Nicht für schnelle Aufrüstung gemacht
Die »Zeitenwende« und die Waffenhilfe im Ukrainekrieg nutzen der deutschen Rüstungsindustrie, zeigen aber auch deren Grenzen auf
Von Axel Gehring
Nach Ende des Kalten Krieges verschwand die Rüstungsproduktion nicht aus Deutschland, aber die schrumpfende Nachfrage nach Quantität sorgte für eine schleichende Transformation von der Massen- zur Manufakturproduktion. Die asymmetrischen Kriege, die weit überlegene Staaten gegen unterlegene, oft nicht-staatliche Gegner ausfochten, benötigten keine großen Massen an Waffen und Artillerie. High-Tech-Manufakturen entstanden, ihr Jahresausstoß bei den einzelnen Hauptwaffensystemen, zum Beispiel von Panzern, ist im unteren zweistelligen Bereich angesiedelt. Im Kalten Krieg dagegen wurde zuweilen täglich ein Leopard fertiggestellt.
In einem großen, linearen Landkrieg wie zwischen Russland und der Ukraine, der sich seit dem Spätsommer über eine 1.300 km lange Front erstreckt, sind Rüstungsgüter nun (wieder) durchlaufende Verbrauchsgüter. Tausende von Panzern wurden bereits zerstört. Und nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums verschoss Russland während seiner Donbass-Offensive im Sommer 2022 in einer Woche so viel Munition, wie das britische Militär insgesamt im Lager hat; die Ukraine verschoss dort ebenso viel binnen drei Wochen.
Lagerbestände statt Neuproduktion
Dies macht den verheerenden Konflikt auch zu einer Auseinandersetzung der großen industriellen Produktionskapazitäten, die in einem Abnutzungskrieg gegeneinander antreten. Entscheidend für den Ausgang des Krieges ist nicht, wer taktisch auf dem Schlachtfeld die Oberhand hat, sondern wer auf Dauer diesem industriellen Kräftemessen gewachsen und zudem in der Lage ist, die eigenen Gesellschaften zu mobilisieren.
Auf so ein Szenario waren die westlichen Rüstungsindustrien, und vor allem die deutsche, nicht eingestellt. Gegenwärtig ermöglichen deshalb vor allem die großen Lagerbestände aus Zeiten des Kalten Krieges, und nicht etwa hohe Produktionsraten, die fortdauernde intensive Kriegführung, Auch die russischen Produktionskapazitäten wurden nach 1990 manufakturisiert, allerdings hat Russland deutlich größere Lagerkapazitäten vorgehalten, die es nun einsetzt. Wahrscheinlich beruht genau darauf das russische Kalkül, den Krieg, trotz aller Widrigkeiten, gewinnen zu können, bevor im Westen die Produktion zur Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte weiter hochgefahren wird. Denn bei dem hohen Verbrauch von Rüstungsgütern im gegenwärtigen Abnutzungskrieg zeichnet sich über kurz oder lang ein Versiegen der Lagerbestände ab. Auch deshalb haben sich in den letzten Monaten die politischen Debatten über Ringtauschgeschäfte und Panzerlieferungen so schwierig gestaltet. Die Streitkräfte geben nur ungern Inventar ab, wenn rascher Ersatz nicht garantiert ist, sondern jahrelange Wartezeiten drohen.
Diese Knappheit treibt bei Rüstungsgütern die Preise. So hat Rheinmetall seinen Konzernumsatz im letzten Jahr um 13 Prozent auf 6,4 Milliarden Euro gesteigert und damit zwar seine selbstgesteckten Umsatzziele noch verfehlt, mit 11,5 Prozent aber höhere Gewinnmargen erzielt. Vereinfacht gesagt bedeutet das, dass der Konzern mehr Geld aus der Produktion von Rüstungsgütern abschöpfen konnte als im Vorjahr. Nicht nur das Management zeigte sich mit der Steigerung mehr als zufrieden, auch die Aktienkurse dürften branchenweit weiter steigen.
Die Probleme mit der Kapazitätsausweitung sind sogar so massiv, dass 2022 die deutschen Rüstungsexporte zurückgingen.
