Hat Lenin die Ukraine erschaffen?
Über Marxismus und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen
Von Grusha Gilaeva
Auf einer Pressekonferenz Ende 2021 erklärte Putin, die moderne Ukraine sei von Lenin geschaffen worden. In einem von ihm im Sommer desselben Jahres verfassten Leitartikel hieß es, dass das in der Erklärung über die Gründung der UdSSR verankerte Recht des Austritts der Sowjetrepubliken aus der Union »eine höchst gefährliche Zeitbombe« gelegt habe.
Lenin habe angeblich mit nationalen Gefühlen kokettiert, um die Popularität der Bolschewiki zu steigern. Daher sei auch die Politik der Korenizacija – die Beteiligung nationaler Kader*innen an der Verwaltung der Republiken und die Förderung lokaler Sprachen und Kulturen in den 1920er Jahren – eine Art zeitweilige Maßnahme und listige Finte gewesen. Erstaunlicherweise wiederholen auch Kritiker*innen der russischen Propaganda im postsowjetischen Raum, insbesondere in der Ukraine, in Georgien und den baltischen Staaten diese Schmähung. Die nationale Politik der Bolschewiki scheint entweder Ergebnis von politischem Opportunismus oder Produkt latenter imperialer Ambitionen gewesen zu sein, oder beides.
Was ist dagegen die wirkliche Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen für den Marxismus? Wenn wir versuchen, diese Frage zu beantworten, werden wir sehen, dass der Imperialismus und das marxistische Verständnis des Selbstbestimmungsrechts einer Nation nichts miteinander gemeinsam haben. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Schlüsselelemente des Ansatzes der Bolschewiki erstens die Verbindung zwischen Klassen- und antikolonialem Kampf war und zweitens das strategische Verständnis, dass es keine gleichberechtigte »Partnerschaft« zwischen einer unterdrückten und einer unterdrückenden Nation geben kann und dass Solidarität zwischen den Arbeiter*innen der Metropole und der Kolonie immer wackelig sein wird.
Erste Debatten zur nationalen Frage im Marxismus
Obwohl die Beziehung zwischen marxistischer Theorie und Nationalismus nie eindeutig war, wurde das Prinzip der Selbstbestimmung der Nationen bereits auf der Londoner Konferenz der Ersten Internationale 1865 im Zusammenhang mit der Unterstützung der polnischen Befreiungsbewegung erstmals verankert. So ist in der Proklamation zur polnischen Frage die Rede von der »Notwendigkeit, den russischen Einfluss in Europa durch die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts zu beseitigen und Polen auf demokratischer und sozialer Grundlage neu zu errichten«. Wie kommt es, dass trotz des berühmten Satzes aus dem »Manifest der Kommunistischen Partei«, dass »der Proletarier kein Vaterland« habe, es die internationale kommunistische Bewegung war, die als erste den Grundsatz der nationalen Selbstbestimmung formulierte, der später die Grundlage des modernen Völkerrechts bildete?
Bekanntlich waren nationale Befreiungsbewegungen zur Zeit von Marx und Engels ein neues Phänomen, wobei der »Völkerfrühling« – die nationalen Revolutionen von 1848-49, die die politische Bedeutung solcher Ideen offenbarten – einen besonders lebhaften Eindruck auf alle Europäer*innen hinterließ.
Die Position von Marx entwickelte sich mit der Entwicklung der Arbeiter*innenbewegung, der sich verändernden politischen Situation und der Ausarbeitung seiner Kapitaltheorie. Die Dinge könnten an Klarheit gewinnen, wenn wir die Argumente für oder gegen die nationalen Bewegungen betrachten würden, statt endlose Sammlungen willkürlich ausgewählter Zitate zu erstellen. So hat Marx beispielsweise seine Ansichten zur irischen Frage ernsthaft überdacht, und eine solche Veränderung kann nicht allein auf die Konjunktur zurückgeführt werden, da sie zu einem neuen Verständnis des revolutionären Prozesses und seiner Beziehung zum globalen Kapitalismus führte. In diesem Sinne kann die irische Frage in Marx’ Denken als Veranschaulichung und Ausgangspunkt für eine tatsächliche Neuformulierung des marxistischen Ansatzes zur nationalen Frage insgesamt dienen.
