An die Achillesferse
Nachdem Frankreichs Präsident die Rentenreform durchgeboxt hat, könnten die Streiks sich intensivieren
Von Lea Fauth
Mitte März in Paris: Der Müll stapelt sich. »Wenn sie uns nicht hören wollen, sollen sie uns riechen«, verkünden Schriftzüge auf Bannern. Auf Frankreichs Autobahnen parken kilometerlang Lkws, Fabriken werden heruntergefahren, Strom gezielt abgestellt – etwa bei Polizeipräfekturen, einer Amazon-Zentrale oder direkt zu Hause bei Politiker*innen. Ein Land wehrt sich gegen eine Rentenreform. Und was als der »neuralgische« Punkt in diesem Streik gilt: Die Ölraffinerien des Energiekonzerns Total Energies sind teilweise besetzt und blockiert.
Dem Wirtschaftssystem soll damit buchstäblich der Treibstoff genommen werden. Mit diesem Treibstoff verdient die Politik ironischerweise auch privat Geld. Mehr als 20 französische Politiker*innen haben Aktien bei Total, darunter Minister*innen und Abgeordnete. Teilweise im Wert von mehreren 10.000 Euro. Kein Wunder, dass genau diese Politiker*innen sich zuletzt vehement gegen eine Steuer auf Übergewinne eingesetzt haben. Eine Abschöpfung hätte die ach so leeren Rentenkassen doch ein bisschen aufgefüllt. Stattdessen wird mit der Rentenreform bei den Ärmsten gespart. Die Klassenpolitik der Reichen manifestiert sich zuweilen verblüffend holzschnittartig.
Gegen diesen Apparat ringen die französischen Gewerkschaften um eine Strategie. Die Intersyndicale ist ein Bündnis aus acht Gewerkschaften, die sich zum Zweck des Generalstreiks zusammengeschlossen haben, trotz großer politischer Unterschiede. Zu den linkeren Arbeiter*innengewerkschaften zählen etwa die CGT (Allgemeine Konföderation der Arbeit) und die FO (Arbeiterkraft). Auf der anderen Seite gibt es die katholisch geprägte CFDT, die allerdings am meisten Mitglieder zählt. Der Konflikt schwelt schon seit Mitte März: Ausgerufen wurden Massendemonstrationen in nahezu allen französischen Städten am 11. März, einem Samstag, sowie ein Generalstreik am 14. März, einem Dienstag. Tatsächlich kamen am besagten Samstag selbst in Kleinstädten beeindruckend viele Leute zusammen. Das Investigativmagazin Mediapart schreibt von »nie gesehenen Ausmaßen seit der Nachkriegszeit«. Das sind nicht zuletzt die nachhaltigen Früchte der Gelbwestenbewegung, die es geradezu beispielhaft vermochte, die ländliche Bevölkerung zu mobilisieren, zu politisieren und zu Protesten zu vernetzen.
Dennoch standen sich hier zwei Formen des sozialen Protests gegenüber: das mediale Bild der schieren Massen an einem freien Wochenendtag einerseits. Die effektive Arbeitsniederlegung an einem Werktag andererseits, zwar von etwas weniger Menschen, dafür aber mit hohem Störfaktor: der Streik. Und weil Menschen nicht unbegrenzt Kraft und Kapazitäten haben, standen sich diese beiden Formen der Mobilisierung gewissermaßen entgegen. Die radikalen unter den Gewerkschaften hatten sich deshalb gegen den Samstag als Mobilisierungstag ausgesprochen.
Denn der Streik – der sich auch gegen ein ausbeuterisches System wendet und nicht nur gegen eine Reform – soll Frankreich erklärtermaßen an die Achillesferse gehen, sprich, an die Produktionsverhältnisse. Fabriken und Zentralen werden geschlossen, verbarrikadiert und von Arbeiter*innen selbstbestimmt bedient. Eine bewusste Wiederaneignung der Produktionsmittel. Genau deshalb hat der Protest ein so gewaltiges Potenzial.
Am 16. März hat die Regierung die Rentenreform durchgeboxt – mithilfe eines Paragrafen, der die parlamentarische Abstimmung einfach überspringt. Ein zutiefst undemokratisches Mittel, um einer Niederlage zu entgehen. Hat Macron mit dieser Brechstange einen Sieg erkämpft? Davon kann keine Rede sein – denn die Wut ist groß und könnte in eine Regierungskrise münden. Die CGT etwa kündigt eine Verstärkung der Streiks an und plant Tage, an denen die Industriehäfen still liegen sollen. Das sind genau jene Stellen, die der Politik wehtun. Die Intersyndicale ruft für den 23. März zum nächsten großen Streik auf. Nun geht es ums Durchhaltevermögen. Auch die Müllabfuhr ist weiterhin dabei. Vielleicht wird Macron es doch noch riechen.