»Wir geben dem Kampf seine Seele«
Stahlarbeiter Meytham al Mahdi über die Bedeutung von Arbeiter*innenstreiks für die Aufstandsbewegung in Iran
Interview: Amina Aziz
In Iran gibt es nicht nur weiterhin zahlreiche Straßenproteste gegen das Regime – es kommt immer wieder auch zu Arbeitsniederlegungen. Arbeiter*innen sind teilweise schon kampferprobt: Anlässlich der Privatisierung von Unternehmen und der verheerenden wirtschaftlichen Situation gab es in den vergangenen Jahren kontinuierlich Streiks, die sich auch schon gegen die Islamische Republik richteten. Was sich nun verändert hat und welche Rolle die Streiks für die derzeitige Bewegung spielen, erklärt Meytham al Mahdi.
Du wurdest vor einigen Jahren wegen deiner Teilnahme an Streiks verhaftet und musstest ein Leben im Untergrund führen. Kannst du die genaueren Umstände schildern?
Meytham al Mahdi: In der Fabrik haben wir seit 2015 regelmäßig gestreikt. Aber zum ersten Mal auf die Straßen gegangen sind wir im Winter 2016/2017. Damals haben wir 10- bis 15-tägige Streiks außerhalb der Fabrik, auf den Straßen, organisiert. Abends haben ich und einige andere uns den Demonstrationen der Menschen auf der Straße angeschlossen, und tagsüber haben wir mit den Arbeiter*innen gestreikt und protestiert. Das ging regelmäßig so weiter. Selbst nachdem ich verhaftet wurde, haben die Kolleg*innen weiter gestreikt und protestiert. Damals wurde ich zu einem Video-Geständnis gezwungen. Darüber hinaus sollte ich auf der Straße die Arbeiter*innen davon abhalten zu streiken und zu protestieren. Das habe ich nicht getan und danach etwa sieben Monate ein Leben im Untergrund geführt. Ende 2018 wurden nächtliche Razzien bei 41 Arbeitern zuhause durchgeführt. Auch bei mir, aber da war ich schon im Untergrund.
Es ist nicht so leicht, an Infos über die Streiks seit Jina Aminis Tod im September 2022 zu kommen. Es gibt keine quantitativen Erhebungen oder Ähnliches. Wer streikt?
Die Streiks von Projekt-Arbeiter*innen (1) aus den Fabriken der für die Wirtschaft wichtigen Industrien gingen von Assaluyeh, Jam und Abadan (2) aus. Als die Streiks losgingen, wurde das Internet abgestellt. Dann kommuniziert man anders miteinander und versucht sich zu koordinieren. Aber darüber sollten wir nicht zu detailliert sprechen und so möglicherweise die Sicherheit der Menschen vor Ort gefährden. Die Streiks haben sich auf weitere für die Wirtschaft wichtige Industrien ausgeweitet.
Die Kurd*innen haben direkt nach dem Tod von Jina Amini gestreikt. Sie haben eine Streikkultur, vor der man den größten Respekt haben muss. Auch von ihnen haben andere gelernt. Die Proteste gingen los mit den Frauen in Kurdistan, in Teheran wurde es von anderen Frauen aufgenommen, und landesweit streikten und protestierten dann auch Studierende, LKW-Fahrende, die auch schon in den vergangenen Jahren gestreikt haben, und viele andere Branchen.
Meytham al Mahdi
ist 38 Jahre alt und hat elf Jahre in einer der ältesten Stahlfabriken des Landes, der Iran International Steel Group in Ahwaz (Khuzestan) in Südiran, gearbeitet, bis er aufgrund seiner illegalisierten Aktivitäten als streikender Arbeiter festgenommen wurde und vor etwas mehr als drei Jahren das Land verlassen musste.
Die Boulevardpresse in Iran oder die bürgerliche und rechte Presse außerhalb Irans berichten über die Streiks auf eine Art, dass die politischen Forderungen der Arbeiter*innen untergehen und es ihrer eigenen Agenda entgegenkommt. Auf Instagram, Telegram und teilweise Twitter gibt es aber verlässliche Infos, z.B. auf den Kanälen Sarkhatism, blackfishvoice oder ettehad.azad.
