Repression wirkt
4.000 Polizist*innen, 17 Wasserwerfer, vermummte Staatsanwälte – bei den Tag-X-Protesten in Leipzig wurde versucht, den linksradikalen Protest im Keim zu ersticken
Von Jannis Große
Du kannst den Kessel nicht nachvollziehen, wenn du nicht da warst«, sagt der 18-jährige Malte aus Hamburg, der sich mit Freund*innen am 3. Juni 2023 auf den Weg nach Leipzig gemacht hatte, um dort gegen das Urteil im sogenannten Antifa-Ost-Verfahren zu protestieren – und schließlich mit rund 1.000 Demonstrierenden, darunter auch viele Minderjährige, stundenlang eingekesselt wurde.
Die Sicherheitsbehörden hatten sich auf ein »Einsatzgeschehen mit teilweise unfriedlichem Verlauf« und »hohem Schadenspotenzial« eingestellt. Der Grund: Monatelang hatte die linke Szene zur »Tag-X«-Demo nach Leipzig mobilisiert. Vom »größten Black Block in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung« war in einem Aufruf zu lesen. In einem anderen war von Sachschaden in Millionenhöhe für jedes Jahr Haft die Rede. Die Demo in Solidarität mit den verurteilten Antifaschist*innen sowie alle Ersatzveranstaltungen wurden am »Tag X«-Wochenende verboten, die Versammlungsfreiheit mit einer Allgemeinverfügung eingeschränkt. Mit 4.000 Polizist*innen, neun Räumpanzern, 17 Wasserwerfern, stationären Kameras auf Gebäuden und dem Einsatz von Polizeihubschraubern setzte die Polizei das Versammlungsverbot durch.
Die Versammlungsfreiheit in Leipzig
Wie Hunderte andere beteiligten sich die Hamburger*innen Malte, Hildebrand und Elisabeth an der zuvor angemeldeten Versammlung auf dem Alexis-Schumann-Platz, die sich gegen die Einschränkung der Versammlungsfreiheit richtete. Auf die Frage, warum das Demonstrationsverbot sie nicht daran gehindert hatte, nach Leipzig zu fahren, antwortet Elisabeth: »Aus einer Wut darüber, wie der Prozess gelaufen ist. Aus einer Wut darüber, wie repressiv der Staat vorgeht«. Auf die Demoaufstellung folgte die gar nicht so große Überraschung: Anders als angemeldet, durfte die Demonstration nicht loslaufen und wurde kurzerhand zu einer stationären Versammlung erklärt. Der Grund: Vermummung.
Später sollten Recherchen der ZEIT belegen, dass sich auch Beamt*innen in szenetypischer Bekleidung und vermummt unter die teils gewalttätigen Demonstrierenden gemischt hatten. Sogenannte Tatbeobachter*innen werden in Polizeikreisen als legitimes Mittel betrachtet, um Gewalttäter*innen zu »markieren« und festnehmen zu können. Die Staatsanwaltschaft schreibt in einer Pressemitteilung, ein Staatsanwalt und ein Polizeikommissar hätten nach Ankunft vor Ort zum »Zwecke des Eigenschutzes« ihre Gesichter verhüllt. Sie seien aber zuvor nicht in der Versammlung gewesen.
Für die bereits behelmten Polizist*innen war ein Angriff auf zwei Polizeifahrzeuge am Rande der Kundgebung dem Anschein nach ein willkommener Anlass, von mehreren Seiten in die Kundgebung zu stürmen. Anfangs sei ihnen gar nicht klar gewesen, dass sie nun eingekesselt waren, berichten die drei Hamburger Anarchist*innen, denn einen Auslöser hierfür hätten sie gar nicht mitbekommen. Statt auf der Straße zu protestieren, hätten sie sich also plötzlich mit mehr als 1.000 anderen Personen dicht gedrängt zwischen Büschen in einem Park wiedergefunden. »Mindestens die erste halbe Stunde war es schwer zu atmen, so dicht gedrängt haben die Menschen gestanden«, sagt Elisabeth.
Der Kessel
Aufnahmen in verschiedenen Medienberichten zeigen, wie Polizist*innen mit Schlagstöcken um sich schlagen, Menschen gezielt ins Gesicht boxen. Verletzte Personen seien über längere Zeit nicht versorgt oder herausgelassen worden, berichten die Aktivist*innen übereinstimmend. Das bestätigt auch Alexander Klein, Sprecher des Sanitätsnetzwerks Hamburg, das mit Sanitäter*innen vor Ort im Einsatz war. Polizist*innen hätten die Sanitäter*innen mit Aussagen wie »die da drin brauchen keine Hilfe, das sind ja Straftäter« nicht durchgelassen. Im Kessel sei es zu Panikattacken und Fällen der Unterkühlung gekommen. Alexander Klein und die drei Hamburger Anarchist*innen berichten von fehlenden Sanitärmöglichkeiten und mangelnder Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln. »Das sind banal wirkende Situationen, die aber total entmenschlichend sind – wie das Wechseln eines Tampons im Busch«, sagt Elisabeth dazu.
Auch der Vorsitzende des Republikanischen Anwält*innenvereins (RAV) erhebt schwere Vorwürfe: »Rechtswidrig wurde den Betroffenen der Zugang zu vor Ort anwesenden Anwält*innen verweigert. Dass der sächsische Innenminister das fehlerhafte Vorgehen der Polizei beim Leipziger Kessel deckt und Aufklärung verweigert, ist Ausdruck eines völlig verschobenen Diskurses, der autoritäre und rechte Strömungen weiter befeuert«, so Rechtsanwalt Dr. Peer Stolle. »Es war schon einfach Ziel der Sache, die Menschen über Nacht gefangen zu halten; sie mental und körperlich ein bisschen kaputtzumachen«, sagt Hildebrand. »Und das wird kein Zeitungsartikel, keine Reportage zeigen können – wie krass und willkürlich das ist«, fügt der Aktivist hinzu.
