Hoffnungsvoll in die Bedeutungslosigkeit
Eine kleine Kritik der gegenwärtigen Linken
Von Slave Cubela
Die Linke spielt seit Jahren ein Spiel, das ich gerne Hoffnungs-Hopping nenne. Die Spielregeln sind denkbar einfach: Irgendwo macht ein linkes Projekt bzw. eine linke Bewegung durch Zulauf oder Erfolge auf sich aufmerksam. Die Linke schreibt gerne Texte, also richten sich alsbald alle Blicke in die Richtung dieses Projekts. Es beginnt ein Frage- und Antwortspiel. Wie habt ihr das gemacht? Was kann man von euch lernen? Ist das womöglich die Praxis, die es braucht, um die Linke gesellschaftlich ins Spiel zu bringen? Und so weiter. Plötzlich ist Anspannung in der Luft. Denn was, wenn, jetzt, doch, endlich …? Schnell folgen die ersten akademischen Arbeiten zum entsprechenden Thema. Parallel zu diesen Dialog- und Textrunden bemühen sich viele Linke auch von diesem Beispiel zu lernen. Sie sprechen mit Genoss*innen. Sie überlegen sich, ob sie das nicht auch probieren sollten. Eine Zeitlang entsteht dabei sogar eine kleine Bewegungs-Welle. Aber diese Welle ebbt bald ab. Am Anfang noch werden die ersten Risse thematisiert. Doch ehe es wehtut, kommt das nächste Projekt um die Ecke. Und manchmal sind es sogar zwei. Tja, und wenn man dann irgendwann als Linke*r so daliegt, fragt man sich, was ist eigentlich aus diesem Projekt bzw. dieser Bewegung damals geworden?
Ich gebe es offen zu: Auch ich spiele dieses Spiel inzwischen seit mehreren Jahrzehnten mit. Ob das der große UPS-Streik war, die Antiglobalisierungs-Kämpfe in Seattle und Genua, die Anti-Hartz-IV-Proteste, manche Wahlerfolge der Linkspartei, die besetzten Betriebe in Argentinien, das Strike-Bike, die Blockupy-Proteste, die Arabellion, die Organizing-Welle – immer und immer wieder habe ich Hoffnungs-Hopping betrieben. Doch nach diesen Jahrzehnten muss ich sagen: Am Ende waren dies alles nur Episoden. Kämpferisch zwar, mutig, leidenschaftlich, durchaus bewundernswert – aber eben doch nie ein politischer Wendepunkt. Und was alles noch bitterer macht: In einer Zeit, in der die Ungleichheit wächst, in der die Erde stirbt und in der eine neue, globale Oligarchie immer zynischer agiert, in einer solchen Zeit stagniert die Linke nicht nur, sie ist in vielen Ländern auf dem besten Wege, in Bedeutungslosigkeit zu versinken.
Die Moral dieser Jahrzehnte liegt für mich auf der Hand: Wenn man unablässig nicht die Kurve bekommt, dann hat man im richtigen wie im politischen Leben ein grundsätzliches Problem. Und deshalb frage ich mich seit Jahren, worin das grundsätzliche Problem der Linken liegen könnte. Ich möchte im Folgenden einige dieser grundsätzlichen Probleme der Linken umreißen. Und gleichzeitig scheue ich dieses Vorhaben, weil es so viele Missverständnisse produzieren kann. Da ist der Verdacht der Besserwisserei. Da ist die Vermutung, dass da jemand schlicht frustriert ist (was stimmt!). Und klar: Wer gerade irgendwo in seinem linken Flow ist, der wird es nicht gerne lesen, wenn ihm jemand zuruft, dass sein emanzipatives Engagement wahrscheinlich bald nur eine weitere Vergeblichkeit sein dürfte. Aber es geht mir nicht um einen Abgesang, sondern allein um mögliche Ansatzpunkte für eine erfolgreiche Neuausrichtung der politischen Linken.
