Warteschleife für Menschenrechte
Mit fragwürdigen Sicherheitsverfahren blockiert die Bundesregierung seit Monaten die Aufnahme von Schutzsuchenden aus Afghanistan
Ziemlich genau acht Monate ist es her, dass Bundesinnenministerin Nancy Faeser und Außenministerin Annalena Baerbock mit einer Presseerklärung den Start des lange erwarteten Bundesaufnahmeprogramms für Afghanistan bekanntgaben. Seither ist allerdings noch keine einzige Person im Rahmen dieses Programms nach Deutschland gekommen, nicht einmal Aufnahmezusagen hat die Bundesregierung in der Zwischenzeit erklärt. An mangelndem Interesse von Afghan*innen liegt das nicht.
Dafür, dass zahlreiche Menschen tatsächlich brutal von den Taliban gejagt, bedroht, gefoltert und ermordet werden, gibt es etliche Belege. Der Grund liegt vielmehr darin, dass die Bundesregierung ein kompliziertes, intransparentes und langwieriges Verfahren geschaffen hat, das es offensichtlich nicht erlaubt, gefährdete Personen zügig aus Afghanistan rauszuholen.
Ein Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan war bereits 2021 im Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP vereinbart worden. Es soll sich an Menschen richten, die in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban »besonders gefährdet« sind. Gemeint sind zum Beispiel Personen, die aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung oder wegen ihrer Religion von Verfolgung durch die Taliban bedroht sind. Zur Gruppe der »besonders gefährdeten Afghan*innen« werden darüber hinaus Menschen gezählt, die sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, etwa als Journalist*innen, im Bildungs- oder Kulturbereich, in Politik und Justiz oder durch ihren Einsatz für Menschen- und Frauenrechte »besonders exponiert« haben. Monatlich ist die Aufnahme von bis zu 1.000 Personen vorgesehen.
NGOs als Gatekeeper
Ein wesentliches Problem des Aufnahmeprogramms besteht darin, dass es keine offizielle Anlaufstelle für Antragsteller*innen bzw. »Bewerber*innen« gibt. Diese müssen sich an sogenannte meldeberechtigte Stellen wenden, um Zugang zu dem Programm zu bekommen. Bei diesen Stellen handelt es sich überwiegend um NGOs, wie zum Beispiel Kabul Luftbrücke oder Mission Lifeline, die bereits vor dem Start des Aufnahmeprogramms Menschen aus Afghanistan unterstützt haben.
Mittlerweile existieren über 100 meldeberechtigte Stellen, deren Namen aber nicht zentral veröffentlicht werden. Es ist vielmehr den NGOs überlassen zu entscheiden, ob sie sich als meldeberechtigte Organisationen zu erkennen geben. Viele schreckten davor zunächst zurück, weil sie einen nicht zu bewältigenden Ansturm an E-Mails von verzweifelten Menschen aus Afghanistan fürchteten. Der Zugang zum Bundesaufnahmeprogramm ist somit ungleich verteilt: Wer nicht zufällig schon in Kontakt mit einer Organisation war, die sich an dem Programm beteiligt, bleibt außen vor. Gleichzeitig werden NGOs gegen ihren Willen in die Rolle von Gatekeepern gedrängt, während sie für ihre Mitarbeit an dem Aufnahmeprogramm nicht einmal eine finanzielle Vergütung erhalten.
Um in den »Auswahlpool« zu kommen, müssen Afghan*innen einen rund 40-seitigen, etwa 100 Fragen umfassenden Fragebogen ausfüllen. Dieser ist nicht öffentlich, sondern wird durch die meldeberechtigten Organisationen über einen Link zugänglich gemacht. Erfahrungsberichten zufolge dauert es mehrere Stunden, alle Fragen durchzuarbeiten und einen Fall einzutragen. In der Anfangszeit soll es darüber hinaus zu technischen Problemen gekommen sein, die den Prozess weiter verlangsamten. Im nächsten Schritt erfolgt ein Plausibilitätscheck. Teilweise führen die NGOs diesen selbst durch, andere delegieren diese Aufgabe an eine durch das Bundesinnenministerium (BMI) finanzierte Koordinierungsstelle.
