Über einen Kamm geschert
Wohnungslose Frauen sind häufig von Gewalt betroffen – im Hilfesystem gehen sie unter
Von Bilke Schnibbe
Wohnungslosigkeit gilt als »Männerproblem«. Dabei sind gut ein Drittel der insgesamt 262.600 wohnungslosen Menschen in Deutschland Frauen, so der 2022 erschienene Bericht zu »Ausmaß und Struktur von Wohnungslosigkeit« des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.
Die meisten wohnungslosen Frauen leben in der sogenannten verdeckten Wohnungslosigkeit (74 Prozent). Das heißt, sie kommen bei Bekannten oder Verwandten unter und/oder leben in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe oder Frauenhäusern. 26 Prozent der wohnungslosen Frauen leben auf der Straße oder in Behelfsunterkünften (wie z.B. Zelten, Autos, Abbruchhäusern). Bei Männern ist dieses Verhältnis anders: Sie leben zu gleichen Teilen auf der Straße und in verdeckter Wohnungslosigkeit. Frauen nehmen also eher als Männern im Falle einer Wohnungslosigkeit eine Unterkunft bei Bekannten in Kauf.
Besonders bedroht von Wohnungslosigkeit sind junge Frauen, die aus dem Elternhaus ausziehen oder Frauen, die sich trennen und eine gemeinsame Wohnung verlassen. Aufgrund mangelnder Ausweichmöglichkeiten gehen viele Frauen wiederholt in ihre Herkunftsfamilien oder Beziehungen zurück, die sie aufgrund von Konflikten und/oder Gewalterfahrungen zuvor verlassen haben. Frauen akzeptieren also häufig Beziehungen, die sie bei gesicherter eigener Wohnung nicht aufrechterhalten würden, um eine Wohnungslosigkeit zu vermeiden.
Gemischtgeschlechtliche Angebote sind de facto auf Männer ausgerichtet.
Insbesondere in Regionen mit angespanntem Wohnungsmarkt geraten wohnungslose Frauen in Abhängigkeit von Wohnungsgeber*innen, bei denen sie unterkommen. Da gemischtgeschlechtliche Angebote der Wohnungslosenhilfe wie zum Beispiel Notunterkünfte de facto auf Männer ausgerichtet sind, sehen sich Frauen berechtigterweise gefährdet, in diesen Einrichtungen Gewalt zu erfahren, sodass die Unterbringung bei Bekannten attraktiver erscheint. Faktoren wie ein ungeklärtes Mietverhältnis und finanzielle Abhängigkeit machen Frauen in der verdeckten Wohnungslosigkeit so zu einer besonders vulnerablen Gruppe.
Die Mehrzahl wohnungsloser Frauen hat Gewalt erlebt. Das betrifft insbesondere Frauen, die ohne Unterkunft sind und auf der Straße leben. Für diese besteht die Notwendigkeit, sich Schutz- und Versorgungsstrukturen durch andere Menschen zu organisieren, wodurch wohnungslose Frauen häufig in Abhängigkeit zu Männern geraten.
36 Prozent aller wohnungslosen Frauen, so der Wohnungslosenbericht, haben sexuelle Übergriffe erlebt und/oder wurden vergewaltigt (Männer: 3 Prozent). Bei denjenigen, die keine Unterkunft haben sind es sogar 50 Prozent. Darüber hinaus berichteten 13 Prozent der Frauen, dass sie zur Prostitution gezwungen wurden (Männer: 1 Prozent).
Das ist einer der Gründe, warum in den 1980er Jahren viele Hilfsangebote speziell für wohnungslose Frauen entstanden. Zum einen, um Schutzräume zu schaffen, in denen sich wohnungslose Frauen selbstbestimmt und sicher aufhalten können und zum anderen sollten, wenn gewünscht, speziell auf die Bedürfnisse von Frauen zugeschnittene Unterstützungsangebote enstehen. Das ist umso wichtiger, da von Wohnungslosigkeit bedrohte Frauen meist früher Hilfe suchen, wenn es erreichbare frauenspezifische Unterstützungsangebote gibt.
Eines dieser Angebote ist der Tagestreff Kemenate in Hamburg, der wohnungslosen Frauen 220 Quadratmeter große Räumlichkeiten zur Verfügung stellt. Das Ziel sei, den Nutzerinnen zu ermöglichen, ihren Alltag selbstbestimmt zu gestalten, so Davina Kronshage, Sozialarbeiterin im Tagestreff. Der Tagestreff sei deshalb wie eine Wohnung eingerichtet mit Küche und Waschmöglichkeiten, die frei genutzt werden können. Am Hilfesystem insgesamt kritisiert sie, dass es viel zu sehr darauf ausgerichtet sei, das Problem der Wohnungslosigkeit zu individualisieren. Wohnungslose müssten erstmal »beweisen«, dass sie eine Wohnung verdient hätten, bürokratische Hürden seien zu hoch.