»Das Hilfesystem ist bevormundend«
Wie er seine Wohnung verlor und warum viele Organisationen als Teil der Armutsindustrie funktionieren, erklärt Django im Interview
Interview: Carina Book
Wie wird man obdachlos? Auf diese Frage gibt es so viele Antworten wie Menschen, die obdachlos sind. Gemeinsam haben alle, dass der Weg zurück langwierig und von vielen Hürden gesäumt ist. Wie es ihm dennoch gelang, die Straße hinter sich zu lassen, berichtet der ehemalige Obdachlose Django aus Düsseldorf.
Du warst viele Jahre obdachlos. Wie kam es dazu?
Django: Ich bin gelernter Bergmann und komme gebürtig aus dem Ruhrpott. Nach meiner Arbeit im Bergwerk bin ich Zeitsoldat bei der Bundeswehr geworden. Ich war in Wildeshausen bei den Fallschirmjägern stationiert, habe aber in Bremen gewohnt, in einer Wohnung mit meiner damaligen Ehefrau. Im Anschluss an die Bundeswehrzeit war ich für fast zwei Jahre bei Mercedes beschäftigt. Dann hat mich meine Frau verlassen. Da ist eine Welt für mich zusammengebrochen.
Und dann?
Ich war ja Soldat, deshalb habe ich mich dann bei den Amis beworben. Vier Jahre war ich bei denen als Vertragssoldat und bin mit meiner Einheit in den Kosovo gegangen. Damals habe ich gedacht, ich hätte die richtige Entscheidung getroffen. Nur die Auswirkungen waren dann ganz anders, als ich es vorher erwartet hatte.
Was hattest du erwartet?
Ich habe damals geglaubt, dass ich mit dem Einsatz im Kosovo Schlimmeres dort verhindern könnte. Heute weiß ich, dass man Frieden nicht mit Waffen schaffen kann. Das habe ich auf die harte Tour gelernt: Es war ein sehr blutiger Konflikt. Ich habe darin gekämpft, und ich habe auch getötet. Und damit bin ich nicht klargekommen. Ich hatte Albträume, Panik und so weiter. Dann habe ich angefangen zu saufen, habe meine Wohnung verloren und bin nach Düsseldorf gegangen. Das war 1992.
Django
ist 65 Jahre alt, gelernter Bergmann und kommt gebürtig aus dem Ruhrpott. 20 Jahre lang lebte er in Norddeutschland. Danach war er lange obdachlos und kennt das Hilfesystem wie seine Westentasche. Seit viereinhalb Jahren ist er trockener Alkoholiker und lebt mit seiner Ehefrau in einer eigenen Wohnung.
Wie ging es dann weiter?
Ich habe komplett den Halt verloren. In Düsseldorf bin ich auf der Straße gelandet, habe teilweise in einer Nachtunterkunft geschlafen und teilweise auf der Straße, denn in der Nachtunterkunft kam ich auch nicht zurecht.
Was war das Problem in der Nachtunterkunft?
In der Nachtunterkunft zu schlafen, hieß auch, ab 20 Uhr keinen Alkohol mehr trinken zu können. Und das ist natürlich ein Riesenproblem, wenn du süchtig bist. Es ist auch nachvollziehbar, dass die Nachtunterkünfte das so gehandhabt haben: Wo massig Alkohol im Spiel ist und dann auch noch viele Männer auf einem Haufen sind, kann es schnell mal Randale geben. Ich hatte in dieser Zeit immer mal wieder ein Zimmer oder eine Wohnung, aber die habe ich immer wieder verloren. Ausschlaggebend war meine Sucht. Du musst erstmal herausfinden, was du mit deiner Sucht unterdrücken willst und warum du säufst. Sonst geht die Spirale immer so weiter.
Wie bist du da herausgekommen?
Ich hatte einen körperlichen Zusammenbruch. Da stand ich vor der Entscheidung: entweder aufhören zu saufen oder krepieren. Ich habe mir dann Hilfe gesucht. Von einer städtischen Notunterkunft bin ich in ein trockenes betreutes Wohnen gezogen. In der Entgiftung habe ich jemanden kennengelernt, wir kamen zusammen, und die ersten fünf Monate haben wir die Abstinenz auch gut zusammen durchgehalten. Aber dann sind wir rückfällig geworden, aus dem betreuten Wohnen geflogen und standen wieder vor dem Nichts. Das ist die ganz normale Spirale.
Wie oft ist dir das passiert?
Fünf, sechs, sieben Mal. Ich habe es irgendwann nicht mehr mitgezählt. So ist das nunmal im Leben: Du biegst einmal falsch ab, und dann versuch mal, da wieder herauszukommen.
Dir ging es körperlich sehr schlecht. Wo konntest du hingehen, um dich gesundheitlich versorgen zu lassen?