Marx und die irische Frage vor 1867
Da er lange Zeit in London lebte, beobachtete Marx den irischen Unabhängigkeitskampf aus nächster Nähe und hatte eine Vorstellung von den schwierigen Beziehungen zwischen englischen und irischen Arbeiter*innen. Marx’ Ansatz lässt sich grob in zwei Perioden unterteilen: vor und nach 1867. Der Zustrom von Migrant*innen aus Irland nach England, der durch die große Hungersnot von 1845-1849 ausgelöst worden war, veranlasste Marx zu der Feststellung eines wirtschaftlichen Paradoxons, das er später in »Das Kapital« beschrieb: Obwohl die Hungersnot die irische Bevölkerung von acht Millionen um zweieinhalb Millionen dezimierte (anderthalb Millionen verhungerten, eine weitere Million wanderte aus), stieg der Lebensstandard im Land nicht. Der Fall Irland widerlegte die im 19. Jahrhundert populäre Malthusianische Theorie, die die Verschlechterung der Lebensbedingungen mit Überbevölkerung in Verbindung brachte. Es war der Fall Irland, der Marx dazu veranlasste, den Begriff der »relativen Überbevölkerung« einzuführen. Er argumentierte, dass die relative Überbevölkerung, die notwendig ist, um billige Arbeitskräfte bereitzustellen, nicht durch »natürliche« demografische Prozesse verursacht wird, sondern durch die Strukturmechanismen des Kapitalismus.
In dieser Zeit betrachtete Marx die englischen Arbeiter*innen als die wichtigste revolutionäre Kraft, denn in England nahmen die kapitalistischen Verhältnisse ihre am weitesten entwickelte Form an, während die irischen Arbeiter*innen, ehemalige Bauern, viel weniger organisiert waren und ihre Gesinnung »derber« war als die der Engländer*innen. So heißt es in Engels’ Frühwerk »Über die Lage der arbeitenden Klasse in England« (1845), dass die Ir*innen zur moralischen Degradierung der englischen Arbeiter*innen beitrügen: »Diese Leute, fast ohne alle Zivilisation aufgewachsen, an Entbehrungen aller Art von Jugend auf gewöhnt, roh, trunksüchtig, unbekümmert um die Zukunft, kommen so herüber und bringen alle ihre brutalen Sitten mit herüber in eine Klasse der englischen Bevölkerung, die wahrlich wenig Reiz zur Bildung und Moralität hat.« Dennoch verhehlte Engels nicht seine Bewunderung für den rücksichtslosen Mut der irischen Arbeiter*innen: »Gebt mir zweihunderttausend Iren, und ich werde die ganze britische Monarchie stürzen«, schrieb er bereits 1843 in einer Schweizer Zeitung.
Vor 1867 tauchte Irland in den Werken von Marx und Engels nur am Rande auf, und ihr Ansatz zur Emanzipation der Ir*innen kann für diesen Zeitraum als »anglozentrisch« bezeichnet werden. Obwohl das »Manifest der Kommunistischen Partei« vom nationalen Kampf des Proletariats spricht, impliziert es einen Kampf innerhalb der bestehenden Staatsgrenzen: »Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler.« In diesem Sinne sollten die irischen Arbeiter*innen in England nicht für die irische Unabhängigkeit eintreten, sondern sich mit dem englischen Proletariat im Kampf gegen die englische Bourgeoisie verbünden.
Die Fenian-Affäre
Nach 1867 änderte Marx seine Haltung zur irischen Frage aufgrund der Fenian-Affäre. Die Irisch Republikanische Bruderschaft, auch bekannt als die Fenian Brotherhood (der Name bezieht sich auf die alte irische Mythologie), wurde 1858 sowohl in Dublin als auch in New York gegründet. Ziel dieser Geheimorganisation war es, Irland mit allen Mitteln von der britischen Herrschaft zu befreien. Was die Fenianer von anderen Radikalen unterschied, war ihre gemäßigte Haltung gegenüber der katholischen Kirche und ihre große Beliebtheit unter Arbeiter*innen.