Die derzeitigen Streiks sind die am längsten andauernden Streiks am Stück in der Geschichte der Islamischen Republik. Kann man sagen, wie viele sich bisher beteiligt haben?
Das ist nicht so einfach zu beantworten. Es besteht zum einen die Gefahr, dass das Regime die Informationen nutzt, um gegen Arbeiter*innen und die Streiks vorzugehen. Zum anderen können wir lediglich anhand der Größe der Betriebe und Projekte Zahlen schätzen. Das ist nie vollständig, denn wie du weißt, sind Streiks und Versammlungen in Iran verboten. Die Absprachen zu streiken finden heimlich statt.
In Iran gibt es etwa 30.000 Projektarbeiter*innen in der Erdölindustrie. Der Austausch mit den Kollege*innen hat ergeben, dass von diesen Projekt-Arbeiter*innen am ersten Tag der Streiks am 10. Oktober schätzungsweise 7.000 bis 9.000 gestreikt haben. Davon haben bei Zob Ahan (3) in Isfahan 5.000 gestreikt. Für andere Städte sind keine Schätzungen möglich oder können aus Sicherheitsgründen nicht verbreitet werden. Ich gehe davon aus, dass sich inzwischen weit mehr als 30.000 Arbeiter*innen insgesamt, auch aus anderen Industrien und Branchen, an den Streiks beteiligt haben.
Wie unterscheiden sich die Streiks der vergangenen Monate von den vielen Arbeitskämpfen der letzten Jahre?
Besonders in den Wochen nach Jina Aminis Tod konnte man eine Veränderung im Verhalten einiger Arbeiter*innen feststellen. Davor gab es immer Konservative unter ihnen, die gesagt haben: »Lasst uns einen besseren Zeitpunkt für einen Streik abwarten, wenn auf den Straßen nicht protestiert wird, ist es sicherer für uns.« Das gibt es diesmal nicht. Die Dichte an Streiks hat zudem stark zugenommen. Diesmal ist der Streik von anderen Teilen der Bewegung als Mittel des Protests anerkannt worden, während das vorher eher auf Arbeiter*innen beschränkt war. Das ist eine sehr wichtige Entwicklung. Ich spreche auch aus der Perspektive eines Teils der arabischen Bevölkerungsgruppe Irans. Aufgrund des Rassismus, den es gegenüber allen sogenannten Minderheiten gibt, ist es ein Fortschritt, dass unterschiedliche Bevölkerungsgruppen mit uns zusammenarbeiten. Als ich ein Kind war, war das unvorstellbar. Aufgrund der gewaltvollen Niederschlagungen der Streiks und des Verbots, sich als Arbeiter*in zu organisieren wird es noch ein langer Prozess sein, bis diese Entwicklungen sich verstetigen, aber daran wird täglich gearbeitet.
Streiks sind von anderen Teilen der Bewegung als Mittel des Protests anerkannt worden – ihre Dichte hat stark zugenommen.
Die Organisierung der Arbeiter*innenklasse hatte sich schon in den vergangenen Jahren enorm entwickelt, vor allem nach mehreren Privatisierungswellen, die eine Verschlechterung der Situation der Lohnabhängigen bedeuteten. Ohne über gefährdende Details zu sprechen: Wie muss ich mir so einen Prozess vorstellen, wie läuft das ab unter solch schwierigen, repressiven Umständen und in großen Betrieben?
Das war natürlich nicht einfach. Es war ein Lernprozess. Ich selbst hatte ja am Anfang überhaupt kein Interesse an Streiks und dann noch für einen Systemwechsel, damit sollte man mir fernbleiben. (lacht) Irgendwann fiel mir das Buch »Zwanzig Jahre im russischen Untergrund: Memoiren einer Bolschewikin« von Cecilia Bobrovskaya in die Hände. Das veränderte meine Art, über die Verhältnisse zu denken, radikal. Aber mit meinem Gerede vom Potenzial der Arbeiter*innen für einen Systemwechsel, auch einen ökonomischen, bin ich unter Kollege*innen in der Fabrik auf Ablehnung gestoßen. Die wollten einfach nur ihren Lohn ausgezahlt bekommen und nicht hören, was ich zu sagen hatte. Sie haben mich sogar aus Räumen rausgeschmissen und gesagt, ich würde ihnen Kopfschmerzen bereiten. (lacht) Inzwischen sind genau die, die mich rausgeschmissen haben, einige meiner engsten Freunde. Es war ein etwa ein- bis zweijähriger Prozess, bis ich und einige andere das Vertrauen der Kolleg*innen gewinnen und Komitees, also Arbeiter*innenräte, gründen konnten, die sich dann organisiert haben.