Eine Linke abseits des Arbeitsprozesses
Das erste grundsätzliche Problem der gegenwärtigen Linken besteht meines Erachtens in ihrer anhaltenden Missachtung der sozialen und politischen Folgen des kapitalistischen Arbeitsprozesses. Für viele Linke ist dieser kein Thema, weil sie sich nach dem »Abschied vom Proletariat« gar nicht mehr mit dem Thema Arbeit befassen. Für andere Linke wiederum – und das ist wahrscheinlich die größte Gruppe – ist der Arbeitsprozess ein sozialer Aspekt neben vielen anderen und eben, weil er diesen Status bei dieser Gruppe genießt, streift sie den Arbeitsprozess hin und wieder, aber mehr auch nicht. Und dann ist da noch jene inzwischen größer werdende Gruppe von Linken, die sich z.B. in digitalen Organizing-Schulen wieder für das Thema Arbeit zu interessieren beginnt und die tatsächlich auch den Arbeitsprozess thematisiert. Aber letztlich geht es hier dann doch um schnelle Organisierung, Streiks, Tarifverträge, linke Organisationsmacht usw., sodass der Arbeitsprozess wieder in den Hintergrund rückt. Mit anderen Worten: Trotz erheblicher interner Unterschiede ist sich die Linke an einem Punkt einig, nämlich da, wo sie den Arbeitsprozess gedanklich und praktisch überhaupt nicht in den Blick bekommt oder diesen nur streift.
Diese Blindheit hat immense Folgen. Erstens: Die Linke kann soziale Veränderung ohne den Arbeitsprozess nur oberflächlich denken. Sie sitzt mit dieser verkürzten Perspektive dem Glauben auf, dass soziale Veränderung vor allem eine Frage von kollektiven Willensentscheidungen ist, die man durch Kampagnen und Mobilisierungen herbeiführt. Aber eine Linke, die radikal ist, weil sie an der Wurzel ansetzen will, muss den Arbeitsprozess als entscheidenden sozialen Prägeprozess moderner Subjektivität berücksichtigen, einfach deshalb, weil Menschen in ihm mehr als ihr halbes Leben zu verbringen haben und dieser Prozess damit den Willen dieser Menschen, ohne dass es ihnen bewusst ist, formiert. Oder genauer: Wenn eine radikale Linke davon ausgeht, dass die bürgerliche Geschichte blind durch einen materialistischen Umwälzungsprozess qua produktiver Zwangskooperation gemacht wird, dann muss man abseits von Kampagnen und Mobilisierungen zugleich daran arbeiten, dem Zwangszusammenhang der kapitalistischen Arbeitskooperation seine Unveränderlichkeit zu nehmen. Das heißt, es geht darum, mit Arbeiter*innen gemeinsam mühevolle Prozesse der Selbstaufklärung zu organisieren, in denen Arbeitserfahrungen, gemeinsame Wortergreifungsprozesse, aber auch solidarische Kritik eine wichtige Rolle spielen, denn nur durch diese Selbstaufklärung bekommt der freie Wille Raum zum radikalen Denken und Entscheiden.
Zweitens: Die Linke bewegt sich in den ausgetretenen und vor allem gescheiterten Bahnen der alten Linken. Denn die Arbeiter*innenbewegung ließ den Arbeitsprozess im 20. Jahrhundert unangetastet, da sie davon überzeugt war, dass Produktivkraftsteigerungen trotz des durch sie verursachten Leids notwendig sind, da sie mit der Zeit zu einer befreiten Gesellschaft führen würden. De facto macht die heutige Linke mit ihrer Ignoranz gegenüber dem Arbeitsprozess etwas sehr Ähnliches. Sie will große Politik machen und vergisst dabei erneut den Arbeitsalltag der Arbeiter*innen- und Unterklassen. Lohnzuwächse und kürzere Arbeitszeiten sind dabei damals wie heute nur ein traditionalistisches Pflaster auf die Wunden des Arbeitsprozesses. Es ginge aber darum, die Menschen in ihrem Bedürfnis nach gesunder und selbstverwirklichender Arbeit zu bestärken, wie dies immerhin in der Krankenhaus-Bewegung von ver.di geschieht. Drittens: In einer Zeit des drohenden ökologischen Kollapses dringt die Linke nicht zu dessen menschlichen Grundlagen vor. Denn wenn wir unseren eigenen Körper als unsere erste Natur verstehen, dann internalisieren die Menschen die gesellschaftliche Naturausbeutung vor allem deshalb, weil ihnen beigebracht wird, dass es keinen anderen Weg zur Reproduktion gibt, außer dass sie im kapitalistischen Arbeitsprozess zuallererst ihre erste Natur ausbeuten lernen.
