Neues Internet, alte Investor*innen
Das »Web3« verspricht digitale Selbstbestimmung – läuft aber auf die Unterwerfung unter kapitalistische Zwänge hinaus
Von Malte Engeler
Wie kann es sein, dass das kapitalistische System, das dem Privileg weniger dient und dafür das Elend vieler bedingt, über Jahrhunderte den Status quo beibehalten kann? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht allein eine Frage für die Geschichtswissenschaften, sondern gibt uns Instrumente an die Hand, mit denen wir sozio-technologische Entwicklungen identifizieren können, die die kapitalistische Vorherrschaft festigen würden. Zu untersuchen wäre auch das Digitale und aktuell konkret das Phänomen des »Web3«.
Web3 ist ein Sammelbegriff für die Idee, »das Internet zu retten«. Dies drückt bereits der Name aus, der die vermeintliche Überlegenheit von Web3 gegenüber dem aktuellen Web 2.0 – dem Internet der Plattformen – symbolisiert. Die Web3-Community hat dabei eine bestimmte Art der Rettung im Sinn. Als zentrales Problem des Web 2.0 wird vor allem die Marktmacht einzelner datenausbeutender Digitalkonzerne benannt. Web3 soll diesen digitalen Großgrundbesitzenden die Kontrolle über die Daten wieder entreißen und den Nutzenden zurückgeben. Der Weg dahin ist laut Web3 die Einführung von Dateneigentum.
Stummer Zwang
Um zu beurteilen, welche Auswirkungen die Konzepte des Web3 innerhalb des kapitalistischen Systems hätten, ist es hilfreich, sich in Erinnerung zu rufen, wie dieses die menschliche Gesellschaft im Allgemeinen prägt. Søren Mau stellt in seinem Buch »Stummer Zwang« (ak 678) dar, wie der Kapitalismus seinen Würgegriff um die Gesellschaft verstärkt, indem er die materiellen Bedingungen der sozialen Reproduktion (um)gestaltet. In der marxistischen Theorie wird dieser Vorgang als Subsumtion bezeichnet und als ein formaler und materieller Prozess dargestellt.
Zunächst strukturiert der Kapitalismus die Arbeitsbedingungen lediglich formal nach seinen Bedürfnissen und formt schließlich auch die materiellen Bedingungen nicht nur des wirtschaftlichen, sondern auch des kulturellen und politischen Lebens. Auf diese Weise prägt sich die Logik des Kapitalismus in jeden Aspekt der Gesellschaft ein und verändert die materielle Realität selbst, bis das menschliche Leben und die Reproduktion von der Unterwerfung unter diese Realität abhängen. Der Kapitalismus überdauert demnach, weil der Ausbruch aus seinem strukturellen Rahmen den Preis des individuellen Überlebens hat.
Das Web3 zwingt uns in die Rolle von Cyberlibertären, die das Recht auf Dateneigentum verteidigen.
Die Beständigkeit des Kapitalismus wird darüber hinaus auch durch subtile Dynamiken gewährleistet. Die Ökonomin Grace Blakeley gibt dafür in ihrem Buch »Stolen« ein anschauliches Beispiel. Ihre Schilderung des Aufstiegs des Thatcherismus leitet sie mit einem Zitat von Sandra Cavalcanti, der ehemaligen Präsidentin der brasilianischen Wohnungsbank, ein: »Wohneigentum macht Arbeitende zu Konservativen, die das Recht auf Eigentum verteidigen.« Hierin zeigt sich ein Schlüsselelement der neoliberalen gesellschaftlichen Umstrukturierung: In dem Maß, wie die soziale Reproduktion systemisch vom Wohlergehen der kapitalistischen Verhältnisse abhängig gemacht wird, wird die Infragestellung seiner Hegemonie individuell selbstzerstörerisch.
Die Verteidigung eben dieses Systems – sei es noch so ausbeuterisch – wird zu einer individuellen Notwendigkeit, und die Idee von Widerstand entschwindet in den Bereich des Undenkbaren. Am Ende dieser Entwicklung steht das, was der Kulturwissenschaftler Mark Fisher als kapitalistischen Realismus bezeichnete: Ein kollektiver Geisteszustand, der unfähig ist, sich etwas anderes als den Status quo vorzustellen. Der Kapitalismus ist in diesem Stadium nicht mehr auf Gewalt oder Propaganda angewiesen. Er hat eine sich selbst erhaltende Qualität erreicht, aufrechterhalten allein durch den stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse.
Anarchie und Unterwerfung
Diese Entwicklung unterwirft das gesamte politische und kulturelle Leben dem Primat ökonomischer Verwertung und formt es dabei um. Spätestens seit den 1990er Jahren ist auch das World Wide Web davon betroffen. Als die akademische Nutzung des frühen Internets zugunsten kommerzieller Plattformen in den Hintergrund trat, wandelte sich die Online-Welt von einem Raum der Wissensvermittlung in einen Raum des privatisierten Profits.
