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|Thema in ak 692: Deutscher Imperialismus

Abwehr und etwas Anwerbung

In Westafrika ist Deutschland maßgeblich am Ausbau des europäischen Grenzregimes beteiligt

Von Laura Lambert

Bild eines überdimensionierten Schildes am Straßenrand. Darauf zu sehen sind rechts Angela Merken und links Nigers Präsident Issoufou Mahamadou, in der Mitte die deutsche und nigrische Flagge, dazum 02 bis 03 Mai. Betitelt ist die Veranstaltung auf deutsch und Französisch als "Besuch von Freundschaft und Arbeit"
»Besuch von Freundschaft und Arbeit«: nette Umschreibung für die deutsch-nigrischen Beziehungen. Foto: Migration-Control.info

Westafrika ist seit den frühen 2000er Jahren und zunehmend seit 2015 ein zentraler Schauplatz europäischer Migrationsabwehr geworden. Mit oft gewaltvollen Mitteln versucht Europa afrikanische Migrant*innen an der (Flucht-)Migration nach Europa zu hindern. Dabei spielt Deutschland eine bedeutende Rolle. Die Eckpfeiler dieser Politik sind Diplomatie, Kapazitätsaufbau, Polizeiarbeit vor Ort, Abschiebungen und legale Migration.

Seit der vermeintlichen Migrationskrise 2015 richtete sich der europäische Blick verstärkt auf die illegalisierte Migration aus Westafrika. Mit dem Valletta-Gipfel definierten europäische und afrikanische Politiker*innen die Bekämpfung irregulärer Migration und ihrer Ursachen als Hauptziel ihrer Kooperation. Der im Anschluss geschaffene Nothilfefonds für Afrika stellte dafür bis dato fünf Milliarden Euro bereit. Allein 2,1 Milliarden Euro entfielen davon auf West- und Zentralafrika. Für Staaten wie Niger, das einen Staatshaushalt von drei Milliarden Euro für 24 Millionen Einwohner*innen hat, stellen diese Mittel einen bedeutenden Kooperationsanreiz dar.

Dazu kam der diplomatische Druck Europas. So führte Niger als zentrales Transitland 2015 ein Gesetz ein, das den Transport und die Beherbergung von Migrant*innen kriminalisierte. Doch erst nach dem Besuch Angela Merkels wurde es 2016 auch implementiert. Sie war die erste deutsche Bundeskanzlerin, die überhaupt nach Niger reiste. Erst Migration und die Terrorismusbekämpfung brachten das Land auf den Radar der deutschen Außenpolitik.

Das vorherige Desinteresse an Niger erwies sich für Deutschland in der Migrationsdiplomatie von Vorteil.

Dieses vorherige Desinteresse an Niger erwies sich für Deutschland in der Migrationsdiplomatie von Vorteil. Trotz der mangelnden Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus wie in Togo oder auch der heutigen Ausbeutung durch deutsche Schokoladenhersteller in Ghana galt Deutschland oft als besserer Partner. Frankreich war demgegenüber in den letzten Jahren Zielscheibe der Kritik in Westafrika, als (post-)kolonialer Herrscher zu agieren.

Einfluss auf den Behördenalltag

Der diplomatische Druck wurde durch Verbindungsbeamt*innen tief in die westafrikanischen Behörden hinein verlängert. Die deutsche Botschaft in Niamey erhielt eine Referentin für Flucht und Migration, und die Bundespolizei schickte mehrere Verbindungsbeamt*innen. Das Gleiche galt für Frontex und die Europäische Kommission. Sie suchten den Kontakt zu nigrischen Beamt*innen und unterstützten die Implementierung der Migrationskontrollen.

Auch wurden gemeinsame Governance-Rahmen geschaffen. In ihnen beschlossen nigrische Politiker*innen und Beamt*innen zusammen mit europäischen Diplomat*innen, Polizist*innen, der staatlichen Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) und den Vereinten Nationen die Eckpfeiler der Migrationspolitik. Dabei war Deutschland federführend, weil die GIZ die Schaffung der nigrischen Migrationspolitik von 2020 finanziell förderte und den Prozess strukturierte.

