Zwischen Emanzipation und Bedrohung
Aufgeblättert: »Deutschland aus jüdischer Sicht« von Shulamit Volkov
Von Jens Renner
Shulamit Volkovs Buch über mehr als 200 Jahre deutscher Geschichte »aus jüdischer Sicht« ist ein unvollständiger und zugleich umfassender Gesamtüberblick. Dass ihre Sicht nur eine unter vielen sein kann, stellt sie am Anfang klar. Die Ambivalenz jüdischen Lebens zwischen Emanzipation und Bedrohung ist der rote Faden ihrer Darstellung. Das wird schon in den ersten drei von insgesamt zwölf Kapiteln deutlich. Überschrieben sind sie mit »Aufklärung ohne Toleranz«, »Wohlwollende Autokratie« und »Die halb geöffnete Gesellschaft«. Diese Diagnose beschreibt die Jahre zwischen 1780 und 1840. Die folgenden sechs Kapitel über die Zeit bis 1930 enden mit dem Abschnitt »Hoffnungen – erfüllt und zerstört«, 1933 beginnt der Sturz in den »Abgrund«. Die Shoah, der Genozid an den europäischen Jüd*innen, nimmt in Volkovs Buch notgedrungen nur wenig Raum ein.
Wertvoll sind ihre Hinweise auf bahnbrechende Werke von Forschern wie Raul Hilberg, Saul Friedländer oder Yehuda Bauer. Auch geschichtspolitische Kontroversen ordnet die Autorin nachvollziehbar ein. Dazu gehören die internationalen Debatten zwischen »Funktionalisten« und »Intentionalisten«, der bundesdeutsche Historikerstreit, die Walser-Bubis-Kontroverse. Volkovs Epilog ist gedämpft optimistisch. »Berlin ist nicht Weimar«, schreibt sie. Zugleich zitiert sie den Historiker Michael Brenner, der 2020 angesichts wachsenden Antisemitismus in Deutschland schrieb: »Die Gefahr erkennt man immer zu spät.« Volkovs Buch ist auch ein Appell zur Wachsamkeit.
Shulamit Volkov: Deutschland aus jüdischer Sicht. Eine andere Geschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. C.H. Beck, München 2022. 336 Seiten, 28 EUR.