Die Ableitungsfalle
Der Band »Die Diversität der Ausbeutung« erklärt den gegenwärtigen Rassismus nur aus der Theorie
Von Gerhard Hanloser
Der Anspruch von Eleonora Roldán Mendívil und Bafta Sarbo, auch im Antirassismus das Marxsche Erbe als Methode geltend zu machen, ist Aufgabe wie Herausforderung gleichermaßen. Ihr Plädoyer gegen ein hohles liberales Toleranzverdikt und für einen materialistischen Rassismusbegriff ist stark. Allerdings wollen sie Rassismus in erster Linie auf eine koloniale »Überausbeutung der Arbeitskraft« zurückführen – ein Begriff, der bei Marx nicht vorkommt. An anderer Stelle sprechen sie sogar von einer »objektiven Gedankenform«, die sich aus dem Verhältnis von Ausbeutung und Überausbeutung ergeben würde.
An diesen Stellen hören sich ihre Überlegungen an, als bewegten sie sich auf den Spuren des Ableitungsmarxismus der 1970er Jahre. Demnach können alle möglichen Ideologien, aber auch Herrschaftsverhältnisse bis hin zum Staat aus den Basisstrukturen kapitalistischer Vergesellschaftung erklärt, wenn nicht sogar »abgeleitet« werden. Im Übrigen sind auch die Überlegungen des kanadischen Historikers und Philosophen Moishe Postones zur Erklärung des nationalsozialistischen Antisemitismus von dieser Denklogik geprägt. So will er den NS-Antisemitismus als »antikapitalistische Revolte« und sogar die Vernichtungspolitik in Auschwitz aus der Warenstruktur der kapitalistischen Produktionsweise selbst ableiten. Damit ist freilich suspendiert, dass antisemitische wie rassistische Subjekte auch spezifische psychische Dispositionen aufweisen. Zuweilen folgen sie einer Logik, die sich kapitalistischen Basiskategorien schlicht entzieht.
Ohne Geschichte
Rassismus und Antisemitismus haben eine Geschichte in einem spezifischen geografischen Raum. In Deutschland hat der NS-Antisemitismus eine Vorgeschichte, die mindestens bis zur Gründerkrise 1873 zurückführt. Beide Ideologien verweisen auf kulturelles Erbe, staatliche Praxis, sind Teil davon und sind eingebettet im Rahmen des Nationalstaats und seiner nationalistischen Selbstlegitimationen. Rassismus wie Antisemitismus müssen im Spiegel der historischen Entwicklung betrachtet werden. Sie unterliegen einer zuweilen gigantischen Transformation.
Das Buch bewegt sich auf den Spuren des Ableitungsmarxismus der 1970er Jahre.
Neben den Anklängen an eine Ableitungslogik wird dies in dem Buch »Die Diversität der Ausbeutung« auch deutlich gemacht. So weisen die beiden Autorinnen und ihre Autor*innen völlig zu Recht auf Rassifizierungsprozesse innerhalb des Kapitalismus hin. Demnach ist Rassifizierung ein Teil von Klassenbildung. So konnten in der Zeit der Kolonisierung und im langen Prozess zwischen der Entstehung des Kapitalismus und der vollständigen Etablierung des Kapitalismus als Klassengesellschaft »white workers« ihre erodierende Klassenposition akzeptieren, indem sie sich als »not slaves« oder »not Blacks« selbst definierten. Später im nationalistischen deutschen Wiedervereinigungstaumel und während der Pogrome von Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda musste die damals aktive Linke diese rassistische Subjektkonstitution als deutsche Arbeiter*innen gegenüber Asiat*innen, Rom*nja oder den mosambikanischen Vertragsarbeiter*innen beobachten. Diese waren opportune und von Staatsseite angebotene Objekte zur Abfuhr von Hass, der sich angesichts des gesellschaftlichen Schocks, den sie in der Anschlusszeit erlebten, bei einigen Ostdeutschen aufgebaut hatte.
