Der Superreiche und die kleinen Leute
Nach Berlusconis Tod droht Italien die Gründung einer rechten Einheitspartei
Von Jens Renner
Begeistert war Italiens herrschende Klasse nicht, als Silvio Berlusconi Anfang 1994 seinen Einstieg in die Politik bekanntgab. Gianni Agnelli (1921-2003), der FIAT-Patriarch und Senator auf Lebenszeit, äußerte sich skeptisch und hoffnungsvoll zugleich: »Wenn Berlusconi gewinnt, gewinnen auch wir anderen Unternehmer; wenn er verliert, verliert er ganz allein.«
Berlusconis Erfolg als politischer Quereinsteiger war vor allem das Ergebnis seiner strategischen Fähigkeiten, die er schon als Unternehmer bewiesen hatte: Reich geworden mit Immobilien und einem gigantischen Medienkonzern, verstand er es, sein Kapital in einem historisch einmaligen Moment an der richtigen Stelle zu investieren. Seit einem 1992 aufgedeckten Korruptionsskandal lag die jahrzehntelang regierende Quasi-Staatspartei Democrazia Cristiana (DC) in Trümmern; ihre Bündnispartner*innen, vor allem die von Bettino Craxi angeführte Sozialistische Partei, wurden mit in den Abgrund gerissen. Damit war das riesige Wähler*innenpotenzial rechts der Mitte auf der Suche nach einer neuen politischen Vertretung. Die Marktlücke zu erkennen, war nicht schwer. Sie zu füllen, erforderte vor allem Geld und Skrupellosigkeit. Über beides verfügte Berlusconi.
Die Rehabilitierung der Erb*innen des historischen Faschismus ist das heute offensichtlichste Ergebnis von Berlusconis Wirken.
Der rasend schnelle Aufbau seiner Partei Forza Italia war vor allem das Werk von Berlusconis Werbeagentur Publitalia. Diese castete Kandidat*innen für die im März 1994 angesetzte Parlamentswahl, entwarf Slogans und produzierte ein für die damalige Zeit bahnbrechendes Video, das am 26. Januar 1994 in Berlusconis Fernsehprogrammen ausgestrahlt wurde. Es zeigte ihn in staatsmännischer Pose am Schreibtisch, dann wieder schöne Landschaften und Städteansichten. Berlusconis Monolog begann mit dem Satz »Italien ist das Land, das ich liebe« und endete mit dem Versprechen, Italien vor den »Linken und Kommunisten« zu retten: »Sie glauben nicht an den Markt, sie glauben nicht an die Privatinitiative, sie glauben nicht an den Profit, sie glauben nicht an das Individuum.« Den Ungläubigen setzte er »unsere« eigenen Bekenntnisse entgegen: zu Individuum, Familie, Unternehmertum, Effizienz und freiem Markt.
Bündnis mit den Neofaschist*innen
Der superreiche Patriot stellt sich in den Dienst der kleinen Leute. Dies war die über Jahrzehnte unveränderte Botschaft an die verunsicherten Massen auf der Suche nach einem starken Mann, der ihre Sorgen verstand. In Wahlkämpfen müsse man Formulierungen finden, die auch ein durchschnittlich intelligentes elfjähriges Kind verstehen könne, erklärte Berlusconi später.
Der Erfolg gab ihm Recht. Schon zwei Monate nach seinem spektakulären Einstieg in die Politik gewann Forza Italia die Wahl, und Berlusconi wurde Ministerpräsident. Das gelang allerdings nur mit Hilfe eines Tabubruchs. Um das rechte Potenzial voll auszuschöpfen und eine parlamentarische Mehrheit zu erreichen, musste er sich nicht nur mit der Lega Nord, sondern auch mit dem neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI) verbünden. Der aber galt bis dahin auf nationaler Ebene als nicht regierungsfähig. Die Neofaschist*innen, angeführt von Gianfranco Fini und der Duce-Enkelin Alessandra Mussolini, erkannten ebenfalls die Gunst der Stunde, benannten sich um in Alleanza Nazionale (AN) und erreichten ein Rekordergebnis von 13,4 Prozent. Die Rehabilitierung der Erb*innen des historischen Faschismus ist das heute offensichtlichste Ergebnis von Berlusconis Wirken: Ohne seinen Tabubruch gäbe es keine Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die ganz offen ihre ideologischen Prägungen zur Schau stellt.