Eine a-nationalistische Linke
Der nächste Grund, den ich hervorheben möchte, um die anhaltende Krise der Linken verstehbar zu machen, ist ihre große Distanz zu allen Erscheinungsformen des Nativismus, also ihr Unbehagen, wenn es darum geht, sich auf jenes kulturelle Kapital zu beziehen, das Menschen qua Geburt und Primärsozialisation erwerben. Ohne Zweifel ist dieses Unbehagen gerade innerhalb der deutschen Linken geschichtlich verständlich, denn sie weiß zu gut, wie schnell aus Nativismus rechter Nationalismus werden kann. Die Pointe ist nun aber, dass eine Linke, die sich beharrlich abseits des nativistischen, sozialen Kapitals situiert, eine a-nationalistische Linke ist und eben nicht, wie viele Linken denken, eine internationalistische Linke. Und eine a-nationalistische Linke schwebt insofern ein gutes Stück weit über den kulturellen Gegebenheiten der Arbeiter*innen- und Unterklassen, weil sie ihre Praxen nur mit abstrakten sozialen Subjekten, also »den« Menschen, »den« Arbeiter*innen oder halt sich selbst, »der« Linken, zu versprachlichen weiß. Eine internationalistische Linke hingegen ist neugierig auf die Kultur der »kleinen« Leute, sie dockt an lokale Dialekte, Sprachen, Traditionen, Erfahrungen und Rituale an, sucht in diesen die progressiven Aspekte und Strömungen zu bestärken und baut darauf dann Inter-Nationalismus auf.
Die Gesellschaften der Industriestaaten haben sich seit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg nie wieder einer Revolution auch nur angenähert.
Mir ist bewusst, dass dieser Aspekt bei manchem*mancher Leser*in zu innerer Schnappatmung führen kann, aber gerade viele historische Erfolge der klassischen Linken basierten darauf, dass sich z.B. Arbeiter*innen in lokalen, religiösen und nationalen Organisationen zusammentaten – man denke nur an die stolze internationalistische Geschichte des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes vor dem Zweiten Weltkrieg. Außerdem waren große Arbeiter*innen-Staaten wie die UdSSR oder Jugoslawien föderale Gebilde. Sie gewannen ihre historische Stärke, weil sie viele Nationalitäten und Nationen erstmals anerkannten und diesen gewisse Autonomie-Rechte gaben. Und schließlich: Seit jeher ist das Phänomen bekannt, dass migrantische Arbeiter*innen in der Fremde häufig an ihrer Herkunftskultur festhalten, dass sie Kontakt zu Menschen suchen, die ihre Sprache sprechen und die ähnliche Biographien aufweisen. Warum das so ist, liegt zudem auf der Hand. Die Arbeiter*innen- und Unterklassen können diese nativistischen Horizonte nicht qua weltbürgerlichem Bildungskapital verlassen, wie z.B. die Kinder der Mittelschicht, und gerade in bedrängten Zeiten orientieren sie sich verständlicherweise an jenen kulturellen Codes, die sie kennen. Indem die Linke aber um diese Codes beständig einen Bogen macht, gibt sie die Zugänge zu den Arbeiter*innen- und Unterklassen vor allem der politischen Rechten gegenüber kampflos preis und erleichtert damit den Umformungsprozess von Nativismus in rechten Nationalismus.
Eine saubere Linke
Damit sind wir beim dritten Defizit der aktuellen Linken angelangt, ihrer Scheu vor dem schmutzigen, sozialen Handgemenge, in das sie sich gegenwärtig hineinzubegeben hätte. Was ich mit schmutzig meine, lässt sich leicht verstehen, wenn man berücksichtigt, dass wir in einem Zeitalter des sozialen Zorns leben. Denn Zorn produziert ab einem bestimmten Punkt ein wildes Umsichschlagen bei den Betroffenen, und dazu gehören kommunikative Erscheinungsformen wie Gerüchte, Verschwörungstheorien, Beleidigungen, also ein ganzes Spektrum an widersprüchlichen, vereinfachenden und polarisierenden Diskursen. Das Problem der Linken ist hierbei, dass sie hofft, mit Argumenten, Programmen, formellen Organisationspraxen an diesen Zorn andocken zu können, um ihn dadurch politisch konstruktiv zu wenden. Allein so verständlich diese seriösen Andockpraxen auch sind, sie greifen zu kurz, weil in ihnen elaborierte, politische Reflexionen unvermittelt auf ein erregtes Gegenüber treffen, also auf politische Subjekte, denen Kraft und Lust fehlt, sich als »Rational-Choice«-Subjekte für jene politische Strömung zu entscheiden, die ihren Interessen dient.