Die Auswahlentscheidungen trifft die Bundesregierung in regelmäßigen Auswahlrunden auf Basis eines nicht öffentlichen Punktesystems. Wie die Anträge gewichtet werden, ist nicht nachvollziehbar. Bekannt ist nur, dass die Bundesregierung sich an den Kriterien wie »personenbezogener Vulnerabilität«, »persönlicher Exponiertheit«, eines »Deutschlandbezugs« und eines »besonderen politischen Interesses Deutschlands an der Aufnahme« orientiert, die auch in der Aufnahmeanordnung genannt werden. Vor allem das letzte Kriterium ist hochgradig unbestimmt und räumt den Entscheider*innen ein kaum zu überschätzendes Ermessen ein.
Die Bundesregierung plant zudem, nur jene Personen zu kontaktieren, die eine Aufnahmezusage erhalten haben. Alle anderen bleiben im »Auswahlpool«, ohne je Informationen über den Stand ihres Verfahrens zu erhalten. Wo es keine Ablehnungen gibt, kann auch nicht geklagt werden. Nach Auffassung der Bundesregierung sind die Auswahlentscheidungen aber ohnehin nicht rechtlich überprüfbar, weil es sich um freiwillige Aufnahmen handelt, auf die kein rechtlicher Anspruch besteht. Das macht die Aufnahmezusagen letztlich zu einem Gnadenakt.
Rechter Hetzkampagne nachgegeben
Die Funktionsweise des Bundesaufnahmeprogrammes ist Ausdruck einer allgemeinen Tendenz in der Migrationspolitik, individuelle Rechte abzubauen und diese durch humanitär begründete »freiwillige Aufnahmen« zu ersetzen. Für diesen Ansatz wirbt seit Längerem Gerald Knaus, der Architekt des EU-Türkei-Deals. Dieser Linie folgt auch der CDU-Politiker Jens Spahn, der vor wenigen Wochen offen die Genfer Flüchtlingskonvention infrage stellte, weil sie nicht mehr zeitgemäß sei, und vorschlug, Staaten könnten sich stattdessen auf die Aufnahme von »Kontingenten« verständigen. Spahns Äußerungen riefen viel Kritik hervor, auch von Seiten der Ampelkoalition. Mit der jüngst erfolgten Zustimmung der Bundesregierung zu den Reformplänen der EU-Kommission für das Gemeinsame Europäische Asylsystem legen Grüne und SPD allerdings längst selbst die Axt an das individuelle Recht auf Asyl in der EU.
Ende März teilte das Auswärtige Amt überraschend mit, alle Visaverfahren auf unbestimmte Zeit auszusetzen.
Ende März teilte das Auswärtige Amt überraschend mit, alle Visaverfahren von afghanischen Staatsbürger*innen auf unbestimmte Zeit auszusetzen. Neben dem Bundesaufnahmeprogramm betrifft dies auch Menschen im Ortskräfteverfahren, die in Afghanistan für die Bundeswehr oder andere deutsche Institutionen gearbeitet haben, sowie Personen, die über die sogenannte Menschenrechtsliste aufgenommen werden, und ihre Familienangehörigen. Auf diesem Wege erhielten bis Mitte März 2023 rund 43.000 Afghan*innen eine Aufnahmezusage.
