»Von außen gestärkt, von innen geschwächt«
Ex-GKN-Arbeiter Dario Salvetti über eine zweijährige Fabrikbesetzung
Interview: Lukas Ferrari und Julia Kaiser
Wie würdest du die derzeitige Stimmung im Fabrikkollektiv beschreiben?
Dario Salvetti: Der Kampf befindet sich in einem sehr widersprüchlichen Moment. Nach außen ist die Solidaritätsbewegung stärker denn je: Hier in der Fabrik gab es das Working Class Literaturfestival mit 2.800 Teilnehmer*innen, in Florenz Ende März eine Demonstration mit 15.000 Menschen. Wir sind auch ständig auf Tour in Italien, Frankreich oder Deutschland. Wir werden zu einem ökosozialistischen Symbol. Auch das Crowdfunding war erfolgreich. Aber innerhalb der Belegschaft sind wir schwächer denn je, und der Wunsch nach einem festen Einkommen wird zunehmend dringlicher. Es gibt Stimmen, die Teile des Kollektivs dafür kritisieren, dass sie sich für Maximalforderungen und eher für politische Fragen interessieren, aber nicht für die alltäglichen Bedürfnisse der Kolleg*innen.
Wie geht ihr individuell und kollektiv mit der Tatsache um, dass ihr seit November 2022 kein Kurzarbeitergeld mehr ausgezahlt bekommt?
Sieben Monate ohne Einkommen sind de facto eine Entlassung. Wir sind aber nicht mal anerkannt als Arbeitslose. Würde der Chef uns entlassen, dann wüssten wir, dass der Arbeitsvertrag für alle endet. Derzeit aber gibt es keinen Moment, den alle teilen – die Belegschaft ist gespalten. Mit der Schließung haben wir eine Solidaritätskasse aufgebaut. Circa 40.000 Euro wurden von uns Arbeiter*innen in die Solidaritätskasse eingezahlt. Es gibt auch einen Kredit von über 250.000 Euro der genossenschaftlichen Banca Etica. Aber das reicht nicht, um das Einkommensproblem zu lösen. Wir reden von über 1,5 Millionen Euro monatlichem Lohn, der hier ausgezahlt wurde.
Dario Salvetti
war bis zur Entlassung am 9. Juli 2021 beim Autozulieferbetrieb GKN beschäftigt und ist einer der Kernaktivist*innen der seitdem andauernden Besetzung der Fabrik. Foto: Cedric Büchling
Das klingt ziemlich prekär…
Im Jahr 2008 lebten in Italien 1,5 Millionen Menschen in absoluter Armut. Heute sind es 5,8 Millionen. Das heißt, in 15 Jahren hat sich die Anzahl verdreifacht. Man fragt sich immer: Wie können diese Menschen überleben? Und wie kann es sein, dass keine Kämpfe entstehen? Aber wir versuchen die Stille zu durchbrechen, zum Beispiel in Kooperation mit einer Arbeitsloseninitiative aus Neapel, die diesen Zustand ebenfalls skandalisiert.
Wie unterstützt euch die zuständige Gewerkschaft FIOM derzeit?
Das ist schwer zu sagen. Bei den Krisengesprächen mit der regionalen Regierung steht sie voll hinter uns. Aber sie schlägt keine Mobilisierungsstrategie vor. Das heißt, sie hilft weder hier bei der permanenten Betriebsversammlung noch führt sie legale Kämpfe. Wenn du nur in Worten, aber nicht mit Taten den Kampf unterstützt, fragen sich unsere Kolleg*innen natürlich irgendwann, was diese FIOM überhaupt tut.
Was könnte sie deiner Meinung nach tun?
Das Problem ist Folgendes: Wir führen diesen Kampf nicht nur für uns, sondern für die gesamte Arbeiterbewegung. Wir müssen einen Weg finden, das deutlich zu machen, sonst bleibt unser Kampf isoliert. Wenn ich in der FIOM etwas zu sagen hätte, würde ich Folgendes tun: unseren Kampf unterstützen und damit einen Präzedenzfall schaffen, der auf andere Kämpfe ausstrahlt.
Und wie trefft ihr als Kollektiv in dieser schwierigen Situation Entscheidungen?
Früher haben wir Demokratie am Arbeitsplatz gelebt, durch das Delegiertensystem, durch die Teilnahme an Streiks usw. Seit dem 9. Juli 2021 gibt es eine Spannung zwischen denen, die passiv sind, aber Demokratie wollen, und denen, die aktiv sind und versuchen, eine partizipative Demokratie zu entwickeln. Auf der Seite der Aktiven entsteht die Tendenz, Entscheidungen allein zu treffen. Auf der anderen Seite wird die Demokratie als Vorwand benutzt, um den Kampf anzugreifen, ihn zu schwächen. Wenn ich zum Beispiel jeden Tag hier bin und Entscheidungen treffe und dann von Leuten angegriffen werde, die einen Monat hier sind und dann wieder verschwinden, dann ist das keine Demokratie. Aber im Prinzip treffen wir uns jede Woche in einer Vollversammlung.
Und da kommen dann alle 200 weiterhin involvierten Arbeiter*innen?
Aktuell sind es durchschnittlich immer 120 bis 130 Arbeiter*innen. Vorher haben wir uns am Arbeitsplatz viel häufiger gesehen. Jetzt wohnen manche weit weg, wir haben kein Einkommen und die Benzinpreise sind hoch. Dass es nicht mehr so leicht ist, alle zusammenzutrommeln, wird von unseren Gegner*innen genutzt, um uns zu diskreditieren. Das ist aber Blödsinn: Wüssten wir, dass wir die Minderheit sind, dann würden wir nicht so voranschreiten.
Diskutiert ihr über die Widersprüche, die eine selbstverwaltete Produktion mit sich bringen würde?
Jeden Tag. Wir wissen, dass das System nicht will, dass hier eine Genossenschaft entsteht. Weil dann alle wüssten, dass diese Genossenschaft ein Ergebnis dieses Kampfes ist. Eine Genossenschaft, die kapitalistisch rentabel ist, wäre für das System gefährlich. Wir sehen das an den Widerständen, die es gegen unser Projekt gibt. Ich hoffe, dass die Diskussion bald konkret geführt wird – anhand der Umsetzung unserer Projekte.