Lützerath Vive!
Die Grünen zeigen erneut, dass sie nicht davor zurückschrecken, Hotspots der Klimabewegung räumen zu lassen
Von Moritz Binzer
Die finale Auseinandersetzung um die kleine Ortschaft Lützerath hat begonnen: Am Morgen des 11. Januar (und damit zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe) fing die Polizei mit der Räumung des Orts im Rheinischen Braunkohlerevier nahe Mönchengladbach an. Mehrere Hundertschaften der Polizei stürmten das seit zweieinhalb Jahren von Kohlegegner*innen und Klimaaktivist*innen besetzte Dorf. Ein langer Zug aus Mannschaftswagen fuhr über eine eigens für die Räumung aufgeschüttete Rampe aus dem Tagebau an den Dorfrand. Die heranstürmenden Hundertschaften prügelten sich ihren Weg frei und besetzten an verschiedenen Stellen die Ortschaft. Ihr Vordringen wurde durch Barrikaden, Tripods, Sitzblockaden und Steinwürfe kurzzeitig erschwert. Außerhalb Lützeraths wurde der Nachschub an Polizeiwannen durch eine Kletteraktion vorübergehend unterbrochen.
Dass die Polizei mit starkem Gegenwind gerechnet hatte, wurde bei einem Aufenthalt in und um das kleine Dorf an der Tagebaukante sofort deutlich. Die Einsatzkräfte hatten hier schon seit einigen Tagen eine immer höhere Präsenz gezeigt. Als dann am 3. Januar erste Barrikaden geräumt wurden, riefen Aktivist*innen den Tag X aus. Am frühen Abend des selben Tages erinnerte das Szenario in Nähe der Tagebaukante an einen Science-Fiction-Film. Mehrere Reihen behelmter Polizist*innen hatten sich direkt vor der Kante positioniert. Nur wenige Meter hinter ihnen bewegte sich das riesige Schaufelrad auf Lützerath zu. Auf dem Bagger hatte der Energiekonzern RWE einen hell erleuchteten Weihnachtsbaum installiert. In der Entfernung konnten im Tagebau die anderen Bagger ausgemacht werden, deren Lichter sie wie kleine Dörfer wirken ließen. Ein paar Meter entfernt bildeten weitere Polizist*innen eine Barriere vor RWE-Arbeiter*innen, die einen Schotterweg aufschütteten, um für Polizei und Securities eine möglichst gute Fortbewegung um das Dorf herum zu ermöglichen.
Law-and-Order-Hardliner und NRW-Innenminister Herbert Reul hatte die Richtung bereits vor einigen Wochen in einem Interview vorgegeben. »Am Ende muss Lützerath leer sein, und das geht nur mit einem Gesamteinsatz, bei dem erstens die Barrikaden beseitigt, zweitens die Personen verbracht, drittens alle Häuser abgerissen und die Bäume gerodet werden – also die Besetzungsinfrastruktur beseitigt wird«.
Der Tag X
Aber nicht nur die Polizei hatte ihre Präsenz in den letzten Tagen deutlich verstärkt. Das Ausrufen des Tags X hat sofortige Wirkung gezeigt: Aktivist*innen sind dem Ruf nach Lützerath gefolgt, die Bewohner*innenschaft des besetzten Dorfes hat sich binnen eines Tages deutlich erhöht. Am Abend saßen viele bei einem Aktionsplenum in einer ehemaligen Landwirtschaftshalle zusammen. Der Raum wurde nur von einer Lampe in einem Kanister beleuchtet, die Stimmung war euphorisch. Kein Wunder: Nach einem Tag, der von Flächengewinn durch die Polizei geprägt war, gelang es am Tag X + 1 wieder in die Offensive zu kommen, effektiv Polizeimaßnahmen zu blockieren und das weitere Abräumen von Barrikaden zu verhindern.
Grün sind in NRW nur die Räumpanzer.
Außerdem brach der Zustrom von Neuankömmlingen nicht ab. In der Halle saßen bereits rund 300 Menschen. Die Moderatorin rief: »Es sind noch zwanzig weitere Busse angekündigt, lasst uns Lützerath gemeinsam unräumbar machen!« Und am folgenden Sonntag kamen noch 7.000 temporäre Besucher*innen hinzu, die an einem Dorfspaziergang teilnahmen. Gemeinsam mit den neuen Bewohner*innen Lützeraths wurden Gräben ausgehoben und Barrikaden verstärkt. Zum Zeitpunkt der Erstürmung war die Zahl der Bewohner*innen auf ca. 1.500 Personen angewachsen. Viele weitere Menschen hatten sich zudem auf ein Unterstützer*innen-Camp im Nachbarort Keyenberg eingefunden.
