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Heimlicher Bürgerkrieg

Die Angehörigen der Vermissten von Ayotzinapa in Mexiko warten immer noch auf Aufklärung

Von Tlachinollan

Menschen mit Pappschildern auf denen Gesichter abgebildet sind dahinter die Zahl 43 aus Plastik in rot
Es bleibt ein Politikum: Demonstration für weiterhin Vermissten. Foto: PetrohsW / Wikimedia, CC BY-SA 4.0

Der Fall sorgte weltweit für Schlagzeilen: Ende September 2014 wurden in der Stadt Iguala Studierende der Escuela Normal Rural de Ayotzinapa, einer Art Hochschule, von Polizei und Militär angegriffen. Die Lehramtsanwärter (ausschließlich Männer, im Folgenden Normalistas genannt) waren mit Reisebussen auf dem Weg zu einer Demonstration nach Mexiko-Stadt. Der Anlass: der Jahrestag des »Massakers von Tlatelolco« an der Studierendenbewegung 1968. Sechs Menschen starben bei dem Angriff auf den Reisebus – 43 Normalistas wurden von Sicherheitskräften an eine Mafia-Gruppierung übergeben und gelten seither als verschwunden. Anschließend wurde die staatliche Beteiligung am Geschehen systematisch vertuscht. Die Motive und der genaue Tathergang sind nach wie vor ungeklärt.

Schmutziger Krieg

In der Berichterstattung stehen meist (lokale) kriminelle Gruppen und Korruption im Fokus. Dabei war die Tat nur durch die politische Repression in der Region möglich, die auch die Hochschule traf. Der Bundesstaat Guerrero, in dem sie liegt, ist seit Jahrzehnten ein Epizentrum der Gewalt. Die Ursprünge der Gewalt liegen den Angehörigen zufolge im »Guerra Sucia« – der teils geheimen Aufstandsbekämpfung im Rahmen des Kalten Krieges ab den 1960er Jahren. Damals sei in Guerrero ein Komplex aus unkontrolliertem Militärapparat, korrupter Politik und organisiertem Verbrechen entstanden, der die Region bis heute prägt.

2022 wurden 83 neue Haftbefehle ausgestellt, etwa gegen hochrangige Mitglieder des Militär-, Polizei- und Justizapparates.

Die Normalistas sind seit jeher eng mit den sozialen Bewegungen verbunden. Das Konzept der Normales Rurales (in Mexiko existieren bis heute 16) entstand in den 1920er Jahren im postrevolutionären Mexiko und beinhaltet ein Konzept der Massenbildung, das sich an den Bedürfnissen der Armen in ländlichen Regionen und an sozialistischen Idealen orientiert. Sowohl Lehrende als auch Studierende des Internats kommen aus marginalisierten (oft indigenen) Communities. Dabei waren die Normalistas von Ayotzinapa auch vor 2014 immer wieder Ziel von teils tödlicher Repression. In den Jahren vor der Massenentführung häuften sich die Auseinandersetzungen. 2011 wurden bei einer Demonstration in Chilpancingo, der Hauptstadt Guerreros, zwei Normalistas von der Polizei erschossen, zahlreiche weitere festgenommen und gefoltert. 2013 besetzten in Tixla, wo sich die Schule befindet, kurzzeitig bewaffnete Aufständische den Sitz der Lokalregierung. Die Normalistas galten in diesen Jahren als einer der größten destabilisierenden Faktoren für die Machtstrukturen in der Region.

Die Entführung 2014 markierte den Beginn eines neuen Zyklus von sozialen Kämpfen in Mexiko. Im ganzen Land kam es zu großen Mobilisierungen und heftigen Auseinandersetzungen. Alleine in Guerrero wurden in den Monaten nach der Massenentführung 28 Regierungsgebäude besetzt. Teilweise drangen Demonstrierende in Militäreinrichtungen ein. Das Vertrauen in staatliche Institutionen erreichte einen Tiefstand.

Unwillige Militärs

Der Regierungswechsel 2018 hat die Bedingungen der Auseinandersetzungen verändert. Präsident Andrés Manuel López Obrador versprach im Wahlkampf eine Abkehr vom »alten System« und schonungslose Aufklärung im Fall Ayotzinapa, obwohl er selbst seit Jahren zum politischen Establishment gehört. Tatsächlich wurde die Untersuchung des Falls neu angegangen. Aktuelle Resultate der Wahrheitskommission bestätigen nun auch offiziell, dass die Normalistas bereits seit Jahren intensiv überwacht und bespitzelt wurden. Erwiesen ist auch die direkte Kommunikation zwischen Sicherheitskräften und Mafia-Gruppen in der Tatnacht sowie die staatliche Beteiligung auch auf Bundesebene. 2022 wurden 83 neue Haftbefehle ausgestellt, etwa gegen hochrangige Mitglieder des Militär-, Polizei- und Justizapparates.

Um nur wenige prominente Beispiele zu nennen: Einem damaligen Brigade-Kommandanten und späterem General wird der Befehl zur Hinrichtung von mindestens sechs Normalistas vorgeworfen. Sein Vorgesetzter, später Stabschef des mexikanischen Verteidigungsministeriums, soll genauestens über das Geschehen informiert gewesen sein. Der ehemals Hauptverantwortliche der Ermittlungsbehörden ist ins Ausland geflohen und der jahrelang in dem Fall ermittelnde Generalstaatsanwalt befindet sich mittlerweile in Haft. Im Mai 2023 wurde der damalige Bürgermeister von Iguala, dessen Familie enge Verbindungen zum Organisierten Verbrechen haben soll, erst verurteilt und kurz darauf von einer höheren Instanz – in einem umstrittenen Urteil – freigesprochen, während er in einem anderen Fall wegen Entführung eines Aktivisten im Gefängnis verbleibt.

Trotzdem hält sich die Hoffnung auf Aufklärung in Grenzen. Inzwischen wurden 16 der 22 Haftbefehle gegen Militärs, die an der Entführung beteiligt gewesen sein sollen, von anderer Stelle wieder aufgehoben. Immer noch ist unklar, was mit den Verschwundenen passiert ist. Das Militär verweigert weiterhin die Herausgabe wichtiger Informationen. Die Angehörigen der 43 befürchten, dass die Regierung den Fall abschließen möchte, ohne das Militär anzutasten.

Tlachinollan

ist ein Menschrechtszentrum in der Region »La Montaña«, das soziale Bewegungen in Guerrero unterstützt. Es vertritt die Angehörigen der 43 vor Gericht und begleitet den Kampf um Wahrheit von Beginn an.