Eine Lücke so groß wie ein Kontinent
Howard W. Frenchs Buch »Afrika und die Entstehung der modernen Welt« entzaubert Mythen zur Entstehung der Neuzeit
Von Paul Dziedzic
Am 18. Juli 1324 hält die königliche Delegation des malischen Reichs, angeführt von Mansa Musa, in Kairo Einzug. Dieses Datum, das heute niemand kennt, verdiene viel mehr Aufmerksamkeit, schreibt der Journalist und Autor Howard W. French. »Das hat weniger mit etwas zu tun, das Musa selbst sich hätte vorstellen, geschweige denn vorhersehen können, sondern ergab sich vielmehr aus den gewaltigen unbeabsichtigten Folgen seiner Diplomatie auf der größten aller Weltbühnen«, heißt es gleich im ersten Kapitel. Denn der Mansa, wie der Herrschaftstitel des Reichs lautet, verteilte auf seinem Hadsch nach Mekka so viel Gold, dass sich die Botschaft über seinen enormen Reichtum rasch bis nach Europa verbreitete. Die Suche der Europäer*innen nach Mansa Musas Gold brachte einen Stein ins Rollen, der den Lauf der Geschichte verändern sollte und dem Frenchs Werk »Afrika und die Entstehung der modernen Welt. Eine Globalgeschichte« Schritt für Schritt nachgeht.
Vom falschen Ende her gedacht
Der Autor räumt gleich zu Beginn mit einem bis heute verbreiteten Mythos auf, nämlich dass Afrika für die Europäer nur ein Hindernis auf dem südlichen Weg nach Asien darstellte, das es zu umsegeln galt. Diese eingängige Erzählung sieht die Geschichte jedoch vom Ende aus und ergibt unter den Bedingungen, die in Europa seinerzeit vorherrschten, keinen Sinn. Deshalb verortet der Autor den Stein des Anstoßes in Mali. Das Reich versorgte über Nordafrika auch Europa mit Gold, und mit dem Verfall des Reichs entstand im Norden eine Wirtschaftskrise.
Jahrzehnte bevor der portugiesische Seefahrer Bartolomeu Dias die Südspitze Afrikas umsegelte, suchte das verarmte Portugal nach einem Weg, den Zwischenhandel über Nordafrika zu umgehen und direkt an die Quelle des westafrikanischen Goldes zu gelangen. Doch die »Entdecker« schienen keine Ahnung zu haben, wo diese Quelle lag. Mit der Zeit knüpften die Portugiesen im Westen Afrikas Kontakte, betrieben Diplomatie, bauten Handelsnetzwerke auf – was in den folgenden Jahrhunderten verheerende Folgen haben sollte.
Howard W. French erinnert daran, dass Europa zu diesem Zeitpunkt global eher randständig war und das Kräfteverhältnis eher zugunsten der afrikanischen Reiche ausfiel. Das erklärt auch, warum der Bau der ersten Zuckerplantagen und Fabriken im 15. Jahrhundert auf Inseln außerhalb, aber nicht allzu weit entfernt vom Kontinent stattfand. Auf ihnen wurde eine Produktionsmethode entwickelt, die sich als weitaus lukrativer herausstellen sollte als Gold – und die den afrikanischen und amerikanischen Kontinent langsam ausbluten lassen würde. Denn die tödliche Arbeit auf den Plantagen würden nicht die Portugiesen selbst leisten, sondern vom Kontinent Entführte und Versklavte.
French beschreibt, wie die entstehenden imperialistischen Länder einander ablösten und im Wetteifer »Innovationen« einführten, beispielsweise im Management der Plantagen, die später für den Kapitalismus charakteristisch werden sollten.
Am Ende bleibt von der Erzählung, nach der technologische und ideologische »Errungenschaften« Europa eigenhändig in die Moderne katapultierten, wenig übrig.
Nicht außer Acht lässt der Journalist den Drang nach Freiheit auf beiden Seiten des Atlantiks. Dieser mündet in eins der zentralen Ereignisse der Emanzipation: der Haitianischen Revolution. French verdeutlicht, wie sich Schwarze ihre Freiheiten stets selbst erkämpften, und diese ihnen nicht, wie es so oft heißt, großzügigerweise von ihren Unterdrückern geschenkt wurde. Am Ende der Lektüre bleibt von der monokausalen und eurozentrischen Erzählung, nach der technologische und ideologische »Errungenschaften« Europa eigenhändig in die Moderne katapultierten, wenig übrig. Vielmehr ist der Weg in die Moderne geprägt von der Wechselwirkung zwischen dem imperialistischen Streben Europas nach Kontrolle und Wachstum und dem Widerstand der unterdrückten Afrikaner*innen.