Nach erfolglosen Aufständen in Dublin und Cork wurden 1867 die Anführer der Bewegung, Colonel Thomas Kelly und Captain Timothy Deasy, verhaftet. Während des Transports der beiden Gefangenen überfiel eine Gruppe von Verschwörern den Polizeiwagen, befreite die beiden Anführer und tötete einen Polizisten. Daraufhin führten die britischen Behörden eine Razzia im irischen Viertel von Manchester durch, nahmen fünf Mitglieder der Bruderschaft fest, die nichts mit dem Fall zu tun hatten, und verurteilten sie zum Tode. Die Erste Internationale begann eine energische Kampagne zur Aufhebung der Todesurteile, die jedoch erfolglos blieb, da drei der Verurteilten – Michael O’Brien, William Philip Allen und Michael Larkin, die in der irischen Befreiungsgeschichte als die Manchester Martyrs bezeichnet werden – am 22. November 1867 gehängt wurden.
Diese Amnestiekampagne zwang Marx dazu, die Beziehung zwischen der britischen Kolonialpolitik und der Klassenunterdrückung genauer zu betrachten. Am 2. November 1867 schrieb er an Engels, dass sich seine Position in der Frage der irischen Unabhängigkeit geändert habe: »Der Fenian-Prozess in Manchester war genau so zu erwarten. Sie werden gesehen haben, was für einen Skandal ›unsere Leute‹ in der Reformliga verursacht haben. Ich habe mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln versucht, die englischen Arbeiter dazu zu bewegen, für den Fenianismus zu demonstrieren. Einst hielt ich die Trennung Irlands von England für unmöglich. Jetzt halte ich sie für unvermeidlich, auch wenn die Föderation auf die Trennung folgen kann.« Und in einem Brief an die deutschen Sozialisten Meyer und Vogt vom 9. April 1870 beklagte Marx, dass die Arbeiter*innensolidarität in England durch die chauvinistische Einstellung der englischen Arbeiter*innen selbst bedroht sei und nicht (wie es vor 1867 der Fall zu sein schien) durch die irische Moral oder die Bereitschaft irischer Arbeiter*innen, unter ungünstigeren Bedingungen zu arbeiten. »In jedem Industrie- und Handelszentrum Englands gibt es jetzt eine Arbeiterklasse, die in zwei feindliche Lager gespalten ist: englische Proletarier und irische Proletarier. Der gewöhnliche englische Arbeiter hasst den irischen Arbeiter als einen Konkurrenten, der seinen Lebensstandard senkt. Im Verhältnis zum irischen Arbeiter betrachtet er sich als Mitglied der herrschenden Nation und wird folglich zum Werkzeug der englischen Aristokraten und Kapitalisten gegen Irland und stärkt damit deren Herrschaft über sich selbst.«
Das Gefühl der imperialen Überlegenheit, das die englische Arbeiter *innenklasse mit den Eliten verband, schwächte laut Marx die Arbeiter *innenbewegung.
So war es der koloniale Status Irlands, der die Solidarität zwischen irischen und englischen Arbeiter*innen in Frage stellte. Marx fuhr fort: »Dieser Antagonismus wird durch die Presse, die Kanzel, die Witzblätter, kurz durch alle Mittel, die den herrschenden Klassen zur Verfügung stehen, künstlich am Leben erhalten und verschärft. Dieser Antagonismus ist das Geheimnis der Ohnmacht der englischen Arbeiterklasse, trotz ihrer Organisation.« Im gleichen Brief betonte Marx, dass die Hauptaufgabe der Sozialist*innen darin bestehe, »den Konflikt zwischen England und Irland in den Vordergrund zu stellen und sich überall offen auf die Seite Irlands zu stellen, … den englischen Arbeitern klarzumachen, dass für sie die nationale Emanzipation Irlands keine Frage abstrakter Gerechtigkeit oder humanitärer Gefühle ist, sondern die erste Bedingung ihrer eigenen sozialen Emanzipation.« Mit anderen Worten: Das Gefühl der imperialen Überlegenheit, das die englische Arbeiter*innenklasse mit den bürgerlichen und aristokratischen Eliten verband, schwächte laut Marx die Arbeiter*innenbewegung nicht nur in England, sondern in ganz Europa. Denn in dem am stärksten industrialisierten Land mit dem am besten organisierten Proletariat stellte sich dieses eher auf die Seite der Unterdrücker statt auf die der Unterdrückten. Im Falle Irlands war das Recht einer Nation auf Selbstbestimmung für Marx kein abstraktes Prinzip, sondern eine Antwort auf die kolonialen Ambitionen und den Chauvinismus der imperialistischen Länder.
