Etwas ist diesmal anders
Erstmals geben Kämpfe für gute Arbeit in der Wissenschaft Anlass zu etwas Optimismus und halten Protestlektionen bereit
Von Peter Ullrich
Obwohl die Ampel-Koalition ihre Eckpunkte für eine Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes an einem Freitagnachmittag im März in exklusiver Runde verkündete, dauerte es nur Minuten, bis die Empörung darüber hochkochte – besonders auf Twitter. Das Gesetz regelt, dass Wissenschaftler*innen bis zu zwölf Jahre immer wieder befristet beschäftigt werden können (im allgemeinen Arbeitsrecht liegt die Grenze bei zwei Jahren). Es ist wesentlich dafür verantwortlich, dass in der Wissenschaft Kettenbefristungen mit kurzen Laufzeiten gang und gäbe sind (über 80 Prozent sind befristet) und ein Großteil der Betroffenen nach Ablauf dieser Zeit aus dem System fliegt, denn die Zahl der Professuren (fast die einzige Dauerstellenkategorie) ist im Vergleich zu der der Aspirant*innen verschwindend gering. Das Gesetz schafft die Voraussetzungen für extreme Konkurrenz und die Externalisierung von Kosten durch Querfinanzierung oder unbezahlte Mehrarbeit. Es ist die gesetzliche Grundlage einer Kannibalisierung.
Die Frequenz der Proteste sowie die Zahl der in diesem Feld Aktiven in Gewerkschaften und Mittelbauinitiativen sind in den letzten Jahren immer weiter angestiegen. Der Druck wurde so groß – und bei einem Teil der Koalition wohl auch das genuine Interesse an einer Verbesserung –, dass die Ampel das Gesetz wirklich novellieren wollte. Was dabei herauskam. ist allerdings für die Betroffenen aus dem »Mittelbau« (Wissenschaftler*innen ohne Professur) und ihre Interessenvertretungen nun wieder Anlass zum Protest, dem sich bald auch Studierende und, ganz entscheidend für die aktuelle Protestdynamik, Professor*innen sowie andere Stakeholder*innen angeschlossen haben.
An den falschen Stellschrauben gedreht
Die schnell nach Bekanntwerden der Eckpunkte geäußerte Kritik zielte neben einer viel zu kurzen Mindestlaufzeit für Erstverträge während der Promotion (drei Jahre, und das bei einer durchschnittlichen Promotionsdauer von derzeit 5,7 Jahren) vor allem auf die Regelungen zur Postdoc-Phase (nach der Promotion). Diese Phase, in der die Vorbereitung der Berufungsfähigkeit auf eine Professur erfolgen muss, soll von sechs auf drei Jahre verkürzt werden, womit sich der Druck auf die Wissenschaftler*innen im bestehenden System massiv erhöhen würde.
Was ist das Problem? Diese drei Jahre reichen nicht, um sich zu habilitieren oder sonst irgendwie den nächsten großen Schritt in der Wissenschaft zu machen. Zugleich sind sie zu lang, als dass sie die Arbeitgeber*innen dazu zwingen würden, Entfristungsoptionen anzubieten. Denn die Rektorate haben weiter vor allem ihre klammen Kassen im Blick. Der Hochschulrechtler Simon Pschorr hat auf den Umstand hingewiesen, dass die im Papier formulierten allgemeinen Ziele (»Entfristungsperspektiven«) mit den konkreten Regelungen gar nicht erreicht werden können. Die Kannibalisierung schreitet also voran, noch dazu in einer Lebensphase, die üblicherweise von Care-Verpflichtungen geprägt ist, insbesondere durch Elternschaft oder Angehörigenpflege.
Der maue Vorschlag macht deutlich, dass an vielen anderen Stellschrauben gedreht werden müsste, um die Situation für die Beschäftigten zu entschärfen und einen Rest Attraktivität des Arbeitsplatzes Universität zu erhalten. Es bedarf solider Finanzierung der Promotionen und einer frühzeitigen Entfristungsperspektive nach der Promotion. Um die zu ermöglichen sind Personalentwicklungsmodelle mit Dauerstellen und Aufstiegsmöglichkeiten sowie ein drastischer Abbau der Drittmittel zugunsten einer soliden Ausstattung mit Grundmitteln erforderlich. Dass das geht, hat nicht zuletzt das Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft (NGAWiss) vorgerechnet.
Die Eckpunkte der Ampel enthalten auch kleine Fortschritte, etwa eine teilweise Aufhebung der Tarifsperre. Einzelne Regelungen könnten damit anders als bisher Gegenstand von Arbeitskämpfen werden, doch ist der Organisationsgrad in der Wissenschaft noch zu gering und die verbleibende Tarifsperre weiter ein ernstes Hindernis.
Es war nicht überraschend, dass beispielsweise (nicht nur durch die FDP) beschäftigtenfreundlichere Regelungen unterbunden wurden und die SPD das Debakel als sozialen Fortschritt anpries, wobei Carolin Wagner, die stellvertretende bildungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, doch für Augenreiben sorgte: Nach der Veröffentlichung der Eckpunkte twitterte sie stolz, dass es »mit uns« nun bald »verlässliche Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft« geben werde. Und nach dem Shitstorm bedankte sie sich, ebenfalls auf Twitter, für »eure Anmerkungen«.
