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Marx ohne Selbstkritik

Ohne Differenzierung wird es in der Debatte um das Verhältnis von Marxismus und Rassismus nicht gehen

Von Kolja Lindner

einige Segelschiffe vor einem Hafen. Es steigt Rauch auf.
Die Fortschrittserzählung von Marx speiste sich auch aus dem britischen Kolonialismus: Schiffe des Empires vor Kalkutta. Foto: gemeinfrei

Es ist sehr erfreulich, dass es im deutschsprachigen Marxismus wieder mehr Aufmerksamkeit für Rassismus gibt. Das Buch »Die Diversität der Ausbeutung« hat dazu beigetragen. Ob es die Debatte zum Thema allerdings wirklich voranbringt, kann bezweifelt werden. Zumindest wenn die zahlreichen Differenzierungen in Rechnung gestellt werden, die in der Auseinandersetzung um Rassismus, Eurozentrismus und Kolonialismus bei Marx und im Marxismus bereits erreicht wurden.

»Die marxistische Methode«?

Es ist einigermaßen unklar, was »die marxistische Methode«, die die Herausgeberinnen des Buches als distinktes Mittel der Rassismusanalyse und -kritik beschwören, eigentlich sein soll. Marx‘ Werk ist voll von verschiedenen methodischen Überlegungen – je nachdem, zu welcher Zeit seines Lebens und in welchem politisch-theoretischen Kontext er diese angestellt hat. Hier eine Kohärenz auszumachen, die es rechtfertigen würde, von »der« Methode zu sprechen, ist bereits heikel. Und die Behauptung, dass hier allenthalben Großartiges geleistet wurde, muss ebenfalls bezweifelt werden.

Nehmen wir das Vorwort der Schrift »Zur Kritik der politischen Ökonomie« von 1859, in dem große Teile des Marxismus eine Methode für gesellschaftskritische Forschung zu finden meinen. Hier entwirft Marx mit dem Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen und der Idee einer universellen historischen Abfolge verschiedener Produktionsweisen (»asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche«) eine Geschichtsphilosophie, die extrem problematisch ist. Es handelt sich genaugenommen um eine techno-funktionalistische Teleologie. Sie ähnelt dem, was Marx und Engels an anderer Stelle kritisieren: »ein Rezept oder Schema, wonach die geschichtlichen Epochen zurechtgestutzt werden können«. Dieses Schema ist anachronistisch, da mit ihm spezifische Eigenschaften der Gegenwart (wie das von der kapitalistischen Produktionsweise bedingte Wachstum der Produktivkräfte) auf die Vergangenheit zurückprojiziert und damit kontrafaktische, historische Verallgemeinerungen produziert werden (es gibt in der vorkapitalistischen Geschichte kein kontinuierlich-lineares Wachstum der Produktivkräfte).

Marx kritisierte »ein Rezept oder Schema, wonach die geschichtlichen Epochen zurechtgestutzt werden können«.

Die ferner 1859 von Marx vorgebrachte These, dass die Produktionsverhältnisse »die reale Basis« bildeten, »worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt«, hat ebenfalls ihre Probleme. Neben Funktionalismus in diesem Falle auch noch Klassenreduktionismus – und beide haben in beträchtliche Teile des Marxismus Eingang gefunden. Daher wird in marxistischer Perspektive zumeist gefragt, was für die Reproduktion der Produktionsverhältnisse bzw. des Kapitals funktional sei. »Eine kritische Sozialtheorie, die intersektional orientiert ist«, hat Urs Lindner in seinem Buch »Marx und die Philosophie« festgehalten, »interessiert sich dagegen für andere Fragen, etwa: Wie werden die Widersprüche kapitalistischer Wachstumsregime institutionell bearbeitet und welche Rolle spielen dabei Geschlechterarrangements und rassistische Segregationen?«

Eurozentrismus

Die funktionalistische Teleologie der 1850er Jahre, die Marx erst in langwieriger Arbeit in späteren Texten überwindet, hat ihn in vielen Belangen gerade nicht als allmächtigen Denker erscheinen lassen. Dies gilt insbesondere im Bereich der für das Verständnis von Rassismus zentralen Erfassung globaler Ungleichheiten, etwa Marx‘ Artikel zum britischen Kolonialismus in Indien von 1853. Auf der Basis von orientalistischen und kolonialadministrativen Quellen wird hier eine die europäische Geschichte fälschlich universalisierende Fortschrittserzählung entfaltet. Dabei führt die kontrafaktische Annahme über eine koloniale Entwicklung der Produktivkräfte Marx schließlich zu einem Defätismus gegenüber dem britischen Empire.