Die Polizei sagte später: Die Personen seien wegen des Anfangsverdachts auf schweren Landfriedensbruch, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und gefährliche Körperverletzung zur Identitätsfeststellung auf dem Heinrich-Schütz-Platz »festgesetzt und umschlossen« worden. Die Telefone von 380 Personen wurden als Beweismittel beschlagnahmt. 82 Personen wurden in Gewahrsam genommen, 30 Personen vorläufig festgenommen. Erst Anfang August wurde bekannt, dass sich die Zahl der Eingekesselten auf 1.323 Personen belaufen soll. Gegen 1.321 bestehe laut dem sächsischen Innenministerium weiterhin »der Anfangsverdacht des schweren Landfriedensbruchs«. Die Anzeigen gegen die gekesselten Aktivist*innen aus Leipzig werden wohl in der polizeilichen Statistik politisch motivierter Straftaten links auftauchen – denn politisch motivierte Straftaten werden bereits bei einem Anfangsverdacht durch die Polizei registriert. »Der Leipziger Kessel war einfach eine riesige Datensammlung«, meint Elisabeth.
Neben den Gewahrsamnahmen landeten zehn Menschen für gut zwei Wochen in U-Haft. Auf einem Solidaritäts-Blog wurde ein Bericht zu fragwürdigen medizinischen Entscheidungen in der JVA Leipzig veröffentlicht. Mehrfach habe eine Ärztin eigenmächtig die Medikation eines Inhaftierten mit Epilepsie und Dissoziationsstörung geändert. Zweimal hätte die Person deswegen ins Krankenhaus gebracht werden müssen. In einem Grußwort der Gefangenen heißt es auf dem Blog: »Das erste Juniwochenende 2023 hat nicht nur bei uns und in unserem Leben Spuren hinterlassen, wir denken, es war auch ein einschneidendes Ereignis für die Linke über die Grenzen dieses Bundeslandes hinweg«.
Es scheint, als wollte die Stadt Leipzig lieber ihre Ruhe haben, statt das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit hochzuhalten.
Valentin Lippmann, Innenpolitischer Sprecher der Grünen im sächsischen Landtag
Auch der sächsische Landtag und der Leipziger Stadtrat setzen sich mit den Geschehnissen auseinander. Der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion im sächsischen Landtag, Valentin Lippmann, äußert mit Blick auf die schwerwiegenden Grundrechtseingriffe einen Verdacht: »Es entsteht der Anschein, als wollte die Stadt Leipzig lieber ihre Ruhe haben, anstatt das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit auch in schwierigen Situationen hochzuhalten.«
Rohe Gewalt gegen Grundrechte
Die in einer Sondersitzung des Innenausschusses präsentierten Gefahrenprognosen, die Grundlage für Kontrollbereich und Allgemeinverfügung waren, seien nicht überzeugend. Es dürfe nicht sein, dass der Rechtsstaat mit roher Gewalt gegen Grundrechte reagiere, meint auch Linken-Politikerin Jule Nagel in einer Rede im Stadtrat. »Ein Rechtsstaat, der mit voller Härter zuschlägt, widerspricht dem Gedanken des Rechtsstaates selbst«, sagte die Stadträtin.
Neu ist das Vorgehen der Polizei dabei nicht wirklich. Schon 1986 wurden über 800 Atomkraftgegner*innen im »Hamburger Kessel« bis zu 13 Stunden festgehalten, noch bevor sich ein Demonstrationsmarsch »für das Recht auf Demonstration« bilden konnte. Die vier verantwortlichen Polizeiführer wurden damals wegen »861-facher Freiheitsberaubung« verurteilt.
Ob G20-Gipfel in Hamburg oder »Tag X« in Leipzig – die Sicherheitsbehörden sind auch in den vergangenen Jahren immer wieder hart gegen linke Bewegungen vorgegangen. »Repression wirkt. Sie wirkt sich auf die politische Praxis von Einzelnen, aber auch Gruppen aus. Sie führt zu Wut, Lähmung, Ohnmacht, Passivität und Angst«, schrieb die kommunistische Gruppe Kappa aus Leipzig Anfang Mai auf ihrem Blog. In Leipzig sei die Repression in den letzten zweieinhalb Jahren Normalität geworden. Die Gruppe Prisma Leipzig, Teil der Interventionistischen Linken, kritisiert, dass die radikale Linke es bisher nicht geschafft habe, einen offensiven Umgang mit der staatlichen Repression zu entwickeln.
Auch bei den Hamburger Aktivist*innen haben die Erlebnisse in Leipzig einen bleibenden Eindruck hinterlassen: »Wenn morgens um halb acht die Postboten klingeln, ist die ganze WG in Panik, weil wir denken, jetzt kommt die Hausdurchsuchung«, sagt Elisabeth. Dennoch, so scheint es, gehört Repression in den Augen der Hamburger*innen irgendwie dazu – zum Kampf für eine »befreite Gesellschaft«. »Aktiv zu sein, kann immer Konsequenzen haben«, sagt Elisabeth. Deswegen sei aufgeben keine Option. Wenn der Staat sie bekämpfe, müssten sie ja irgendwas richtig machen, so die Aktivist*innen.