»Profs für Hanna«
Manches ist diesmal aber grundsätzlich anders als bei den letzten Empörungswellen zur gleichen Frage, die sich jeweils mit bestimmten Twitter-Hashtags verbinden (#FristIstFrust, #95vsWissZeitVG, #IchbinHanna). Insbesondere fällt auf, dass sich Professor*innen in Scharen mit dem Mittelbau solidarisieren. Mittlerweile haben mehrere Tausend den Aufruf »Profs für Hanna« unterschrieben. Dieser spricht sich unter anderem für einen deutlichen Zuwachs unbefristeter Stellen neben der Professur aus. Die Ideen der Profs sind aber nicht völlig deckungsgleich mit den Zielen der organisierten Mittelbauler*innen. Einige sprechen sich beispielsweise für die völlige Abschaffung der Höchstbefristungsdauer in der Wissenschaft aus – und damit implizit für eine umfassende Deregulierung des Arbeitsrechts allein für die Wissenschaft. Die Hochschulrektor*innenkonferenz dürfte das wohlwollend aufgreifen. Doch grundsätzlich sind die Profs ihrer Haltung nach mit Hanna und Reyhan (Hannas migrantischer, noch gesondert prekarisierter Wissenschaftskollegin) solidarisch.
Ohne die Aufbauarbeit der Mittelbauinitiativen im Hintergrund wäre der Twittersturm wirkungslos geblieben.
Das hatte niemand so erwartet, und so wuchs in den vergangenen Wochen die Front für bessere Beschäftigungsbedingungen um Fachgesellschaften und andere Organisationen an. Dann kam der Paukenschlag: Das Ministerium ruderte zurück und rief die beteiligten Stakeholder*innen zurück in die »Montagehalle«. Doch hier gilt es aufzupassen: Der erste, eilig einberufene Montagetermin befasste sich nur mit der Drei-Jahres-Regel für die Postdocs, wo doch die ganze Diskussion deutlich gemacht hat, dass es um einen Systemwechsel gehen muss.
Die Ereignisse sind ein Lehrstück für das Verständnis verschiedener Elemente von Protest. Zunächst schien sich der ganze Prozess bis zum Zurückrudern des Bundesministeriums auf Twitter abzuspielen. Natürlich darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Protest nicht aus dem Nichts kam. Auch wenn gerade im Rahmen des #IchbinHanna-Twittersturms manchmal der Eindruck erweckt wurde, sich dort zu beschweren, reiche für politische Veränderungen (als würde das gute Argument in der Politik viel zählen), ja, es sei geradezu selbst die Bewegung, zeigt sich doch, wie wichtig die jahrelange Arbeit an der Politisierung des Themas und der Bewusstseinsbildung der Beschäftigten war. Ohne die langjährigen Aktivitäten von ver.di und der GEW in diesem Themenfeld, namentlich deren Templiner Manifest, und ohne die Aufbauarbeit der miteinander vernetzten NGAWiss-Mittelbauinitiativen, deren Zahl in den vergangenen Jahren rapide gewachsen ist, wären weder kritische politische Deutungen noch alternative Erzählungen (inklusive konkreter Reformvorschläge) derart präsent und wäre auch nicht innerhalb einer Woche eine beeindruckend laute Demonstration mit Hunderten Teilnehmenden vor dem Ministerium organisierbar gewesen.
Nicht mehr individualisiert unzufrieden
Im Zentrum der nur teilweise spontanen Proteste, die allerdings tatsächlich innerhalb weniger Tage viele neue Aktive mobilisierten, steht aktuell NGAWiss als verbindender Akteur. Hier konnten insbesondere neu Erregte ohne Organisationsanbindung einen Anker finden und sich ad hoc einbringen. Verschiedene Beschäftigten- und Studierendenvertretungen haben sich auch gemeinsam kritisch zu Wort gemeldet. Dass diese Akteur*innen im neu aufzurollenden Policy-Prozess nicht mehr ignoriert werden können, ist Resultat langwieriger organisatorischer Kärrnerarbeit. Ohne diese würden Twitterstürme schnell vergehen. Trotzdem: Die Bedeutung dieses Mediums als höchst relevante politische Arena wurde klar unter Beweis gestellt. Das miserable Konzept der Ampelkoalition und deren desaströse Kommunikation eröffnete ein Möglichkeitsfenster, das aber nur genutzt werden konnte, weil der sich abzeichnende Anlass von den Verfechter*innen einer freieren, kritischeren und solidarischeren Universität mit langem Atem vorbereitet wurde.
Es zeichnet sich, angespornt durch die aktuellen Mobilisierungserfolge, auch die Perspektive ab, dass die Wissenschaft nicht mehr nur der Hort der duldsamen, individualisierten Unzufriedenen bleiben muss, die nicht auf die (Protest-)Beine kommen. Deren Druck darf aber nicht nachlassen, wenn aus der aktuellen Dynamik wirklich verbindlich bessere Beschäftigung resultieren soll.
Ein frühere Fassung dieses Textes erschien auf rosalux.de