Nach der Wut kommt die Asche
Die Riots in Frankreich haben Geschichte und sind eine Form öffentlicher Trauer
Von Nerges Azizi
Die Bilder brennender Barrikaden und fliegender Feuerwerkskörper gingen um die Welt. In den Vorstädten Frankreichs brach Ende Juni eine Revolte aus. Was war geschehen? Nahel M., dessen Familie aus Algerien stammt, wurde am Dienstag, den 27. Juni, im Rahmen einer Verkehrskontrolle am Steuer eines Autos von der Polizei erschossen. Der Vorfall ereignete sich in Nanterre, einem Pariser Vorort und Nahels Zuhause. Dem Polizisten zufolge habe der 17-Jährige eine Gefahr dargestellt und ihn überfahren wollen. Auf einem Video des Vorfalls wirkt es vielmehr, als ob Nahel von der Polizei wegfahren wollte. In einem Untersuchungsverfahren wird nun gegen den Polizeioffizier wegen Totschlags ermittelt.
Es handelt sich bei dem Vorfall jedoch um keinen Einzelfall, sondern um ein strukturelles Problem der Polizei. Frankreich wird seit Jahrzehnten für diskriminierende und rassistische Praktiken der Polizei von unabhängigen Stellen wie den Défenseurs de Droits und dem Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte kritisiert. Im Kontext von Racial Profiling werden Personen auf Grundlage ihrer Herkunft, ihrem Aussehen oder ihrer Ethnizität als verdächtig betrachtet und kontrolliert. Das Anhalten und Ausmustern erniedrigt die betroffene Person und verweist sie auf einen untergeordneten Platz in der Gesellschaft. Wer gestoppt wird und wer passieren kann, wie wer Raum einnimmt, sind Indikatoren dafür, welche Rolle ihnen im rassistisch-kapitalistischen System zugeschrieben wird.
Das Phänomen trat in seiner gegenwärtigen Form das erste Mal in Lyon in den 1970er Jahren auf.
2017 wurden dazu die Gesetze für den Einsatz von Schusswaffen gelockert. Polizist*innen können Schusswaffen seither im Rahmen von Kontrollen einsetzen, wenn eine Anweisung verweigert wird und die kontrollierte Person eine Gefahr darstellen könnte. Der Polizei rechtlich zu gestatten, anhand eines vage definierten Risikos zu schießen, hatte zur Folge, dass der Einsatz von Schusswaffen und Todesfälle gestiegen sind. Letztes Jahr sind dreizehn Menschen, vor allem rassifizierte Bewohner*innen der Vorstädte, so in ihren Autos von Polizist*innen umgebracht worden.
Proteste als öffentliche Trauer
Die Proteste auf den Straßen sind als öffentliche Trauer und Widerstand gegen eine rassistische und kapitalistische Staatsordnung zu verstehen, die durch die Polizei gesichert wird. Sie begannen in Nahels Nachbarschaft und haben sich zunächst in andere Pariser Vororte ausgeweitet. Diese sind auch unter den Begriffen Banlieue oder »quartiers populaires«, also Arbeiter*innenviertel, bekannt. Die Vorstädte werden in der französischen Öffentlichkeit mit Sozialbauten, Migration und Armut in Verbindung gebracht. Das spiegelt den fortwährenden räumlichen, ökonomischen und sozialen Ausschluss von Menschen, die aus den ehemaligen Kolonien Frankreichs stammen, wider. Die Aufstände breiteten sich landesweit auf Städte wie Paris, Marseilles, Lyon, Nizza und Straßburg aus. Es sind vor allem junge Menschen, die sich mit Nahel identifizieren können. Sie denken es hätte auch sie treffen können, solidarisieren sich mit ihm und tragen ihre Wut, ihr Gedenken, und ihre Trauer offen auf die Straße. Dadurch stellen sie sicher, dass Nahels Tod eine Zäsur im öffentlichen Leben darstellt. Die Gewalt von Seiten des Staates wollen die Protestierenden nicht als alltäglich akzeptieren. Staatliche Gewalt darf in ihren Augen nicht ohne Konsequenzen bleiben. Durch die militante Unterbrechung des Alltags zeigen sie Anteilnahme an den Erlebnissen der Anderen aus ihren Vierteln.
Sie berufen sich dabei auf ein gelebtes Archiv von Aufständen. Das Phänomen trat in seiner gegenwärtigen Form das erste Mal in Lyon in den 1970er Jahren auf. Damals floh ein 17-Jähriger aufgrund eines Autodiebstahles vor der Polizei in die Wohnung eines Nachbarn in dem Vorort Grappinière. Dort im Gefühl, der Polizei ausgeliefert zu sein, schnitt er sich die Pulsadern auf. Als seine Nachbarinnen ihn Blut überströmt aus der Wohnung kommen sahen, versuchten sie ihn zu schützen und durch Angriffe auf die Polizeibeamten seine Festnahme aufzuhalten. Damit hing diese Form von kollektiver Mobilisierung von Beginn an auch mit Sorge, Selbstschutz und Anteilnahme zusammen. Sie weitete sich davon ausgehend auf Hungerstreiks, Widerstand gegen Abschiebungen und konkreten Forderung nach besseren Arbeits-, und Lebensbedingungen aus. In den folgenden Jahren kam es immer wieder zu Ausschreitungen in Folge von Polizeigewalt. 2005 gilt als das erste Mal, bei dem sich die Revolte landesweit ausbreitete, nachdem die beiden Jugendlichen Zyed und Bouna durch Polizeigewalt ums Leben kamen.