Von der zentralen Wiese in Lützerath, heute mit Hütten bebaut, hatte 2015 die erste Aktion des Anti-Kohlekraft-Bündnisses Ende Gelände ihren Ausgang genommen. Seitdem haben sich die riesigen Bagger immer weiter gegraben. »Das größte Drecksloch Europas«, wie es in einem Lützerath-Mobilisierungsvideo heißt, rückt unaufhörlich auf das Dorf zu. Längst ist es nur noch ein Katzensprung vom Dorfrand zur Tagebaukante. An diesem Ort wird eindrucksvoll deutlich, weshalb sich Lützerath gut als Symbol der Klimabewegung eignet: Die Zerstörungskraft des fossilen Kapitals ist hier für alle sichtbar. Während die Folgen der Klimakatastrophe sich hierzulande noch vergleichsweise leicht ausblenden lassen, da sie sich am stärksten in Ländern des Globalen Südens niederschlagen, ist RWEs Kohleloch ein Zeugnis von der Zerstörungskraft des Abbaus der Braunkohle im eigenen Hinterhof.
Grünes Nullsummenspiel
Mit Lützerath steht viel auf dem Spiel. Unter der Ortschaft und den dahinter gelegenen Feldern befinden sich rund 280 Millionen Tonnen Kohle, die RWE abbaggern möchte. In einer finalen Abstimmung haben sich RWE und die beiden Grünen-Politiker*innen Mona Neubauer (NRW-Wirtschaftsministerin) und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck auf die weitere Kohleförderung geeinigt. Selbst jenen kann der ausgehandelte Deal in Staunen versetzten, die von den Grünen nicht erwartet hatten, dass sie sich für das Klima gegen die Interessen des Wirtschaftsstandorts Deutschland stellen.
Was von den Grünen als guter Kompromiss verkauft wird, entpuppt sich im besten Fall als ein Nullsummenspiel, wie eine Studie von Aurora Energy Research darlegt. Zwar ist das Ausstiegsdatum von 2038 jetzt auf 2030 vorgezogen worden. Die Untersuchung geht aber davon aus, dass ab 2030 die Kohleverstromung ohnehin zu teuer sein und sich wirtschaftlich nicht mehr lohnen wird. Der neue Kohle-Deal sieht allerdings vor, dass bis dahin sogar noch mehr Kohle verbrannt werden darf. So ist es RWE gelungen, für zwei Blöcke des Kohlekraftwerks Neurath, die aus dem Tagebau Garzweiler gespeist werden, für den Lützerath weichen soll, längere Laufzeiten herauszuschlagen. Der vermeintlich hart ausgehandelte Deal sorgt im schlimmsten Fall also sogar für mehr verbrannte Kohle. Die Fridays-for-Future-Aktivistinnen Luisa Nebauer und Pauline Brünger schrieben pointiert: »Aus Kohleausstieg wird Kohleintensivierung.« Und sie machten auf ein nicht unerhebliches Detail aufmerksam: Die Kohle unter Lützerath brauche es laut Berechnungen überhaupt nicht für die Energieversorgung Deutschlands.
Die Grünen werden routinierter im Räumen von Hotspots der Klimabewegung. Während in Hessen schon der Dannenröder Wald, der Danni, unter grüner Regierungsbeteiligung gerodet wurde, soll jetzt Lützerath folgen. Der Slogan aus dem Danni »Grün sind in Hessen nur die Räumpanzer« ist auch auf NRW übertragbar.
Laufende Klageverfahren
Obwohl nach wie vor Klageverfahren gegen die Räumung laufen, sieht es derzeit nicht nach einem Hambi-Szenario aus. Dort war es 2018 gelungen, den Wald zu retten – und zwar durch ein Zusammenspiel aus Besetzer*innen, die die Rodung möglichst lange hinauszögerten und einer Klage des BUND, die letztendlich die Räumung stoppte.
Aber auch wenn die Räumung von Lützerath nicht mehr zu verhindern ist, kann die Klimabewegung auf intensive Jahre des gemeinsamen Organisierens und des Bewegungsaufbaus zurückblicken. In den Wochen vor der Räumung war »Lützi« zu einem feinmaschigen Netzwerk aus Beziehungen und Arbeitsgruppen geworden. Es gab Baumhaus- und Hütten-Barrios, WGs in den besetzten Häusern, die sich über ein Delegierten-Plenum koordinierten, eine selbstorganisierte Küche, die für alle die Verpflegung sicherstellte, die Möglichkeit, ein paar Runden in der DIY-Skatehalle zu drehen und einen kollektiv betriebene Gemüseacker.
Auch für internationale Klimaaktivist*innen ist Lützerath zu einer Anlaufstelle geworden. In der Ausrichtung der Lützerather Pressegruppe war die Bezugnahme auf internationale und antikoloniale Kämpfe sehr präsent. Als die Lage sich immer weiter zuspitzte, gab es zahlreiche Solidaritäts-Bekundungen aus verschiedenen Teilen der Welt, unter anderem von den Zapatistas aus Mexiko. »Lützerath Vive! Vive! Vive! La Lucha Sigue!« (Lützerath lebt! Lebt! Lebt! Der Kampf geht weiter!) steht auf dem Banner ihrer Videobotschaft. Bleibt abzuwarten, wo und wie es mit den Kämpfen der Klimagerechtigkeitsbewegung in Deutschland weitergeht.