»Weil mir meine Gesundheit wichtig ist«
In der Berliner Habersaathstraße haben ehemals Wohnungslose vor einem Jahr ein leer stehendes Gebäude besetzt – ob sie bleiben können, ist weiter unklar
Von Tim Lüddemann
Hallo, wunderschön, dass ihr da seid«, begrüßt ein Mann im Treppenhaus eine Gruppe von Journalist*innen. »Ihr seid unsere ersten Gäste heute«, stellt er fest und huscht die Treppe hinauf. Der Weg führt zu einer Wohnung, deren Tür weit offen steht. »Das ist unsere Musterwohnung«, sagt er und bittet hinein. Fabi dürfte sich streng genommen hier nicht aufhalten. Er und einige Dutzend weitere Personen haben gerade mehrere Wohnungen in dem Haus im Gebäudekomplex in der Habersaathstraße 40–48 in Berlin-Mitte besetzt. Die »Musterwohnung« ist einfach renoviert, besitzt eine schlichte Einbauküche und ein paar Einrichtungsgegenstände älteren Semesters. »Und das ist einer unserer ersten Mitbewohner«, verkündet Fabi und zeigt auf einen vermummten Mann, der im Wohnzimmer auf einer Couch sitzt. »Ich bin Maik«, stellt der sich vor, »ich lebe auf der Straße, und heute ziehe ich hier ein, weil mir meine Gesundheit wichtig ist und ich noch Überlebenswillen habe.«
Es ist der 18. Dezember 2021. Kältebusse fahren in der Stadt umher, um von den Temperaturen um den Gefrierpunkt bedrohte Obdachlose vor dem Schlimmsten zu bewahren. Zwischen 2016 und 2020 sind laut Gesundheitsberichterstattung des Bundes in der deutschen Hauptstadt mindestens 29 Menschen auf der Straße erfroren. Eine Gruppe von Mietaktivist*innen hat sich deshalb mit Obdachlosen zusammengetan und die Initiative Leerstand Hab-ich-saath gegründet. Ihr Rezept ist so simpel wie kontrovers: Sie besetzen aus ihrer Sicht zweckentfremdete Wohnungen und stellen sie Obdachlosen zur Verfügung. »Die Wohnungen in der Habersaathstraße standen vorher jahrelang leer«, begründet Fabi das Vorgehen. »Wir sind eingezogen, um sie wieder dem Wohnungsmarkt zuzuführen. Der Eigentümer hat andere Pläne. Er will die Häuser abreißen, das wollen wir verhindern.«
Ob das gelingt, ist ein Jahr nach der Besetzung offen. Noch immer steht der Abriss im Raum. Wenn es nach dem Eigentümer, der Arcadia Estates GmbH, geht, sollen die neuen Bewohner*innen Ende März geräumt werden. Die wenigen alten Bewohner*innen, die zum Zeitpunkt der Besetzung noch in dem Gebäude wohnten, sollen bis zum 1. Mai gehen, den Plänen des Vermieters Platz machen. Und die lauten offensichtlich: ordentlich Rendite machen.
Ein Haus in bester Lage
Denn die Habersaathstraße befindet sich in bester Lage. Direkt gegenüber steht der Neubau des Bundesnachrichtendienstes, um die Ecke haben sich Hotels angesiedelt, der Hauptbahnhof ist nur zehn Gehminuten entfernt. Das Haus, das die Aktivist*innen besetzt haben, war zu DDR-Zeiten von der Berliner Charité errichtet worden, um ihren Angestellten Wohnraum in der Nähe des Krankenhauses bereitzustellen. Bis 2006 gehörte es dem Land Berlin, das es für zwei Millionen Euro an einen privaten Eigentümer verkaufte – ein Schnäppchenpreis angesichts der Lage und Größe des Objektes.