Von marxistischer Seite ist der Kritik, die diese Texte zu Recht auf sich gezogen haben, Verschiedenes entgegengehalten worden. Kevin Anderson etwa behauptet, Marx habe sich Zeit seines Lebens einem Internationalismus verschrieben und sich in revolutionärer Perspektive für die Vorgänge an der Peripherie westlicher Gesellschaften interessiert. Die Herausgeberinnen von »Die Diversität der Ausbeutung« beziehen sich auf genau diese Argumentation und meinen zudem, postkoloniale Kritik mit der »globalen Ideengeschichte des Marxismus« und dem vom Marxismus formulierten »Universalismus menschlicher Befreiung« zurückweisen zu können.

Das ist so allgemein, dass es schlichtweg falsch ist. So hat die Globalgeschichte des Marxismus in den letzten zwei Jahrzehnten herausgearbeitet, wie dieser alle möglichen herrschaftlichen Asymmetrien reproduziert. Und dass allein das von Anderson beschworene Interesse für die »Ränder« noch keine antiherrschaftliche Perspektive garantiert, dürfte vor dem Hintergrund dieser historiographischen Ansätze ebenfalls klar sein. Entscheidend ist nämlich, dass den »Rändern« Handlungsfähigkeit in der relationalen Konstitution der Moderne zukommt und sie nicht einfach als »geschichtslose Völker« (Friedrich Engels) aufgefasst werden.

Marxistische Selbstkritik

Es ist sehr erfreulich, dass es im deutschsprachigen Marxismus wieder mehr Aufmerksamkeit für Rassismus gibt. Das Buch »Die Diversität der Ausbeutung« hat dazu beigetragen. Ob es die Debatte zum Thema allerdings wirklich voranbringt, kann bezweifelt werden. Zumindest wenn die zahlreichen Differenzierungen in Rechnung gestellt werden, die in der Auseinandersetzung um Rassismus, Eurozentrismus und Kolonialismus bei Marx und im Marxismus bereits erreicht wurden.Angesichts der geschilderten Situation ist klar: Wenn der Marxismus eine Rolle in zeitgenössischen antiherrschaftlichen Kämpfen und entsprechender Theoriebildung spielen will, muss er auch selbstkritisch vorgehen. An diesem Anspruch gemessen, ist Bafta Sarbos Lenin-Apologie (vgl. AK 693) nicht nur irritierend, sondern schlicht kontraproduktiv.

Es sei nur daran erinnert, dass es nicht zuletzt Lenin war, der das Verständnis der »Lehre von Marx« eher behindert hat – und zwar bezeichnender Weise gerade in dem Text, aus dem Sarbo das Zitat von der angeblichen Allmacht bezieht. Es handelt sich um Lenins Aufsatz »Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus« von 1913. Darin vertritt der Autor, Marx‘ Werk sei »als direkte und unmittelbare Fortsetzung der Lehren der größten Vertreter der Philosophie, der politischen Ökonomie und des Sozialismus« entstanden. Der Verfasser von »Das Kapital« habe den philosophischen Materialismus mittels Hegel dialektisiert, das Werk der klassischen Ökonomen Adam Smith und David Ricardo fortgesetzt und dem utopischen Sozialismus die Theorie von Ausbeutung und Klassenkampf hinzugefügt.

Dass diese Lesart die Spezifik von Marx‘ Unternehmen verkennt, hat hierzulande insbesondere Michael Heinrich herausgearbeitet. Die Kritik der politischen Ökonomie zeichnet sich ihm zufolge gerade dadurch aus, dass sie keine direkte und unmittelbare Fortsetzung dieser drei Diskurse ist. »Zu ›Quellen‹ des Marxismus«, so schreibt Heinrich in »Die Wissenschaft vom Wert«, »werden diese theoretischen Formen nur dadurch, dass sie als fortgeschrittener theoretischer Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaft, der aber immer noch in den von dieser Gesellschaft produzierten Verkehrungen befangen bleibt, den Gegenstand der Marxschen Kritik bilden«.

Wie schonungslos Marx Kritik betrieben hat, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass er seine eigenen Überlegungen permanent auf den Prüfstand stellte. Wenn die neuen Vertreterinnen marxistischer Allmachtsphantasien sich ein bisschen mehr an dieser Haltung orientieren würden, wäre auch für die kritische Debatte zum Verhältnis von Marxismus und Rassismus Einiges gewonnen.

Kolja Lindner

ist Assistenzprofessor für politische Theorie an der Universität Paris 8. Er hat zuletzt das Buch »Marx, Marxism and the Question of Eurocentrism« (Palgrave, 2022) veröffentlicht.

Der Sammelband »Die Diversität der Ausbeutung« wurde in ak 686 von Erkut Bükülmez besprochen. Mit den Thesen des Buches setzten sich Klaus Viehmann (ak 688) und Vincent Bababoutilabo (ak 689) kritisch auseinander. In ak 693 antwortete die Herausgeberin des Buches, Bafta Sarbo. Von Gerhard Hanloser folgte eine Entgegnung (ak 694). Die Debatte wird an dieser Stelle von Kolja Lindner geschlossen.