Lenin: das Recht auf Selbstbestimmung und Scheidung
Zur Jahrhundertwende verlagerte sich das Zentrum der revolutionären Aktivitäten von Großbritannien und Frankreich nach Russland, Österreich-Ungarn und Preußen. Die nationale Frage war in diesen Ländern noch verzwickter als in Großbritannien, da eine klare Abgrenzung zwischen den Kolonien und der Metropole unmöglich war. In diesem Zusammenhang löste das »Selbstbestimmungsrecht der Nationen«, das 1896 auf der Londoner Konferenz der Zweiten Internationale beschlossen und dann in Artikel 9 des auf dem Zweiten Kongress 1903 verabschiedeten Programms der Russischen Sozialdemokratischen Partei, RSDLP, verankert worden war, eine heftige Debatte in der europäischen Sozialdemokratie aus. Im Laufe dieser Debatte traten mehrere konkurrierende Projekte hervor. So schlugen die österreichischen Sozialisten Karl Renner und Otto Bauer vor, den verschiedenen Völkern eine extraterritoriale nationale Autonomie zu gewähren, wobei die Einheit der Staatsgrenzen des österreichisch-ungarischen Reiches gewahrt bleiben sollte. Rosa Luxemburg ihrerseits stand der Idee der nationalen Selbstbestimmung kritisch gegenüber, da sie darin eine Bedrohung für die Einheit der Arbeiter*innenklasse im Russischen Reich sah.
Unter den Bolschewiki waren die Hauptgegner*innen des nationalen Selbstbestimmungsrechts Georgi Pjatakow, Eugenia Bosch und Nikolai Bucharin. Sie betrachteten den Nationalismus als ein Produkt der kapitalistischen Entwicklung, das aus der Konkurrenz zwischen den Staaten erwachse. Daher lenke der Nationalismus das Proletariat vom Hauptkonflikt (Klassenkampf) und der revolutionären Tätigkeit ab, indem er seine Interessen mit denen der nationalen Bourgeoisie vermenge.
Lenin kritisierte diesen Klassenreduktionismus in seinem Artikel »Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen« (1914) scharf. Obwohl seine Hauptgegnerin in diesem Text Rosa Luxemburg ist, dient sie eher als Projektionsfläche, die nicht die differenzierte Position der polnisch-deutschen Sozialist*innen widerspiegelte. In dem Artikel räumte Lenin ein, dass Nationalstaaten ein Produkt des Kapitalismus seien und dass der Nationalismus im Allgemeinen die Einheit der Arbeiter*innen untergrabe. Gleichzeitig betrachtete Lenin den Nationalismus nicht als ein a priori positives oder destruktives Phänomen, sondern nahm eine Unterscheidung zwischen dem Nationalismus einer unterdrückten Nation und dem einer Unterdrücker-Nation vor.
Lenin ging es dabei um mehr als politische Taktik, wenngleich die Gewährung des Selbstbestimmungsrechts für ihn eine wichtige Rolle dabei spielen sollte, andere Nationalitäten auf die Seite des russischen Proletariats zu ziehen. Seine Position zum nationalen Selbstbestimmungsrecht spiegelte die tiefe Besorgnis über den Chauvinismus der russischen Arbeiter*innen und Sozialdemokrat*innen wider (die überwiegende Mehrheit der Industriearbeiter*innen und sozialdemokratischen Parteimitglieder in der Peripherie des russischen Reiches betrachtete sich als russisch). Lenin verglich das Recht auf Selbstbestimmung mit dem Recht auf Ehescheidung und betonte, dass jede Vereinigung nur auf freiwilliger Zustimmung beruhen könne: »Ähnlich wie in der bürgerlichen Gesellschaft gegen die Freiheit der Ehescheidung die Verteidiger der Privilegien und der Käuflichkeit auftreten, auf denen sich die bürgerliche Ehe aufbaut, bedeutet im kapitalistischen Staate die Ablehnung des Selbstbestimmungs-, d. h. des Lostrennungsrechtes der Nationen nur eine Verteidigung der Privilegien der herrschenden Nation und der polizeilichen Verwaltungsmethoden zum Nachteil demokratischer Methoden.«
In dieser Polemik über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen stützte sich Lenin auf die Argumente von Marx für die irische Unabhängigkeit. Marx, so Lenin, habe darauf hinweisen wollen, dass sich die Herrschaft über eine »unterdrückte Nation« für die Arbeiter*innen, die einer Unterdrücker-Nation angehören, als politische Katastrophe erweise.