Eine Schwarze Tradition
Mit viel Liebe zum Detail wechselt der Journalist und langjährige Afrika-Korrespondent der New York Times zwischen reportageartigen Einstiegen an den Schauplätzen, über die er schreibt, langen Analysen und Biografien historischer Persönlichkeiten, anhand derer er den Stoff lebendig erzählt. Auch seine eigene Familiengeschichte, die er weit zurück verfolgen kann und die ihn geprägt hat, lässt French nicht außen vor. Das macht aus dem historischen Sachbuch eine interessante und informative Lektüre, vor allem für Leser*innen, die wenig von afrikanischer und Schwarzer Geschichte wissen.
Doch wer bis hierher gelesen hat und sich denkt, all das sei nicht neu, liegt nicht falsch. Der Autor nimmt Bezug auf eine lange Tradition und unterfüttert sie mit neuen Erkenntnissen. Der Ansatz, herrschaftliche Erzählungen zu hinterfragen und stattdessen auf die materiellen Bedingungen einzugehen und Widersprüche zu beleuchten, ist nicht neu. So finden CLR James’ »Black Jacobins«, Eric Williams’ »Capitalism and Slavery«, oder Walter Rodneys »How Europe Underdeveloped Africa« Eingang in sein Buch, inklusive ihrer damaligen Rezeption. In ihren Analysen spielten auch die Herrschaftsverhältnisse auf dem Kontinent und jene, die sich im Zuge der Kreolisierung in der Karibik herausbildeten, eine Rolle, die French nicht ausspart.
In den letzten Jahren hat es viele Veröffentlichungen zur Schwarzen Geschichte gegeben. Es gab auch eine Zunahme zivilgesellschaftlicher Initiativen für eine neue Erinnerungspolitik und Bewegungen, die eurozentrische Mythen infrage stellten. Denn die ebenso lückenhafte wie beschönigende Geschichtsschreibung dient bis heute als Begründung für die ungleiche Entwicklung und die europäische Dominanz. Die südafrikanische Bewegung Rhodes Must Fall, die 2015 in der Entfernung einer Statue des Industriellen und Rassisten Cecil Rhodes vor der Universität Kapstadt gipfelte und die Angriffe auf Statuen bekannter Profiteure von Sklaverei und Kolonialismus seit ein paar Jahren zeigen, dass auf beiden Seiten des Atlantiks um die Anerkennung historischen Unrechts gekämpft wird. Es verdeutlicht aber auch den Unwillen vieler im Westen, sich mit dieser Geschichte auseinanderzusetzen.
Als New-York-Times-Korrespondent und Universitätsprofessor für Journalismus wird French sein Publikum wohl gut kennen, insgesamt entsteht bei der Lektüre der Eindruck einer gewissen Distanz und eines Blicks »von oben«. Diese Erzählweise ist im liberalen, bürgerlichen Journalismus und insbesondere der Auslandsberichterstattung weiter in Mode.
An einer Stelle plädiert French mit Bezug auf die historisch gewachsenen Probleme wie die anhaltende Ausbeutung oder die Klimakrise: »Aufhalten lassen sich diese katastrophalen Entwicklungen nur durch eine konzertierte Aktion, die dem Kontinent hilft, seine derzeitige Situation drastisch zu verbessern.« Indem der Autor hier eher das Framing der Hilfe als Lösung vorschlägt, widerspricht er der historischen Erfahrung. Forderungen vom Kontinent und der Diaspora zu besagter Verbesserung der Lage gibt es schon, sie müssen nicht erarbeitet werden und plädieren auch nicht für Hilfen, sondern unter anderem für Schuldenschnitte, Reparationen, eine Abschaffung des Neokolonialismus und die Dominanz multinationaler Unternehmen sowie eine massive Umverteilung.
Dass Gegenerzählungen zur Entstehung der Welt von heute im Mainstream Einzug halten, ist auf den ersten Blick eine positive Veränderung. Doch wenn selbst Regierungskreise mit Konzepten der »Dekolonialisierung« hantieren, bedeutet das nicht, dass sich nun alles ändert.
Die bisher signalisierte Bereitschaft, sich auf eine Diskussion über historische Ereignisse einzulassen, ist eine Verzögerungstaktik, um die Dämme zwischen Vergangenheit und Gegenwart intakt zu halten. Viele der heutigen Probleme des Kontinents haben zwar ihre Wurzeln in der kolonialen Ausbeutung. Relevanter ist jedoch, dass sie sich in den heutigen neokolonialen Verhältnissen fortsetzen und daher radikalere Lösungen erfordern, als sie auf diplomatischer Ebene und unter den gegenwärtigen zwischenstaatlichen Macht- und Interessenverhältnissen möglich sind.
Diese Frage weiterhin unter dem Gesichtspunkt der Wohltätigkeit zu diskutieren, zementiert die Machtverhältnisse. Die kosmetischen Vorschläge der Diplomatie sollen und können die Ursachen multipler Krisen nicht beseitigen. Das bedeutet, dass wirkliche Veränderungen weiterhin von den Menschen auf dem Kontinent und in der Diaspora erkämpft werden müssen. Das haben schon die Schwarzen Marxist*innen erkannt.
Howard W. French: Afrika und die Entstehung der modernen Welt. Eine Globalgeschichte. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2023. 512 Seiten, 35 EUR.