Die GIZ fördert in weiteren Projekten auch den Kapazitätsaufbau der Grenzinfrastruktur durch den Bau von Grenzposten, die Demarkierung von Grenzverläufen und Trainings. Neben der GIZ ist insbesondere die zivile Sicherheitsmission EUCAP Sahel am Kapazitätsaufbau der Polizeibehörden beteiligt. An ihr wirken auch deutsche Polizist*innen mit. Die Mission soll dabei am Entwurf des nigrischen Antischleusungsgesetzes mitgewirkt haben. Hinzu kommt die Bereitstellung von Material und Ausbildung. Zwischen 2012 und 2019 trainierte EUCAP 19.000 Sicherheitsakteur*innen in Niger.

Europäische Sicherheitsakteur*innen beschränken sich aber nicht auf Trainings. Sie intervenieren auch direkt auf afrikanischem Boden. Bereits 2006 patrouillierten Frontex und die spanische Guardia Civil die Küsten des Senegals, um Migrant*innen auf dem Weg zu den Kanarischen Inseln abzufangen und auf das Festland zurückzubringen. In Niger werden gemeinsame Ermittlungsgruppen (Joint Investigation Teams) eingesetzt. In ihnen arbeiten spanische, französische und nigrische Polizist*innen gemeinsam an der Aufdeckung und Strafverfolgung von »Schleusungs- und Menschenhandelsnetzwerken«. Zwischen 2017 und 2022 wurden so mehr als 700 Menschen verhaftet.

In Niger schnitten diese und weitere Verhaftungen tief in die Gesellschaft ein. Von heute auf morgen wurde eine florierende Migrationsökonomie illegalisiert, die Transporteur*innen inhaftiert. In der historischen Transitstadt Agadez am Rand der Sahara verlor Berichten zufolge mehr als die Hälfte der Haushalte an Einkommen. Die Migrant*innen blieben im Transit stecken und wurden vermehrt Opfer von Korruption, Gewalt und willkürlicher Inhaftierung. Ihre Rechte wurden massiv beschnitten, wie auch der zuständige Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für die Rechte von Migrant*innen 2019 monierte. Er kritisierte insbesondere die Verletzung des Prinzips der Nichtzurückweisung und des westafrikanischen Freizügigkeitsrechts. Letzteres regelt, ähnlich wie im Schengenraum, dass sich Staatsangehörige in den 15 Mitgliedsstaaten der Westafrikanischen Staatengemeinschaft ECOWAS visafrei bewegen können.

Transnationaler Widerstand

Die Kritik an der nigrischen Migrationsbekämpfung ist seitdem nicht abgeebbt. Im Jahr 2022 reichten die zivilgesellschaftlichen Organisationen Alarme Phone Sahara und die Malische Vereinigung der Abgeschobenen (Association Malienne des Expulsés) gemeinsam mit der italienischen Rechtsorganisation ASGI vor dem ECOWAS-Gerichtshof Klage gegen Niger ein. Auf Grundlage ihrer Begleitung von Migrant*innen dokumentierten sie die Menschenrechtsverletzungen, denen diese ausgesetzt waren.

Das Beispiel dieser Klage zeigt, dass in Opposition zur europäischen Externalisierungspolitik auch neue transnationale Bündnisse entstehen, die die Rechtsverletzungen durch Europa und die kooperierenden Drittstaaten dokumentieren und skandalisieren. Als Bündnisse sind hier unter anderem Afrique-Europe-Interact, Migreurop und Loujna Tounkaranké zu nennen. Sie kommen unter anderem bei den transnationalen Sommercamps, den CommemorAction-Gedenkveranstaltungen an die von Europa getöteten Migrant*innen und im Rahmen der Westafrika-Arbeitsgruppe der Informationsplattform migration-control.info zusammen.

Zur Verschärfung von Abschiebungen beabsichtigt der Sonderbevollmächtigte der Bundesregierung für Migrationsabkommen weitere Rücknahmeabkommen abzuschließen.

Kurz nach Aufnahme ihrer Arbeit hat die Ampelregierung eine Verschärfung ihrer Abschiebungspolitik angekündigt. Unter den 12.945 von Deutschland Abgeschobenen im Jahr 2022 waren auch 599, die nach Westafrika abgeschoben wurden. Dies betraf vor allem Menschen aus Nigeria, Gambia und Ghana. Zur Verschärfung von Abschiebungen beabsichtigt der neue Sonderbevollmächtigte der Bundesregierung für Migrationsabkommen Joachim Stamp weitere Rücknahmeabkommen abzuschließen. Damit hatte Deutschland bisher in Westafrika nur bei Guinea Erfolg. Hinzu kommen einige wenige europäische Abkommen. Für westafrikanische Staaten sind Migrant*innen schlichtweg eine zu große ökonomische und politische Macht. Ihre Geldüberweisungen übersteigen oft die offizielle Entwicklungshilfe. In Ländern wie Mali ist dazu die Diaspora eine wichtige Interessengruppe.