Bei der Erörterung des Problems der nationalen Unterdrückung durch ungleiche Entwicklung der kapitalistischen Verhältnisse teilte Lenin die nationalen Einheiten in drei Hauptgruppen. Zur ersten Gruppe gehörten die Länder mit voll entwickeltem Kapitalismus: Sie seien Unterdrücker-Nationen, und daher habe der Nationalismus dort kein Recht zu existieren. Die zweite Gruppe bestand aus den osteuropäischen Ländern, die erst kürzlich den Weg der kapitalistischen Entwicklung eingeschlagen hatten. »Dort kann die ›Verteidigung des Vaterlandes‹ noch die Verteidigung der Demokratie, der Muttersprache, der politischen Freiheit gegen die Unterdrücker-Nationen sein«, so Lenin. Die dritte Gruppe verfüge noch nicht über eine starke nationalistische Bewegung: Die Nationenbildung sei ihre Zukunft. Lenin sah in der ungleichmäßigen Entwicklung des Kapitalismus und seinen Widersprüchen Chancen für eine revolutionäre Bewegung, zu denen auch das Selbstbestimmungsrecht der Nationen gehörte.
Nicht nur Parteitaktik
Die hier dargelegte marxistische Argumentation lässt sich wie folgt zusammenfassen: Um revolutionär zu werden, muss die Arbeiter*innenklasse erkennen, dass die Solidarität als solche keine Grenzen kennt, während die Praxis der Solidarität manchmal verlangt, dass neue Grenzen gezogen werden, in diesem Fall zwischen Unterdrückern und Unterdrückten. Die von Marx und Lenin artikulierten Positionen haben nichts Moralisierendes an sich, noch appellieren sie an eine »universelle Moral«. Für beide ist die Solidarität mit den Unterdrückten keine abstrakte Parole, sondern eine konkrete politische Praxis. Beide argumentieren, dass in der Geschichte des Kapitalismus verschiedene Arten der Unterdrückung zusammenlaufen und sich überschneiden und zu einem Element des Ganzen werden. Daher könne der Kampf gegen das Kapital nicht vom nationalen Befreiungskampf isoliert werden. Um eine Klasse im politischen Sinne zu werden, müssen die Arbeiter*innen für die Sache der unterdrückten Nationen kämpfen. Das ist nicht nur eine Frage einer Parteitaktik, sondern die Arbeiter*innenklasse kann nur dann zu einer politischen Kraft werden, wenn sie den Kampf der unterdrückten Nationen als Teil ihres eigenen Kampfes aufnimmt.
Ohne Zweifel war die nationale Politik der Bolschewiki in der frühen UdSSR in der Praxis widersprüchlich und nicht allen Völkern wurden das volle Recht auf Selbstbestimmung gewährt. Der brutale Sieg der stalinistischen Linie in der nationalen Frage führte schließlich zur Unterdrückung der nationalen Autonomien sowie zu den abscheulichen Zwangsdeportationen von Angehörigen von Minderheiten. Nichtsdestotrotz beschränkte sich das Selbstbestimmungsrecht im ursprünglichen bolschewistischen Programm nicht auf Taktik, sondern beruhte auf dem Grundgedanken der kommunistischen Revolution als umfassendem Kampf gegen Unterdrückung. Wenn die Arbeiter*innenklasse in diesem Kampf eine wichtige Rolle spielen soll, muss sie auf jeden Anspruch auf Privilegien verzichten. Die Vergangenheit kann nicht geändert werden, aber aus ihr kann die Zukunft keimen. Und unsere Aufgabe ist es, die Brüche und Verwerfungen in der Vergangenheit zu finden, die es ermöglichen, die Geschichte der Unterdrückten heute zu schreiben.
Übersetzung: ak