Nach umfangreichen energetischen Sanierungen und der Installation einer Photovoltaikanlage auf dem Dach verkaufte der neue Eigentümer das Haus im Jahr 2017 weiter an die Immobilienfirma Arcadia Estates – für das Zehnfache des ursprünglichen Kaufpreises. Die Firma stellte einen Antrag, das Objekt abzureißen, um das Gelände mit höherpreisigen Wohnungen neu zu bebauen. Gleichzeitig gab es für die Bewohner*innen Mieterhöhungen und Modernisierungsankündigungen. Mehr als 80 Mietparteien zogen aus, nur gut ein halbes Dutzend blieb.
Wenn es nach dem Eigentümer geht, sollen die neuen Bewohner*innen Ende März geräumt werden.
Daniel Diekmann lebt seit 20 Jahren in dem Haus, er ist Sprecher der Hausgemeinschaft. Dass mehr als 50 Obdachlose in die leeren Wohnungen eingezogen sind, findet er gut. »Wir haben uns als Hausgemeinschaft einstimmig dafür entschieden, die neuen Mieter*innen willkommen zu heißen, weil nur so der Leerstand beendet werden konnte. Es ist unangenehm, in einem Haus zu leben, in dem fast alle Wohnungen leerstehen«, sagt er.
Dass die Obdachlosen nach dem 18. Dezember 2021 bleiben konnten, stand noch am gleichen Tag fest. Der Bezirk, alte und neue Mieter*innen konnten dem Eigentümer die Zusage abringen, dass die leerstehenden Wohnungen »vorübergehend« von Obdachlosen bezogen werden dürfen. Seitdem haben mehr als 50 Personen, die vorher auf der Straße lebten, ein Dach über dem Kopf.
Der Berliner Mieterverein begleitet die Leute aus der Habersaathstraße seit Jahren und berät sie in der Auseinandersetzung mit dem Eigentümer. Sebastian Bartels, stellvertretender Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, hat die Besetzung und die nachfolgenden Verhandlungen mitbekommen. »Wir haben eine Situation, die eigentlich wünschenswert ist«, meint er. »Wohnungslose Menschen bekommen sofort eine Unterkunft, also Housing First. Die Gefahr ist jetzt, dass durch eine Vereinbarung, die das Bezirksamt mit dem Eigentümer schließt, diese wohnungslosen Menschen wieder herauskatapultiert werden.«
Abriss oder Rekommunalisierung
Was Bartels meint, ist eine Vereinbarung, die eigentlich geheim bleiben sollte. Der Bezirk Berlin-Mitte, damals unter Verantwortung des inzwischen abgewählten Bezirksbürgermeisters Stephan von Dassel (Grüne), und der Eigentümer hatten sie im Juni 2022 beschlossen, die Einzelheiten sollten der Öffentlichkeit und den Mieter*innen aber nicht transparent gemacht werden. Nur soviel: Der Eigentümer dürfe das Objekt abreißen und einen Neubau errichten. Dafür muss den alten Mieter*innen entweder eine Entschädigung bezahlt werden, wenn sie ausziehen, oder ihnen müssen Mietverträge in dem Neubau angeboten werden, die den bisherigen Konditionen entsprechen. Dies wäre in Kraft getreten, wenn fünf der offiziell sieben verbliebenen alten Mieter*innen dem zugestimmt hätten. Der Haken: Die ehemals obdachlosen neuen Mieter*innen werden in dieser Vereinbarung nicht erwähnt, sie hätten über erwirkte Räumungstitel ihre Wohnungen verlieren können. Und die Mieter*innen hatten nur zwei Tage Zeit, über ihre Zustimmung zu entscheiden.
Die Bewohner*innen entschieden dagegen. »Da wurde komplett über unsere Köpfe hinweg entschieden«, regt sich Diekmann über den Deal auf. Für Diekmann ist die Auseinandersetzung mit dem Vermieter nur ein Symptom eines grundsätzlichen Problems. »Wenn wir hier weg sind und der Neubau kommt, werden die Mieten im Kiez massiv steigen«, prognostiziert er. »Das sehen wir ja überall: Wohnen wird zum Renditeobjekt, es wird spekuliert, und wer verliert, sind die Mieter*innen.« Diekmann befürchtet, dass in den Neubau vorrangig Besserverdienende einziehen werden.
