen Jahren im Namen von »Rationalisierung« intensivierte Arbeit: Körperlich sehr belastend war nicht nur der Drei-Schicht-Betrieb an sich, sondern auch das ständige Heben der relativ schweren Bildschirme vom Fließband auf die Beleuchtungstische und zurück. Zudem musste diese monotone Arbeit in einer nur schlecht belüfteten Werkshalle verrichtet werden, und auch das Kantinenessen war alles andere als gut.
Bereits vor dem Anstieg der Inflationsrate im Jahr 1973 lag also eine Reihe handfester Beschwerdegründe vor. Dass zu diesen gemeinsamen Arbeitserfahrungen eine kollektiv geteilte Verweigerungshaltung hinzutrat, machten bereits gut aufgenommene Protestreden und kritische Wortmeldungen auf mehreren Betriebsversammlungen vor dem wilden Streik deutlich. Ziemlich verunsichert zeigte sich die Werksleitung auch, als Arbeiter*innen einer Schicht einmal plötzlich begannen, mittels eines immer vielstimmigeren Rufkonzerts den Halleffekt der großen Fabrikhalle auszunutzen. Bei Gelegenheiten wie dieser, so der damalige Streikleiter Martin Thomas, sei das Potenzial kollektiver Gegenmacht zumindest schon einmal spürbar geworden.
Überhaupt arbeiteten viele Philips-Arbeiter*innen nicht nur zusammen, sondern wohnten – wie zahlreiche andere Arbeitsmigrant*innen damals wie heute – auch im nahe gelegenen Ostviertel rund um den Kennedypark. Dort lief man sich auch in der Freizeit über den Weg. Der von der Westberliner KPD nach Aachen geschickte und bald zum Vertrauensmann gewählte Martin Thomas etwa wurde von seinen türkischen Kollegen bald »Arkadaş« (Freund) und von den jugoslawischen seines Schnäuzers wegen »Brkovi« gerufen. Er achtete, um eine etwaige Stellvertreterrolle zu vermeiden, sorgfältig darauf, dass nicht nur er alleine im Betrieb aufstand, sondern immer auch andere Kolleg*innen etwas sagten.
Streik gegen den Willen der IG Metall
Am 24. August 1973, kurz nach Ende der Valvo-Werksferien, ist es dann so weit: Der wilde Streik beginnt. Die Nachtschicht fährt ab 1:00 Uhr zunächst die Bänder leer, kommt nach kompletter Arbeitsniederlegung in der Kantine zusammen und schafft es am Freitagmorgen auch, die Kolleg*innen der Frühschicht vom Sinn des Streiks zu überzeugen.
Im per Flugblatt öffentlich gemachten Forderungskatalog steht der Inflationsausgleich (»60 Pf mehr für alle und 200 DM Teuerungszulage«) im Vordergrund. Dieser soll insbesondere den unteren Lohngruppen zugutekommen. Immerhin wurden die Lohnerhöhungen von nominal 8,5 Prozent, denen die IG Metall in der Anfang 1973 abgeschlossenen Tarifrunde zugestimmt hatte, durch den sich mit Beginn der Stagflationskrise beschleunigenden Preisauftrieb weitgehend aufgezehrt. Gleichwohl finden auch die Abneigung gegen Arbeitshetze und hohe Bandgeschwindigkeit in den Forderungen der Streikenden ihren Ausdruck. Vor allem die nach Abschaffung der untersten Lohngruppe 2 (in die v.a. Frauen einsortiert wurden), nach Bezahlung der Pausen sowie nach Wegfall der Samstagsschicht dokumentieren den Willen der Streikenden, dem ausbeuterischen Fabrikregime klare Grenzen aufzuzeigen. Zum Ausdruck kommt das auch in einem türkischsprachigen Lied der Streikenden. In diesem heißt es: »Die Ausbeutung werden wir besiegen, hey!«
Die Geschäftsleitung reagiert auf den wilden Streik mit eilig angekündigten Entlassungen. Doch muss sie diese nach einem Veto des Betriebsrats zurücknehmen und wandelt sie in Hausverbote um. Betriebsrat und IG Metall positionieren sich mit Verweis auf die Friedenspflicht klar gegen die Streikenden. Mit einer Ausnahme: Ein Mitglied des Betriebsrates sympathisiert mit den streikenden Kolleg*innen und informiert die Streikleitung heimlich über die taktischen Winkelzüge der Gegenseite – in seiner Privatwohnung!
Am auch normalerweise arbeitsfreien Wochenende organisieren sich die Konfliktparteien dann neu: Während die Streikenden den nahe gelegenen Saalbau Kappertz als Streiklokal für ihre Versammlungen anmieten und an ihren Forderungen festhalten, bemühen sich Betriebsratsvorsitzende und IGM-Verwaltungsstelle darum, die Haltung der Geschäftsleitung als konziliant und annehmbar zu verkaufen. Der daraufhin geäußerte Protest in der »Kappertzhölle« ist zwar lautstark, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die gewerkschaftliche Aufforderung zum Streikbruch insbesondere bei vielen deutschen Kollegen verfängt.
Auch der türkische Konsul interveniert. Seine Einschüchterungsversuche tragen am Dienstag Früchte und dazu bei, dass die Streikfront auch unter den türkischen Kolleg*innen an manchen Stellen zu bröckeln beginnt. Am darauffolgenden Mittwoch gelingt es den Streikenden mit einem Demonstrationszug vom Werk zum Elisenbrunnen noch einmal, sich öffentlicher Sympathien zu vergewissern. Doch kann dies, wie spätestens am Donnerstag deutlich wird, insbesondere die türkeistämmigen Streikenden nicht mehr länger von der Arbeitsaufnahme abhalten. Am Freitag, den 31. August beschließen dann auch die bis zuletzt streikenden Kolleg*innen, bei denen es sich zum allergrößten Teil um Jugoslawen handelt, den organisierten Abbruch des insgesamt eine Woche dauernden Ausstands.
Gestärktes Selbstvertrauen
Vordergründig endete der wilde Streik bei Philips Valvo also mit einer Niederlage: Die zugestandene Lohnerhöhung blieben deutlich hinter den Forderungen zurück und die Angehörigen der Streikleitung wurden entlassen und mit Repressionen konfrontiert – darunter nicht zuletzt Abschiebung und/oder Ausschluss aus der IG Metall. Trotzdem war der Valvo-Streik Teil einer betrieblichen Protestbewegung migrantischer Arbeiter*innen, die faktisch nicht nur zur interkulturellen Öffnung zahlreicher bundesdeutscher Institutionen beitrug, sondern am Arbeitsplatz und darüber hinaus vor allem das politische Selbstbewusstsein der nach Westdeutschland zugewanderten Arbeitskräfte stärkte.
Übrigens: Die regionale wie die überregionale Presse nahm vom wilden Streik bei Philips Valvo durchaus Notiz, und auch in einigen zeitgenössischen Darstellungen der Streikwelle wurde der Ausstand zumindest einmal erwähnt. Eine gründliche Auswertung oder gar Monografie zu diesem Thema existiert aber nach wie vor nicht. Dabei wären die Voraussetzungen dafür alles andere als schlecht: Im Online-Archiv mao-projekt.de sind 2020 eine Fülle eingescannter Flugblätter, Artikel und Streikberichte über die Aktivitäten der K-Gruppen in Aachen und Aldenhoven Anfang der 1970er Jahre und insbesondere den Valvo-Streik 1973 zugänglich gemacht worden und auch einige der damals recht jungen Protagonisten lassen sich noch befragen.