Die Frage der Produktion gestaltet sich jedoch ungleich schwieriger. Neben Lieferkettenproblemen (Russland liefert einige wichtige Edelmetalle nicht mehr) machen der deutschen Rüstungsindustrie auch ihre strukturellen Probleme zu schaffen. Ursprünglich auf kleinere asymmetrische Kriege eingestellt, akquiriert sie zur Zeit zwar Aufträge, hat jedoch ihre eigenen Produktionskapazitäten noch nicht umfänglich ausgeweitet. Das dauert, denn auch durch die hohe Komplexität der Waffensysteme ist der deutsche Rüstungssektor äußerst unflexibel. Waffenlieferungen an die Ukraine und die Aufrüstung der Bundeswehr stehen damit in einem Konkurrenzverhältnis zueinander. Die Probleme mit der Kapazitätsausweitung sind sogar so massiv, dass 2022 die deutschen Rüstungsexporte auf 8,36 Milliarden Euro zurückgingen. Dies ist gleichwohl noch immer die zweithöchste Summe der bundesrepublikanischen Geschichte, 2021 exportierte die Industrie im Wert von 9,35 Milliarden Euro.
Kein wirtschaftlicher Leitsektor
Anders als in den USA gibt es hierzulande keinen Militärisch-Industriellen-Komplex, anders als in Frankreich ist die Rüstungs- und Luftfahrtindustrie hier kein wirtschaftlicher Leitsektor. Sie hat – gemessen am neuen Leitbild der großen linearen Kriege – zudem erhebliche Performanceprobleme. Sie liefert nicht so, wie die Politik es gerne hätte. Das 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr konnte deshalb die weitestgehend unrealistischen Erwartungen der Öffentlichkeit nicht erfüllen. Mit den Waffenhilfen an die Ukraine ist zudem eine Konkurrenzsituation zwischen Deckung des lokalen Bedarfs der Bundeswehr und großen Mengen an Nachschub für den neuen osteuropäischen Partner eingetreten, die nun auf träge reagierende Produktionskapazitäten trifft. Trotz insgesamt steigender Auftragszahlen und der Platzierung deutscher Waffensysteme in zahlreichen Staaten mittels der Ringtauschgeschäfte droht die deutsche Industrie teilweise sogar Märkte zu verlieren, weil andere schneller liefern können. So ist es zur Zeit keineswegs ausgemacht, dass Polen seine bestehenden Leopard II Panzer wieder durch deutsche Fabrikate ersetzen wird.
Auch aufgrund dieser Schwäche der Rüstungsindustrie als Kapitalfraktion gibt es in Deutschland keinen Militärisch-Industriellen-Komplex, in welchem sich eine Melange aus militärischen und unternehmerischen Partikularinteressen soweit verselbständigt hätte, dass sie die Außen- und Sicherheitspolitik maßgeblich prägen würde. Dafür ist die Rüstungsindustrie im Verhältnis zu den anderen Industriesektoren schlicht zu schwach. Die relativ hohe Platzierung Deutschlands im weltweiten Rüstungsexportranking (Platz 5) beruht wesentlich auf der insgesamt hohen industriellen Produktivität der Bundesrepublik, und zu den höheren Plätzen hat sie noch gehörig Abstand. Zudem ist der Rüstungssektor hierzulande stark von mittelständischen Unternehmen geprägt; selbst das umsatzträchtigste unter ihnen, Rheinmetall, erreicht im globalen Ranking mit 4,8 Milliarden Dollar in seiner Rüstungssparte nur Platz 29. Das zweitgrößte, die Hensoldt AG, erwirtschaftet 1,7 Milliarden und liegt im weltweiten Ranking auf Platz 64. Wirklich groß ist indes Airbus mit 11 Milliarden Dollar Umsatz und Rang 12 in 2021, es ist allerdings ein europäisches Unternehmen – mit erheblichem französischen Einfluss. Unangefochten dominiert indes die US-amerikanische Lockheed Martin mit 64 Milliarden Dollar das Ranking, die größte nicht US-Firma kommt aus China. Es handelt sich um die Aviation Industry Corporation of China, Umsatz 30 Milliarden Dollar, Rang 6.