Um das zu verhindern, fordert die Initiative Leerstand Hab-ich-saath die Rekommunalisierung des Hauses, also den Rückkauf durch die Stadt. Hierfür seien zähe Verhandlungen mit dem Eigentümer nötig, der einem Rückkauf zustimmen müsste, meint Valentina Hauser, die Sprecherin der Initiative. Sie sieht hier den Senat in der Verantwortung, da ein solches Vorhaben die finanziellen Mittel des Bezirks übersteige: Arcadia Estates hatte den Komplex seinerzeit für 46 Millionen Euro wieder zum Verkauf angeboten. Daher fordert die Initiative vom Senat, zunächst ein Verkehrswertgutachten in Auftrag zu geben. Um sich einer eigenen Preisvorstellung anzunähern, schlägt Leerstand Hab-ich-saath vor, vom Ertragswert auszugehen, also auf Grundlage der gezahlten Mieten zu rechnen. So oder so werde eine deutlich niedrigere Summe herauskommen, ist sich Valentina Hauser sicher, schließlich habe der Eigentümer keinerlei Geld in die Instandhaltung gesteckt, was den Wert des Gebäudes deutlich senke.
Doch die Arcadia Estates GmbH hält an den Abrissplänen fest. Stefanie Remlinger (ebenfalls Grüne) war noch nicht als neue Bezirksbürgermeisterin gewählt, da versuchte der Vermieter bereits, Fakten zu schaffen: Er versendete an die Mieter*innen sogenannte Verwertungskündigungen. Es lasse sich mit der Immobilie aktuell kein Gewinn mehr erwirtschaften, deshalb müssten die Mieter*innen ausziehen, das Gebäude abgerissen und neu gebaut werden.
Für den Erhalt des einmaligen Projekts
»Das ist absurd«, bewertet Diekmann die Kündigungsschreiben. Der Vermieter versuche mit allen Mitteln, die Mieter*innen rauszubekommen, werde damit aber vor Gericht scheitern. Diekmann und die anderen Mieter*innen wollen nun auf den juristischen Weg setzen. Für sie ist klar, sie werden in der Habersaathstraße bleiben.
Sven Müller gehört zu denen, die dank des Projektes wieder ein Zuhause haben. Seit seinem Einzug im Dezember 2021 kann er nach vier Jahren Wohnungslosigkeit wieder hinter sich die Tür zu seiner eigenen Wohnung schließen. »Ich habe als Lkw-Fahrer gearbeitet und nicht schlecht Geld verdient, trotzdem habe ich keine Wohnung gefunden«, erzählt er. Die Zeit in der Notunterkunft sei schlimm gewesen. Zweimal sei er mit einem Messer bedroht worden, die hygienischen Zustände seien untragbar gewesen. Von dem Plan, die Habersaathstraße zu besetzen, habe er zufällig erfahren. »Mich hat jemand angesprochen, ob ich eine Wohnung brauchen würde und dass sie etwas vorhätten. Ich war erstmal skeptisch, weil ich keinen Stress mit Bullen haben möchte. Aber er sagte, ich könne auch draußen stehen und abwarten, was drinnen passiert. Und so bin ich hier gelandet.«
Für Müller und die anderen Obdachlosen ist es die einzige Möglichkeit. »Wenn ich das hier aufgeben müsste, hätte ich ein echtes Problem«, sagt er. »Ich wünsche mir, dass wir das Haus behalten können und die Stadt das Gebäude zurückkauft. Es ist ein so einmaliges Projekt – das muss erhalten bleiben.«
Auch Diekmann will nicht locker lassen. »Um mich herum fassen die Leute immer mehr Fuß: fangen eine Ausbildung an, machen einen Entzug und kommen wieder im Leben an. Dieses erfolgreiche Projekt dürfen wir nicht einfach aufgeben.«
Der Text basiert auf der Reportage »Das erfolgreichste Housing-First-Projekt ever«, die im Oktober im neuen deutschland erschien. Für ak wurde sie ergänzt und aktualisiert.