In den meisten Nachrufen richtet sich die sparsame Kritik allerdings eher gegen den Skandalpolitiker Berlusconi: seine Bunga-Bunga-Partys, Beziehungen zu Minderjährigen, Kontakte zur Mafia, Mitgliedschaft in der Geheimloge P2, Korruptionsvorwürfe und letztlich ergebnislose Strafverfahren, die Freundschaft mit Putin. Sicher war er nicht »der erste Populist«, wie die Tageszeitung La Repubblica in ihrer Titelschlagzeile einen Tag nach seinem Tod behauptete. Aber mit seinen absichtlich politisch unkorrekten Auftritten hat er die Schwelle des öffentlich Sagbaren deutlich gesenkt. Dabei benutzte er die Methode »dire e disdire«; auf Kritik an einer diskriminierenden, rassistischen oder geschichtsrevisionistischen Äußerung folgte das Dementi: Er habe das nie gesagt. Konnte ihm das Gegenteil bewiesen werden, folgte der Teilrückzug: Er habe das Gesagte ganz anders gemeint oder nur einen Witz gemacht. All das gehört auch zum Repertoire anderer Politiker*innen. Übertroffen wurde Berlusconi darin aber allenfalls von Donald Trump.
Die nationale Einheitspartei – ein Albtraum
Es mag paradox erscheinen, aber für Giorgia Meloni wird das Regieren mit dem Ableben ihres egozentrischen Partners und Konkurrenten nicht leichter. Ob Berlusconis Erb*innen weiter viel Geld in die ohnehin kränkelnde Partei stecken werden, ist fraglich. Schon jetzt gibt es Hinweise, dass viele Funktionsträger*innen von Forza Italia lieber heute als morgen das sinkende Schiff verlassen und bei Melonis nach wie vor boomenden Fratelli d’Italia (FdI) anheuern würden. Meloni aber hat – mit Blick auf die Stabilität ihrer Regierung – an massenhaften Übertritten derzeit kein Interesse. Sie plant erst einmal nur eine gemeinsame Liste von FdI, Forza Italia und kleineren Mitte-Rechts-Gruppierungen für die Wahl zum Europäischen Parlament 2024.
Danach werden die Karten neu gemischt. Melonis mittelfristige Vision bleibt die große rechte Einheitspartei. Die gab es schon einmal. 2009 nötigte Berlusconi die Neofaschist*innen der Alleanza Nazionale zur Fusion mit Forza Italia. Die daraus entstandene Partei Popolo della Libertà (PdL) bestand allerdings nur bis 2013. Meloni, 2009 unter Berlusconi Ministerin für Jugend und Sport, trat schon 2011 von diesem Amt zurück, verließ den PdL und gehörte ein Jahr später zu den Gründer*innen der Fratelli d’Italia. Mit ihrem Rücktritt als Ministerin, schreibt sie in ihrem 2021 erschienenen Bestseller »Io sono Giorgia«, »begann alles, was schon zu Ende schien«: die Rückkehr zu den ideologischen Wurzeln, weg von Berlusconis Schlingerkurs gegenüber den EU-Gremien, die Absage an Italiens nationale »Subalternität«. Es wäre eine bittere Ironie der Geschichte, wenn das große rechte Gemeinschaftsprojekt nunmehr neu aufgelegt würde: mit umgekehrtem Kräfteverhältnis und einer durchregierenden Neofaschistin an der Spitze.
Mitmachen würden vermutlich auch Exponent*innen der von allen Seiten umworbenen »Mitte«. Der Versuch von Matteo Renzi und Carlo Calenda, einen »dritten Pol« zwischen Links und Rechts zu etablieren, ist gescheitert. Renzi, zwischen 2014 und 2016 Mitte-Links-Premier für tausend Tage, schwadronierte damals, auf der Höhe seiner Popularität, von einer zu gründenden »Partei der Nation«. Gerüchte, er könne an die Spitze der durch Berlusconis Tod führungslosen Forza Italia treten, dementierte er. Vielleicht nur aus Pietät.