Ein Militärisch-Industrieller-Komplex gehört auch keineswegs zur Grundausstattung kapitalistischer Staatlichkeit, sondern ist historisch bedingt und braucht Zeit zu wachsen. Auch die USA verfügten über einen solchen, trotz ihrer Beteiligung am Ersten Weltkrieg, zunächst nicht. Erst der ihnen aufgezwungene Kampf gegen die faschistischen Achsenmächte führte zu einer dauerhaften Ausweitung der industriellen Produktionspotenziale, entscheidend für seine Etablierung wurde die langfristige Absatzperspektive für Rüstungsgüter aufgrund der raschen Entfaltung des Kalten Krieges. Erst dies führte zu einer anhaltenden Stärkung des Rüstungssektors als Kapitalfraktion, mit entsprechenden politischen Verbindungen. Hinzu kam in den letzten Jahren die Deindustrialisierung der USA im Bereich der zivilen Industrien, sie verschob die Kräftegleichgewichte weiter zuungunsten des zivilen Produktionssektors.
Dies zeigt: Auch das 100-Milliarden-Sondervermögen allein wird also der Bundesrepublik noch keinen Militärisch-Industriellen-Komplex bescheren. Paradoxerweise schwächt es zur Zeit sogar die industriepolitische Fraktion in den Staatsapparaten, die in längerfristigen Zyklen denkt, zugunsten jener, die an einer raschen Fähigkeitserweiterung der Bundeswehr interessiert sind. Seinen massenmedialen Ausdruck findet dieses Problem vor allem in Formeln wie »Kaufen von der Stange« oder den genüsslich ausgebreiteten Ausfällen einzelner überkomplexer Waffensysteme, wie dem Puma. Dieser Konflikt in den Staatsapparaten, und nicht etwa das unschickliche Böllervideo, brachte im Januar die Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) zu Fall.
Konkurrierende Ziele
Kurzfristig ist eine rasche Aufrüstung der Bundeswehr angesichts der beschränkten lokalen Produktionskapazitäten nur durch Importe zu erreichen. Nicht zufällig ist der größte Einzelposten mit 8,3 Milliarden Euro das aus den USA importierte Kampfflugzeug F 35. Praktisch alle rasch anzuschaffenden Fluggeräte stammen aus dem Ausland und die »Dimension Luft« ist die größte des Sondervermögens. Der Kapazitätsausbau ist zudem deshalb eine komplexe Aufgabe, weil es nicht nur darum geht, kriegsbedingt die Produktion bestehender Güter auszuweiten, sondern weil im globalen Wettbewerb, mit seinen kapitalistischen und geopolitischen Konkurrenzlogiken, zugleich immer modernere Produkte gefragt sind.
Zudem sollen davon Impulse zur Modernisierung der Industrie insgesamt ausgehen. Insbesondere dies belastet derzeit auch die deutsch-französischen Beziehungen. Frankreich misst der industriepolitischen Dimension seines Rüstungssektors eine größere Bedeutung zu, entsprechend langfristiger möchte es Summen in der Industrie investieren. Die deutsche Entscheidung, aus dem 100-Milliarden-Sondervermögen amerikanische F35 zu kaufen, wird von Frankreich tendenziell als schädlich für die weitere Entwicklung des zusammen mit Deutschland und Spanien forcierten Aufrüstungsprogramms Future Combat Air Systems (FCAS) betrachtet. Wichtigstes Merkmal ist ein stealth-fähiger Jet – ein Tarnkappenflugzeug der fünften Generation, das von einem Schwarm vernetzter Drohnen begleitet werden soll. Davon soll nicht zuletzt die Weiterentwicklung von deutscher Netzwerttechnik sowie von künstlicher Intelligenz profitieren. Das FCAS soll gleichwohl erst Mitte des Jahrhunderts einsatzreif sein.
Der sich abzeichnende Bedeutungsgewinn der Rüstungsindustrie ist in Deutschland also keineswegs ein Selbstläufer, der aus der Logik dynamischer Kapitalakkumulation dieses Sektors entspringen würde. Im Gegenteil: Sie ist vor allem politisch gewollt, und die Politik hat große Schwierigkeiten, die konkurrierenden Ziele der lokalen Aufrüstung und der Waffenhilfe für die Ukraine aufeinander abzustimmen.