Grund für die Aussetzung war eine rechte Medienkampagne. Cicero und Bild hatten über angebliche Missbrauchsfälle durch afghanische »Islamisten« beim Bundesaufnahmeprogramm berichtet. Allerdings war an den kolportierten Vorwürfen nichts dran, wie ein Sprecher des Auswärtigen Amtes selbst in der Regierungspressekonferenz Anfang April klarstellte. Bei den problematisierten Fällen sei es in erster Linie um Menschen gegangen, die sich bereits in einem Nachbarstaat aufhielten und somit nicht vom Bundesaufnahmeprogramm erfasst sind. Nur in einem Fall sei es um einen »Gefährder« gegangen, der aber mithilfe der »etablierten Prüfmechanismen« erkannt worden sei. Dennoch hat das Auswärtige Amt entschieden, ein »optimiertes Sicherheitsverfahren« einzuführen. Bis es so weit ist, bleibt die Visavergabe ausgesetzt.
Als Vorbild für die verschärften Sicherheitsüberprüfungen von Afghan*innen dienen Sicherheitsinterviews, die seit einigen Jahren in Relocation-Verfahren bei der Übernahme von aus Seenot geretteten Geflüchteten aus Italien und Malta erprobt werden. Das ergibt sich aus Antworten der Bundesregierung auf Anfragen der Linksfraktion im Bundestag. Bei diesen Interviews werden die Bundespolizei, das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Verfassungsschutz im Auftrag des BAMF tätig. Die Befragungen dauern im Schnitt drei bis vier Stunden, und die Bundesregierung hält geheim, was genau deren Gegenstand ist.
In einer Vielzahl von Fällen wurde die Übernahme von aus Seenot geretteten Asylsuchenden aus »Sicherheitsgründen« abgelehnt, ohne dass nachvollziehbar war, worin die Bedenken bestanden. Die Betroffenen erhielten auch keine anfechtbaren Bescheide, nicht einmal der Grund der Ablehnung wurde ihnen mitgeteilt, weil es sich bei Relocation – wie beim Bundesaufnahmeprogramm – um freiwillige Übernahmen handelt. Dieses dubiose Verfahren soll künftig auch auf von den Taliban verfolgte Afghan*innen angewendet werden.
Warten in Teheran und Islamabad
Neben zusätzlicher Willkür haben die erweiterten Sicherheitsüberprüfungen vor allem den Effekt, die Aufnahme von Menschen aus Afghanistan weiter massiv zu verzögern. Unter der Voraussetzung, dass alle Personen mehrstündige Interviews durchlaufen müssen, wird die Aufnahme von 1.000 Afghan*innen im Monat kaum zu realisieren sein. Die Aussetzung der Visaverfahren führt bereits jetzt dazu, dass etliche Menschen mit Aufnahmezusage außerhalb des Bundesaufnahmeprogramms in Teheran und Islamabad stranden. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes waren Ende April bereits 635 Personen in Islamabad und 830 Personen in Teheran betroffen.
Einer Recherche von NDR Info zufolge warten außerdem 12.600 Menschen mit Aufnahmezusage in Afghanistan auf ihre Ausreise und ihr Visumverfahren. Die neuen Sicherheitsinterviews sollen ausschließlich an der Botschaft in Islamabad durchgeführt werden. Hunderte Afghan*innen müssen deshalb wieder aus dem Iran aus- und von dort nach Pakistan einreisen, was viele neue Schwierigkeiten und Risiken mit sich bringt. Letzte Woche teilte die Bundesregierung immerhin mit, sie rechne mit der Wiederaufnahme der Visaverfahren in Islamabad »noch im Juni«.
Die Verzögerungstaktik deutet darauf hin, dass entscheidende Kräfte im BMI das Aufnahmeprogramm am liebsten begraben würden, bevor es richtig begonnen hat – die CDU fordert das sowieso. Für Zehntausende Menschen in Afghanistan, die dringend auf einen sicheren Fluchtweg angewiesen sind, wäre das eine Katastrophe. Es bleibt zu hoffen, dass es linken Akteur*innen und NGOs gelingt, so viel Druck aufzubauen, dass die Bundesregierung sich diesen Schritt nicht erlauben kann – und das Bundesaufnahmeprogramm endlich umgesetzt wird.