Krankenversichert war ich damals schon lange nicht mehr. Zum Glück haben wir hier einen medizinischen Bus, zu dem man gehen kann. Das ist ein städtisches Projekt. Man kann auch in die Notaufnahme gehen, aber das gibt immer einen riesigen Terz mit dem Sozialamt, weil die die Kosten tragen müssen. Das macht man nur, wenn man den Kopf quasi schon unterm Arm hat.
Du verkaufst schon seit 20 Jahren das Straßenmagazin fiftyfifty. Welche Erfahrungen hast du da gemacht?
Ich verkaufe immer in Kaiserswerth, an meinem Stammplatz. Ich kenne viele meiner Kund*innen schon lange und komme oft mit ihnen ins Gespräch. Ich versuche denen immer klarzumachen, wie schnell es gehen kann, dass man in der Obdachlosigkeit landet. Meine Erfahrung ist, dass Obdachlose meist nicht aus Ignoranz oder Überheblichkeit ausgegrenzt werden, sondern aus Angst, selbst einen Abstieg zu erleben. In diesen krisenhaften Zeiten kann man seinen Job schnell loswerden, das wissen alle. Die Leute wollen mit Obdachlosen nichts zu tun haben, weil sie ihre eigene »heile Welt« aufrechterhalten wollen. Und das Problem ist ja nicht nur die Obdachlosigkeit, sondern die ganze Armut und die dazugehörige Armutsindustrie.
Was meinst du damit?
Es gibt genug Institutionen, die davon leben, dass es Armut und Obdachlosigkeit gibt. Die machen Hilfsangebote, aber die bekommen auch Gelder dafür. Ich bin inzwischen sehr misstrauisch, dass diese Organisationen wirklich ein Interesse daran haben, dabei zu helfen, aus der Obdachlosigkeit zu kommen, denn dann bricht auch ihr Geschäftsmodell zusammen.
Du hast es aber von der Straße in eine Wohnung geschafft. Wie ging das?
Meine jetzige Frau und ich haben zwei Jahre lang bei den Armen Brüdern, das sind Franziskaner Mönche, in einem betreuten Wohnen gelebt. Als die zwei Jahre fast vorbei waren, haben wir einen Wohnungsberechtigungsschein beantragt. Der kam dann auch, zusammen mit einer Liste von möglichen Wohnungen. Gleich die erste Wohnung von der Liste haben wir bekommen. Aber man muss auch dazu sagen, dass der Vermieter sich vorher bei den Sozialarbeitern über unsere »Wohnfähigkeit« erkundigt hat. Die Sozialarbeiter im betreuten Wohnen schreiben ja allerhand »Hilfepläne« und notieren immer fleißig: »Er tut dies. Und er tut das.« Auch wenn ich gerade vielleicht dabei bin, meine Sucht zu bekämpfen, bin ich ein erwachsener Mensch und nicht unmündig. So wird man aber häufig in dem Hilfesystem behandelt und bevormundet. Es geht immer nach dem Motto: »Wenn du nicht lieb bist und nicht tust, was wir wollen, dann ist die Maßnahme beendet.« Dann stehst du wieder mit leeren Händen da. Das Konzept Housing First ist da ganz anders. Aber jut, wir haben nun die Wohnung bekommen, aber wir mussten uns auch selbst kümmern.
Was wäre sonst passiert?
Die Maßnahme bei den Armen Brüdern lief ja nach zwei Jahren aus. Dann hätten wir wieder auf die Straße gemusst. So ist das System.
Ein Drehtüreffekt…
Ja, genau. Dieses betreute Wohnen ist ein Durchlauferhitzer. Die Leute kommen von der Straße, gehen da rein und landen wieder auf der Straße. Man könnte denen ja auch einfach eine Wohnung geben, aber dann würden diese Organisationen, die letztlich auch nur ökonomische Konzerne sind, viel weniger Geld verdienen.
Wie bestreitest du aktuell deinen Lebensunterhalt?
Ich verkaufe ja schon seit 2004 das Straßenmagazin fiftyfifty. Das mache ich auch weiterhin, denn die Grundsicherung und die Erwerbsminderungsrente reichen vorne und hinten nicht. Ich glaube auch nicht, dass sich mit dem neuen Hubertus-Geld, so nenne ich das Bürgergeld, irgendetwas daran ändern wird.
Hast du Angst, wieder auf der Straße zu landen?
Nein, aus dem einfachen Grunde, dass wir unsere Wohnung niemals mehr hergeben. Und wenn das heißt, dass wir die letzten zwei Wochen im Monat Nudeln mit Zucker essen, dann ist das so. Unsere Wohnung ist das Wichtigste. Klar ist aber, dass es so nicht für immer weitergehen kann, deswegen versuche ich mich auch gemeinsam mit anderen zu wehren. Wann immer es darum geht, Ungerechtigkeit zu bekämpfen, dann bin ich dabei – auch jetzt bei den Protesten gegen die Energiekosten und die Inflation.