Damit begann der Prozess der kapitalistischen Subsumtion des Digitalen. Persönliche Webseiten des Web 1.0 wurden durch digitale Plattformen des Web 2.0 ersetzt. Dort existieren persönliche Inhalte in einem Raum, der der Verfügungsgewalt kommerzieller Plattformen und ihren Verwertungsinteressen unterliegt. Wegen des Komforts, den Facebook, Twitter, Instagram oder TikTok dank entsprechender Investitionen bieten können, haben die Blogs des Web 1.0 keine Chance.
Die Unterwerfung der digitalen Welt unter die Logik der kapitalistischen Verwertung schreitet zwar voran, aber eine unentrinnbare systemische Abhängigkeit liegt nur in Ausnahmefällen vor. In den meisten Gesellschaften ist es noch möglich, das Digitale zu ignorieren, ohne das tägliche Überleben zu gefährden. Eine wirksame Unterwerfung des Digitalen erfordert ein Maß an Abhängigkeit von digitalen Gütern, das der digitalen Welt derzeit noch fehlt.
Eine derartige Abhängigkeit würde zweierlei voraussetzen. Einerseits müssten digitale Verhältnisse untrennbar mit sozialer Reproduktion verknüpft werden und andererseits müssten diese Verhältnisse einer ausschließlichen Verfügungsgewalt Dritter ausgesetzt sein. Diese tiefgreifende Subsumtion des Digitalen würde ein soziales Verhältnis zwischen digitalen Individuen voraussetzen, für das wir im Analogen bereits einen Namen haben: Eigentum.
Eigentum ist das zentrale gesellschaftliche Abhängigkeits- und Ausschließlichkeitsverhältnis des Kapitalismus. Es ermöglicht im Zusammenspiel mit einer rechtlichen und staatlichen Durchsetzung die Privatisierung von Vermögen und den Ausschluss anderer von ihm.
Es ermöglicht die Ungleichheiten und Abhängigkeiten des Kapitalismus und ist damit ein Kernbestandteil der Unterwerfung des Alltags unter die Logiken von Markt und Verwertung. »Waren müssen propertisiert werden, um für den Markt kontrollier- und veräußerbar zu sein«, schreibt die Philosophin Eva von Redecker. Die meisten Aspekte unseres analogen Lebens sind eigentumsähnlich erfasst. Die digitale Welt hingegen hat sich – abgesehen von speziellen Teilbereichen – bisher einer ähnlichen Form exklusiver eigentumsförmiger Kontrolle entzogen.
Eigentumsfetisch des Web3
Genau hier setzt nun das Web3 an. Der Begriff »Web3« wird Gavin Wood zugeschrieben, einem der Entwickler der Ethereum-Blockchain. Der Zusammenhang zwischen Eigentumsfetisch und Blockchain ist dabei nicht zufällig. Blockchain, eine jahrzehntealte Datenbanktechnologie, ist ein Kernelement des Web3. Diese Art von Datenbank hat zwei charakteristische Eigenschaften: Einträge in der Datenbank sind unveränderlich und die Datenbank selber wird ohne eine zentrale Autorität verwaltet.
Beide Eigenschaften werden als Vorteile gepriesen, haben aber auch immense Nachteile. Die Unveränderlichkeit kollidiert mit den Grundsätzen des Datenschutzes, da Informationen niemals gelöscht werden können, sobald sie der Blockchain hinzugefügt wurden. Und die Dezentralität der Blockchains verhindert im Falle von Eingabefehlern oder technischen Macken praktisch jede Gegenwehr, da es keine vermittelnde Instanz gibt, die Streitigkeiten schlichten könnte. Das gesellschaftliche Äquivalent zu den technischen Prinzipien der Blockchain-Datenbank wäre eine marktradikale Überwachungsgesellschaft.
Bis heute sind die einzigen praktischen Anwendungsbereiche der Blockchain spekulative Kryptogüter wie Bitcoin. Dort dient eine Blockchain als Buchführungs- und Bilanzgerüst. Web3 versucht nun, Anwendungsmöglichkeiten für die Blockchain zu finden, die über die Buchung von Transaktionen von Crypto-Glücksspiel hinausgehen. Die Ambitionen sind umfassend: Die Community hinter Web3 schlägt vor, alle persönlichen digitalen Interaktionen und Attribute auf Blockchains aufzuzeichnen.
Jeder digitale Akt soll durch unveränderliche digitale Datensätze repräsentiert und einzelnen Nutzenden zugeordnet werden. Die auf einer solchen Struktur aufbauenden Online-Plattformen würden sich rein optisch zwar nicht unbedingt von den bekannten Web-2.0-Diensten unterscheiden. Sie würden aber in qualitativ neuer Weise durch das Konzept des Dateneigentums durchdrungen werden. Nach den Vorstellungen der Web3-Community würde jeder Beitrag, jedes Bild, jeder Tweet, jedes Like und jeder Kommentar unter der ausschließlichen Kontrolle Einzelner stehen.