Zahlenmäßig bedeutsamer ist bisher die so genannte »freiwillige« Rückkehr. Unter Zustimmung der Migrant*innen überführt insbesondere die Internationale Organisation für Migration (IOM) diese in ihre Herkunftsländer und verspricht ihnen dort Unterstützung bei der Reintegration. Eine freiwillige Entscheidung ist dies kaum. In Deutschland, das 2021 mit 6.785 Menschen weltweit den zweiten Platz bei der freiwilligen Rückkehr belegte, folgt die Rückkehr oft einer Abschiebungsandrohung. Auf Platz eins liegt Niger, wo oft keine andere Option nach den gewaltsamen Massenabschiebungen aus Algerien in die Sahara bleibt. In Libyen auf Platz drei bietet das Programm den einzigen Ausweg aus den Foltergefängnissen. Unter den fünf wichtigsten Herkunftsländern von »freiwilligen« Rückkehrer*innen waren Guinea, Mali und Nigeria. Westafrikaner*innen sind also besonders stark von dieser »sanften« Abschiebung betroffen.

Legale Migrationsrouten?

Seit kurzem versucht Deutschland auch in Westafrika Arbeiter*innen für seinen von Fachkräftemangel gezeichneten Arbeitsmarkt anzuwerben. Das 2017 von der GIZ in Accra eröffnete »deutsch-ghanaische Zentrum für Jobs, Migration und Reintegration« wurde im Februar 2023 feierlich von den deutschen Arbeits- und Entwicklungsminister*innen in das »ghanaisch-europäische Zentrum für Jobs, Migration und Entwicklung« umbenannt. Die Ampelregierung verkauft dies als Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik hin zu einem »triple win«, bei dem nicht nur Deutschland, sondern auch die Herkunftsländer und Migrant*innen profitieren würden.

Dabei ist fragwürdig, ob die deutsche Fachkräfteanwerbung in Westafrika überhaupt eine nennenswerte Größe erreichen wird. Wie auch anderswo sind die Botschaften in Westafrika äußerst restriktiv in der Visavergabe. »Die europäischen Botschaften wollen nur die Söhne von Minister*innen«, beklagte ak gegenüber eine NGO-Mitarbeiterin, die nahezu vergeblich versuchte, Studien- und Arbeitsvisa für anerkannte Geflüchtete zu erhalten. Das von rassistischer und sozioökonomischer Selektion geprägte Visaregime verunmöglicht seit den 1970er Jahren de facto die legale Migration der meisten Afrikaner*innen nach Europa. Als Tropfen auf dem heißen Stein schaffen derartige Prestigeprojekte wie in Ghana die Illusion, eine legale Migration nach Europa sei möglich, wenn sich die Betroffenen nur um genug Bildung bemühen würden.

Letztlich setzt die deutsche und europäische Grenzpolitik in Westafrika weiterhin auf Abschottung und Gewalt gegenüber Migrant*innen und Geflüchteten, kaschiert mit der legalen Migration einzelner Fachkräfte. Mit seiner Abschottungspolitik scheitert Europa nicht nur beständig an seinem unrealisierbaren Kontrollanspruch. Es entledigt sich auch jeglicher Vision im Umgang mit den zeitgenössischen Herausforderungen. Migrant*innen und Beamt*innen in Westafrika sprachen ak gegenüber oft von ihrer Vision einer besseren Welt. In ihr könnten alle Menschen die Welt bereisen und ein gutes Lebens führen. Bewegungsfreiheit, Menschenwürde und selbstbestimmte Entwicklung können die Grundpfeiler einer alternativen Migrationspolitik bilden.

Laura Lambert

ist Postdoktorandin am Arnold-Bergstraesser-Institut in Freiburg. Zusammen mit Hassan Ould Moctar, Moctar Dan Yaye, Leonie Jegen und Aino Korvensyrjä koordiniert sie die Westafrika-Arbeitsgruppe bei migration-control.info.

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