Erneut lohnt dabei ein geschichtlicher Blick zurück. Denn das, was gegenwärtig in vielen Online-Foren und sozialen Netzwerken als neuartige, krude Mischung aus Populismus, Halbwahrheiten, Verleumdungen und Hasskommentaren in den bürgerlichen Feuilletons rauf und runter diskutiert wird, ist keineswegs so neu. In fast allen großen Umbruchszeiten der modernen Geschichte lassen sich ähnliche Phänomene in den Arbeiter*innen- und Unterklassen beobachten. In der Französischen Revolution erodierte die Herrschaft der Bourbon*innen auch deshalb, weil in den Kaschemmen und Gassen des alten Paris unter anderem Marie Antoinette der Satz zugeschrieben wurde, das Volk möge doch Kuchen essen, wenn es kein Brot habe. Und die zwielichtige Figur des Predigers Rasputin war für die Vorgeschichte der Russischen Revolution sicher wichtiger als Lenin, einfach deshalb, weil die russischen Volksklassen ihre Wut auf das Zarenhaus in ein vermeintlich liederliches Lotterleben zwischen Rasputin und der Zarin projizieren konnten. Mit anderen Worten: Sich zuspitzende soziale Kämpfe sind seit jeher Kämpfe des wüsten »Story-Telling«, in denen es drauf ankommt, durch Pointen, Humor, Derbheit, aber auch die eine oder andere Lüge, im ersten Schritt Einfluss auf die popularen Klassen zu gewinnen. Verweigert die Linke diesen ersten Schritt, wie gegenwärtig, dann werden ihr ihre besten Programme und schönsten Theorien nichts nutzen.
Eine Linke mit einem unbarmherzigen Gegner
Dieses sprachlich-soziale Eintauchen in eine Welt voller Ressentiments, Verletzungen, Zorn und Hass ist aus einem weiteren Grunde wichtig: Der Linken steht ein übermächtiger und unbarmherziger Gegner gegenüber. Dies ist bei Lichte besehen keine neue Erkenntnis, denn ein Blick auf die großen Industriestaaten der Welt verdeutlicht, dass sich diese Gesellschaften seit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg nie wieder einer Revolution auch nur angenähert haben. Aber statt dies zur Kenntnis zu nehmen, träumt insbesondere die radikale Linke immer noch von dem, was Fritz Vilmar sehr schön den »großen Durchmarsch« nannte, also davon, durch Revolution, Wahlsieg und Massendemonstrationen an die Macht zu kommen. Doch so schön dieser Traum auch ist, so sehr er die Linke an ihre heroischen Jahre im 19. und frühen 20. Jahrhundert erinnert. Er verengt das strategische Denken auf tragische Art und Weise. Denn da, wo ich keinen offenen Frontalkonflikt eingehen kann, weil ich früher oder später auf einen riesigen neoliberale Herrschaftsapparat treffe, der in Sachen Konterrevolution mit allen Wassern gewaschen ist, gerade da sollte man die eigene Kraft nicht in öffentlichen Aktionsformen erschöpfen. Klar, man generiert damit mediale Aufmerksamkeit, man schöpft Mut. Aber zugleich muss diese Tun auf Arbeiter*innen- und Unterklassen irgendwann absurd wirken, wenn sie merken, dass sich nie etwas Substanzielles ändert.
Wem, außer sich selbst, machen Linke damit etwas vor, wenn sie immer wieder zum Hoffnungs-Hopping ansetzen?