Aber Web3 stellt sich nicht nur ein propertisiertes, auf Eigentum basierendes Web 2.0 vor. Es geht auch um die Schaffung und Nutzung von 3D-Umgebungen durch Virtual Reality. In dieser sollen alle Aspekte der materiellen Welt dupliziert werden. Vom virtuellen Land bis hin zu Autos oder Häusern würde alles ausschließlich und unveränderlich durch entsprechende Blockchain-Einträge repräsentiert. Sogar die Nutzenden selbst, vertreten durch virtuelle Avatare, sollen als digitale Zwillinge nachgebildet werden, deren Attribute, von den Gliedmaßen bis zur Frisur, als digitale Aufzeichnungen in der Blockchain zugeordnet werden. Im Marketingjargon hat sich dafür die Bezeichnung »Metaverse« etabliert.
Verschmelzung von Digitalem und Analogem
Letztlich zielt Web3 nicht nur darauf ab, die analoge Realität in einer propertisierten digitalen Welt nachzubilden, sondern sie will beide miteinander verflechten. Der Zugang zu öffentlichem Nahverkehr, Wohnraum oder Nahrung wird von digitalen Ansprüchen abhängig, die durch Web3-Assets repräsentiert und mit digitalem Blockchain-Eigentum verknüpft werden. Diese digitalen Ansprüche unserer virtuellen Zwillinge werden so mit unserem analogen Selbst und unseren materiellen Bedürfnissen verknüpft. Ein entscheidendes letztes Element dafür sind staatliche digitale Identitäten. Sie verknüpfen – staatlich legitimiert und garantiert – das Blockchain-gestützte Dateneigentum von Web3 mit den materiellen Bedingungen der Reproduktion.
Die Narrative hinter dem Web3 beschreiben das Eigentum an persönlichen digitalen Objekten selbstverständlich als Fortschritt. Das Web3 verspricht digitale Selbstbestimmung, Souveränität oder Kontrolle und ist mit diesen Versprechungen erstaunlich anschlussfähig, zum Teil auch in linken Kreisen. Doch dieses Versprechen ist vergiftet. Denn ein zentrales Element von »Eigentum« ist neben der ausschließlichen Kontrolle auch die Übertragbarkeit.
Die ursprünglich verliehene Verfügungsgewalt hat dann zur Folge, dass die vermeintlich gewonnene Kontrolle unwiederbringlich verloren geht. Im Kontext des Web3, in dem die soziale und kulturelle Teilhabe von digitalem Eigentum abhängig gemacht wird, würde dies den Menschen erlauben, wesentliche Aspekte ihres digitalen Lebens dauerhaft der Verfügungsgewalt Dritter auszuliefern.
Das Äquivalent zu den technischen Prinzipien der Blockchain-Datenbank wäre eine marktradikale Überwachungsgesellschaft.
Ein Handel mit dem neuen digitalen Eigentum unterläge innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft den gleichen ökonomischen Dynamiken, die wir bereits aus der materiellen Welt kennen. Web3 würde zwar die digitale Existenz mit einem neuen Grad an Übertragbarkeit ausstatten. Es würde aber nichts an den wirtschaftlichen Bedingungen ändern, unter denen diese neuen Vermögenswerte verteilt werden.
Die offensichtliche historische Parallele ist die Befreiung der Arbeitenden aus feudaler Abhängigkeit. Ihre neu gefundene Souveränität führte dazu, dass bedeutende Teile der Bevölkerung gezwungen waren, ihre frei gewordene Arbeitskraft unter prekären Bedingungen auf dem Markt anzubieten, da die Produktionsmittel in Privatbesitz blieben. Und Web3 schlägt nichts vor, was das Privateigentum an den digitalen Produktionsmitteln in Frage stellt. Im Gegenteil: Das neue Internet wird denselben Investoren gehören wie das alte, warnte der ehemalige Twitter-CEO Jack Dorsey.
Web3 ist deshalb nicht nur ein kommerzielles Buzzword, sondern steht auch, stellvertretend für Bemühungen, eine neue Dimension der Abhängigkeit von digitalen Realitäten zu etablieren. Es verwebt analoges und digitales Leben in einer Weise, die das virtuelle Leben ganz und gar unter die Logik des Kapitalismus subsumieren würde.
In dem Maße, wie das materielle Überleben von Blockchain-gestütztem digitalem Eigentum abhängig würde, müssten sich Individuen wie auch die Gesellschaft der von Web3 geschaffenen Realität unterwerfen. Das Web3 zwingt uns in die Rolle von Cyberlibertären, die das Recht auf Dateneigentum verteidigen. Das Web3 ist mithin nichts anderes als die nächste Stufe der Unterwerfung unter die Zwänge des Kapitalismus.