Wenn wir aktuellen Rassismen nachgehen und beispielsweise den antimuslimischen Rassismus von Bewegungen wie Pegida begreifen wollen, so fällt vor allem seine Unterscheidung vom klassischen »wissenschaftlichen« Rassismus ab dem 19. Jahrhundert ins Auge: Er geht nicht von einem angeblich klaren »Rasse«-Begriff aus, sondern verlegt sich auf die Ebene der »Kultur«. Hier munitioniert er sich zuweilen mit staatslaizistischen Positionen wie in der Kopftuchdebatte und versucht so, sich in der Tradition der Aufklärung zu situieren. Eine Kritik, dass man es mit klassischem Rassismus zu tun habe, läuft dann zuweilen ins Leere. Konkurrenzverhältnisse auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt bilden sicherlich den übergeordneten Rahmen. Sie befeuerten die Abwehr gegen den »Sommer der Migration«, beziehungsweise leiteten jene Bevölkerungsteile an, die gegen »Willkommenskultur« und die weitere Aufnahme von Flüchtenden polemisierten oder sich in der AfD organisierten. Doch mengten sich ganz andere Zuschreibungen in den antimuslimischen Rassismus, die sich der Kritik der politischen Ökonomie im engeren Sinne entzieht wie der Terrorismusverdacht mit seinen jeweiligen Konjunkturen.
Im Hass auf Sinti*zze und Rom*nja kommt mitunter ein Rassismus zum Ausdruck, der sich stärker psychoanalytisch erklären lasst als unmittelbar materiell. In die Angstlust, die in den auf sie projizierten Anklagen zum Ausdruck kommt, sie würden nicht arbeiten, seien dreckig, würden ihre Reproduktion durch Stehlen bestreiten, sind mehr eigene verdrängte Wünsche als Realitätspartikel beigemischt. Im anti-Schwarzen Rassismus sind von Neid getriebene sexuelle Angstlustfantasien bei Weißen in weit stärkerem Maße vorherrschend als beispielsweise im Antisemitismus, dessen Subjekte diesen Motivlagen manchmal auch folgen. Mit der »Methode Marx« lässt sich hier nicht alles fassen und erklären.
Komplexe Wirklichkeit
Ähnlich verhält es sich mit der drastischen Repression und Negativmarkierung, denen aktuell Palästinenser*innen ausgesetzt sind. Bei den pauschalen Verboten ihrer Demonstrationen haben wir es mit behördlicher Willkür zu tun, gekoppelt mit medialer Stigmatisierung. Der Anti-BDS-Beschluss des Bundestags, der Aufforderungen eines zivilgesellschaftlichen Boykotts Israels unterbinden soll, ist nicht nur von keinem wissenschaftlichen Begriff des Antisemitismus gedeckt und motiviert. Ihm folgen Sonderentscheidungen, die palästinensische Aktivist*innen treffen, sowie linke Jüdinnen und Juden, die sich der zionistischen Ideologie entziehen und Solidarität mit den Palästinenser*innen zeigen wollen. Hier verschränken sich antimuslimischer Rassismus, »Antiterrorismus« und »Antiextremismus« mit einer deutschen Staatsräson, die »Jude« und »Israel« synonym setzt und die Bekämpfung des Antisemitismus mit einer Entlastung versprechenden »Solidarität mit Israel« vermengt. Nicht allein die AfD stellt wohlfeil den »Antisemitismus der Anderen« heraus und betont diesen, um sich selbst vergangenheitspolitisch geläutert zu präsentieren.
Gerade die Linke in Deutschland ist aufgerufen, sich hier geschichtsbewusst und kritisch zu reflektieren. Opfer des Rassismus müssen nicht gut sein. Ihre vermeintliche oder tatsächliche »Schlechtigkeit« war aber stets eine Einladung auch an die Linke, opportunistisch Teil herrschender Semantik, Diskurse und Politik zu werden. Das reicht von einem Zivilisationsbegriff, der in antirussischen Kampagnen bis zum Ersten Weltkrieg eine verheerende Rolle spielte – und an der Marx auch einen Anteil hatte – und endet nicht bei den in den 1920er Jahren auch von Linken artikulierten Herabsetzungen der ostjüdischen Migrant*innen, die ihren Maßstäben von Religionskritik und Aufklärungsdenken nicht entsprachen.
Historisches Wissen und eine konkrete Kritik herrschender Ideologie, die auch – aber nicht allein – zur Marxschen Methode gehören, könnten nicht nur helfen, den liberalen Antirassismus zu überschreiten, sondern ebenfalls den autoritären, vorgeblichen »Anti-Antisemitismus«.
Der Sammelband »Die Diversität der Ausbeutung« wurde in ak 686 von Erkut Bükülmez besprochen. Mit den Thesen des Buches setzten sich Klaus Viehmann (ak 688) und Vincent Bababoutilabo (ak 689) kritisch auseinander. In ak 693 antwortete die Herausgeberin des Buches, Bafta Sarbo. Nun folgt dieser Beitrag von Gerhard Hanloser.