Auch sie versuchten, einer rassistischen Polizeikontrolle zu entgehen, als sie in ein Transformatorenhäuschen flüchteten und dort durch Stromschläge ums Leben kamen. Die Proteste hielten drei Wochen an und konzentrierten sich in den »quartiers populaires«. Einer der Slogans der Demonstrierenden war die Zahl 93, welche die offizielle administrative Nummer der Pariser Vorstadt Seine-Saint-Denis ist. Mit dieser Aneignung wurde klar gemacht, dass die Jugendlichen sich zu ihrem Zuhause bekennen und für einen lebbares Viertel kämpfen. Die Regierung antwortete mit der Ausrufung des Notstands. Dabei berief sie sich auf ein Gesetz aus der Kolonialzeit, das im Zuge des Algerienkriegs eingeführt und später auch innerhalb Frankreichs gegenüber algerischen Protestierenden angewandt wurde. Anders als 2005 hielten die Aufstände dieses Mal rund eine Woche an. Dafür breiteten sie sich weiter aus, von »quartiers populaires« hinaus in städtische Zentren und sehr kleine Bezirke.
Antagonismus zwischen Polizei und Bevölkerung
Auch dieses Mal schürten staatliche Vertreter*innen eine moralische Panik, die Repression, extreme Polizeieinsätze, Festnahmen, Verurteilungen und das Verbot von Demonstrationen rechtfertigen sollte. Anstatt den Einfluss der Polizei zu verringern, wurde von einer Krise gesprochen, die erhöhtes Polizieren zur Folge hatte. In Stuart Halls Worten agieren Polizei, Medien und Justiz dabei als Hegemonieschaffende, die selbst eine Krise hervorrufen, die es dann durch erweiterte Repressionsmaßnahmen und verstärktes Polizieren einzudämmen gilt.
Dieser Antagonismus zwischen Polizei und rassifizierten Bewohner*innen und Bürger*innen findet nicht subtil statt, sondern tritt offen zutage. Kurz nach den Ereignissen veröffentlichte die Gewerkschaft France Police einen Tweet, in dem sie ihren Kolleg*innen dafür gratulierten, den 17-jähren »Kriminellen« erschossen zu haben. Sie fügten hinzu: »Die Einzigen, die für den Tod dieses Verbrechers verantwortlich sind, sind seine Eltern, die nicht in der Lage sind, ihren Sohn zu erziehen.« Der französische Innenminister distanzierte sich nach öffentlicher Empörung umgehend von dem Tweet, stellte die Gewerkschaft als nicht repräsentativ für die Polizei dar und drohte ihr mit Auflösung.
Die französischen Polizeigewerkschaften Alliance Police Nacionale und UNSA Police legten jedoch kurz darauf nach, sie repräsentieren die Hälfte aller Polizeibeamt*innen. In einer gemeinsamen Stellungnahme wurden die Jugendlichen als »wilde Horden«, »gewalttätige Minderheit«, und »Schädlinge« bezeichnet. Weiter hieß es: »Heute sind die Polizisten im Kampfeinsatz, denn wir sind im Krieg.« Schließlich wurde auch der Regierung mit Widerstand gedroht, wenn der Polizei nicht rechtlicher Schutz, durch eine Anpassung des Strafrechtes, zugestanden werde. Die Polizei drohte zudem, sich von Teilen des Staates abzukoppeln, in dem sie ankündigte, unabhängig von Regierung ihre Gewaltfunktion auszuüben. Der kurze Moment des möglichen Widerspruches zwischen Polizei und Regierung wurde schnell wieder aufgelöst. In Folge der erfolgreichen Repression gegen die Proteste gratulierte der Präsident Emmanuel Macron der Polizei für ihre sicherheitsschaffende und stabilisierende Rolle.
Im Laufe der Proteste verschob Macron den Fokus weg von der Polizeigewalt und appellierte an die Verantwortung der Eltern, ihre Kinder von den Straßen fernzuhalten. Die Anschuldigungen gegen die Eltern folgen einer rassistischen Logik. Dabei tritt der Staat als übergeordneter Patriarch auf, welcher intime Verhältnisse reguliert und vermeintliche Fehltritte bestraft. Debatten gehen fortan primär darum, ob man Eltern frühzeitig finanziell sanktionieren soll für das Fehlverhalten ihrer Kinder. Rassismus funktioniert hier als Ablenkungsmanöver. Anstatt die Gewalt der Polizei zu hinterfragen, wird das Problem individualisiert und auf die Frage gelenkt, ob die Eltern sich normgerecht zu verhalten wissen.
Einige Familienangehörige wehren sich nun dagegen: Darunter die Organisation »front des mères« welche sich als erste Elterngewerkschaft für Kinder aus den »quartiers populaires« versteht. In einer Reportage der Onlinezeitung Brut verweisen ihre Mitglieder auf die feindselige Atmosphäre, in der ihre Kinder in den Vororten aufwachsen, und die durch alltägliche Staatsgewalt aufrechterhalten wird. Als Mütter sorgen sie sich primär um die Lebenschancen ihrer Kinder. Ihre Vorschläge weisen auf einen abolitionistischen Horizont hin. Sie möchten die Vororte als ihren Lebensraum umgestalten, sich selbst organisieren, für die Bildung ihrer Kinder einsetzen und für ein tatsächliches Sicherheitsverständnis sorgen und sich nicht auf die polizeiliche Verbreitung von Unsicherheit verlassen.
Auch die Jugendlichen lassen sich weder entmenschlichen, noch von ihrer Wut und ihrer Trauer ablenken. In Gedenken an Nahel haben sie für einen Moment den städtischen Raum zurückerobert, in dem sie stets begrenzt werden. Das Problem, welches zu diskutieren ist, bleibt die Polizei.