Die Frage, die die Linke deshalb nie stellt, lautet: Wenn unser sozialer Gegner gegenwärtig übermächtig ist, können wir ihn nicht mit Formen einer asymmetrischen Kampfführung womöglich nach und nach destabilisieren? Und um Missverständnissen gleich vorzubeugen: Trotz der womöglich drastischen Wortwahl will ich damit nicht irgendwelchen linken Gewaltphantasien das Wort reden. Vielmehr geht es mir darum, linke Praxis viel stärker und intensiver als bislang als subversive Maulwurfsarbeit im sozialen Alltag zu etablieren. Was das bedeutet, kann man gegenwärtig nicht nur bei der extremen Rechten sehr genau beobachten, die still und leise abgehängte Regionen kolonisiert, die sich in diversen Alltags-Institutionen platziert, die aber auch trotz vordergründiger Bürgerlichkeit nach Jahren ehemalige Netzwerke erstaunlich schnell reaktiviert bekommt. Glaubt man dem Yale-Anthropologen James F. Scott, der sich zeit seines Lebens mit sozialen Widerstandspraxen forschend beschäftigt hat, dann ist verborgener Widerstand sogar das typische Widerstandsmodell der Volksklassen. Denn diese Klassen wissen aus ihrer Unterdrückungserfahrung heraus nur zu genau, wie bitter und brutal die Konsequenzen sind, wenn sie die Herrschenden vorschnell herausfordern. Erst wenn sie deutliche Risse innerhalb der herrschenden Klassen bemerken, erst wenn sie mit kleinen Test-Konflikten sehen, dass die Herrschaftsapparate nicht mehr funktionieren, erst dann betreten sie die große politische Bühne. Wie deplatziert wirkt es vor diesem Hintergrund, wenn die Linke immer gleich zu großen Aktionen aufruft und förmlich vor Stolz platzt, wenn dann tatsächlich mehrere tausend oder gar zehntausend Menschen mitmachen? Wem, außer sich selbst, macht sie damit etwas vor, wenn sie dann wieder zum Hoffnungs-Hopping ansetzt?
Eine neue, eine gefährliche Linke?
Wir können das Ergebnis dieses Textes so formulieren: Wenn die gegenwärtige Linke keinen Zugang zu den immensen Leiden im Arbeitsprozess sucht, wenn sie mit den nativistischen Codes der Arbeiter*innen- und Unterklassen nichts anfangen kann, wenn sie zudem das im Zeitalter des Zorns immer wichtigere Feld des schmutzigen »Story-Telling« seriös umschifft und dann noch zu alledem den Traum vom großen Durchmarsch weiterträumen will – kann es dann noch wundern, wenn diese Linke seit Jahrzehnten keine sozialen Geländegewinne macht? Oder aber umgekehrt: Eine Linke, die bereit wäre, die psychosozialen Verwundungen der Arbeitsprozesse deutlicher als bislang zu ihrem zentralen Thema zu machen, eine Linke, die sich daran machen würde, in lokalen, religiösen und sprachlichen Traditionen ihre Widerstandsnarrative und -praxen zu situieren, eine Linke, die zudem den Mut und die Zähigkeit hätte, mit eigenem »Story-Telling« in die gegenwärtigen Zorn-Diskurse einzutauchen, und die schließlich noch die Geduld aufbrächte, jene Maulwurfsarbeit zu beginnen, die nötig wäre, um die großen Zitadellen der neoliberalen Herrschaft nach und nach zu unterminieren – wäre das nicht nur eine neue Linke, sondern womöglich sogar eine gefährliche Linke? Wie die Antwort bei der*dem Leser*in auch ausfallen mag, sei dahingestellt.
Aber ich möchte zum Schluss betonen: Wenn die Linke weiterhin nicht bereit ist, den fundamentalen Charakter ihrer Krise wahrzunehmen, wenn sie nicht in der Lage ist, alle, wirklich alle ihre Widerstandsstrategien und -praxen radikal zu hinterfragen, dann sieht es schlecht für sie und die Zukunft der Menschheit aus. Oder wie Rosa Luxemburg nach dem tiefen Epochenbruch des Ersten Weltkriegs mit Blick auf die Arbeiter*innenbewegung feststellte: »Verloren wäre der Sozialismus nur dann, wenn das internationale Proletariat die Tiefe dieses Falls nicht ermessen, aus ihm nicht lernen wollte.«