Unter schweren Umständen. Es sind Basij, also sogenannte Paramilitärs, in den Betrieben, die die Arbeiter*innen überwachen, auch wenn sie formal als Gewerkschaft eingesetzt werden…
Genau, es gibt sogenannte Islamische Räte in den Betrieben, die dem Papier nach die Interessen der Arbeiter*innen vertreten sollen. In Wirklichkeit aber frisieren sie die Statistik der Unternehmen. Das heißt zum Beispiel: Wenn eine Reihe an Arbeiter*innen in Rente geht, müssten andere für ihren Job nachrücken. Das passiert aber nicht, denn die Basij fälschen die Zahlen. In meiner alten Fabrik müssten 7.000 Personen arbeiten. Es arbeiten dort aber nur 3.000. So spart das Unternehmen Geld, aber die Mehrarbeit wird auf die verbliebenen Arbeiter*innen abgewälzt.
Die Idee von Streiks zu vermitteln ist nicht unbedingt ein leichtes Unterfangen. Wie verbreiten Arbeiter*innen in einem Umfeld, das von Repression geprägt ist, ihre Ideen und Vorhaben, gibt es Unterstützung zum Beispiel von Kommunist*innen?
Es gibt in Iran der Arbeiter*innenbewegung gegenüber treue Linke, die solidarisch sind. Aber es gibt auch bourgeoise Kommunist*innen, die das ganz toll finden, was man da so treibt. Sie kommen und wollen ein Selfie mit einem machen und sich unsere Kämpfe aneignen. Dabei sind wir es, die unter den Umständen leiden, nicht die bürgerliche Klasse. Sie tun so, als ob wir von ihnen gelernt hätten. Dabei haben wir aus unserer eigenen Erfahrung, aus unserer eigenen Praxis, unseren Umständen und Verhältnissen gelernt. Die Arbeiter*innenkämpfe sind es, die jeder Theorie Leben einflößen. Wir geben dem Kampf auf der Straße seine Seele. Wir folgen nicht blind einer Ideologie, sondern wir überlegen aus der Praxis heraus, wie es einen Ausweg aus der Ausbeutung der arbeitenden Klasse geben kann. Deswegen funktioniert es nicht, wenn jemand von außen kommt und uns belehren will über unseren Kampf. Wir müssen diesen Kampf selbst kämpfen. Unsere Umstände veranlassen uns dazu.
Braucht es mehr Streiks, damit es zur Revolution kommt?
Die Revolution ist ein Prozess, kein Befehl. Sie folgt keinem Rezept, bei dem man verschiedene Zutaten in einen Schnellkochtopf wirft, und dann pfeift es nach kurzer Zeit, und sie ist fertig. Die Streiks und Proteste der Arbeiter*innen werden nicht aufhören, denn die Arbeitsbedingungen ändern sich ja auch nicht! Deswegen wird, auch Niederschlagungen zum Trotz, weiter und routinierter gestreikt werden. Die Leute sind inzwischen besser organisiert, und der Prozess der Revolution ist in vollem Gange. Das Ziel ist die Revolution, wann auch immer sie stattfindet.
Anmerkungen:
1) Projekt-Arbeiter*innen haben nicht dieselben Rechte wie Festangestellte.
2) Assaluyeh und Jam liegen in der Provinz Buschehr in Südiran. Assaluyeh beherbergt einen wichtigen Industriehafen und wie Jam Petrochemieanlagen. Abadan liegt in Khuzestan und ebenso wie Buschehr am Persischen Golf. In Abadan steht eine der größten Erdölraffinerien der Welt, das Zentrum der iranischen Erdölproduktion. Nach Teheran trägt Khuzestan am meisten zum Bruttoinlandprodukt bei, hat jedoch eine der höchsten Armuts- und Arbeitslosenquoten des Landes.
3) Eines der größten Stahl- und Metall produzierenden und verarbeitenden Unternehmen in Iran.