Gefährliches Spiel
Der russische Angriffskrieg dient als Rechtfertigung für massive Aufrüstung
Von Jan van Aken
Es wird wieder hochgerüstet. Das Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri meldete Anfang Dezember Rekordumsätze für die globale Rüstungsindustrie. Kurz darauf veröffentlichte der US-Kongress das Militärbudget für das nächste Jahr: 858 Milliarden US-Dollar, stolze acht Prozent über dem Vorjahr. Japan verkündete Ende November eine Verdoppelung des Wehretats bis 2027. Und in Deutschland wurden über Nacht mal so eben 100 Milliarden für Waffen freigegeben. Die Zeichen stehen auf Wettrüsten. Es wird Zeit, etwas dagegen zu tun.
Ganze drei Tage hat es nach Beginn des russischen Angriffskrieges gedauert, bis der deutsche Bundeskanzler 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung verkündete. Im Windschatten der russischen Raketen hat er durchgesetzt, was seit vielen Jahren Ziel von Teilen der deutschen Machteliten ist: Massive Aufrüstung der Bundeswehr, um so deutsche Machtansprüche in der Welt endlich wieder auch militärisch untermauern zu können.
Es ging beim 100-Milliarden-Paket nie um eine direkte Reaktion auf den Krieg in der Ukraine, sondern ausschließlich um das 20 Jahre alte Zwei-Prozent-Ziel der Nato. Daran hat auch Scholz in seiner Regierungserklärung am 27. Februar keinen Zweifel gelassen. Wörtlich sagte er dort zu den 100 Milliarden: »Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des BIP in unsere Verteidigung investieren.« Kein Kurswechsel, keine Zeitenwende, sondern einfach nur das, was schon lange Plan war.
Ein kurzer Blick zurück: Nach dem Zerfall der Sowjetunion sank der deutsche Verteidigungshaushalt Mitte der 1990er Jahre radikal auf umgerechnet rund 24 Milliarden Euro. Es war tatsächlich eine Art Friedensdividende nach dem Ende des Kalten Krieges – die leider schon bald wieder einkassiert wurde. Es folgten die ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr, Bosnien, Kosovo, der Einstieg in den Afghanistankrieg und ein neues militärisches Selbstverständnis in den wechselnden Bundesregierungen, das spätestens seit der Amtszeit des ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler auch offen ausgesprochen wird: Zur Not werden deutsche wirtschaftliche Interessen eben auch militärisch abgesichert oder durchgesetzt.
Um all das zu finanzieren, wurde der Verteidigungshaushalt seit Mitte der Nullerjahre kontinuierlich erhöht und liegt mittlerweile bei über 50 Milliarden Euro. Das war für die Bundesregierungen kein Selbstgänger, denn es gab und gibt in Deutschland eine stabile Mehrheit gegen Aufrüstung und Auslandseinsätze. Dennoch hat Ex-Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen mit einer wirklich cleveren – und ich glaube auch sehr bewussten – Strategie eine erste Erhöhung ihres Etats durchsetzen können. Unter ihrer Führung gab es Woche für Woche einen neuen Witz über die Bundeswehr. Da waren die Pannenflieger, peinliche Sturmgewehre und rostende Hubschrauber, ein Schenkelklopfer nach dem anderen. Am längsten lachte immer Ursula von der Leyen, denn jede Pleiten-Pech-und-Pannen-Komödie lieferte ihr ein weiteres Argument für noch mehr Waffengeld, das sie dann auch prompt bekam. In ihre Amtszeit fiel der wohl rasanteste Anstieg des Einzelplans 14, des Verteidigungshaushalts des Bundes.
Ein Teil der alten westdeutschen Friedensbewegung kann ihre DKP-Wurzeln kaum verleugnen und sieht immer noch das einzig wahre Übel dieser Welt ganz allein in Washington.
Trotzdem war man vom Zwei-Prozent-Ziel der Nato noch weit entfernt. 2021 betrug das Bruttoinlandsprodukt 3,6 Billionen Euro. Zwei Prozent davon sind stolze 72 Milliarden Euro. Noch Anfang dieses Jahres galt das als politisch nicht durchsetzbar, schon gar nicht in einem einzigen Schritt. Dann kam der 24. Februar. Nach der ersten Schockstarre ging eine große Verunsicherung quer durchs ganze Land – und die Ampel griff zu. Über Nacht wurde die Einhaltung des Zwei-Prozent-Zieles beschlossen, und unter dem Eindruck der russischen Bomben und Raketen zeigten alle Umfragen eine mehrheitliche Unterstützung in der Bevölkerung.
Um es klar zu sagen: Ohne den Ukraine-Krieg hätte es diesen drastischen Sprung nicht gegeben, sehr wohl aber eine weitere, kontinuierliche Aufrüstung der Bundeswehr. Die Motivation dahinter ist klar: Die Bundeswehr soll in die Lage versetzt werden, überall auf der Welt militärisch eingreifen zu können. Durch das Ende des Afghanistan-Einsatzes hat sich bei Vielen der Eindruck festgesetzt, dass Auslandseinsätze der Bundeswehr an Bedeutung verlieren. Real ist davon wenig zu sehen, noch immer ist deutsches Militär in 13 Einsätzen auf drei Kontinenten unterwegs. Die militärische Option ist heute eine Selbstverständlichkeit in Deutschland, von allen herrschenden Parteien akzeptiert und gewollt. Und sie wird mit dem 100-Milliarden-Paket finanziert.
Wenn es aktuell wirklich nur um eine Reaktion auf die russische Aggression ginge, um reine Landesverteidigung, dann bräuchte es viele Waffensysteme wie den A400 M oder Korvetten gar nicht mehr, denn sie dienen ausschließlich der globalen Einsatzfähigkeit. Eine Reduktion der Bundeswehr auf reine Landesverteidigung und eine strategische Nichtangriffsfähigkeit könnte zu einer drastischen Reduktion des Verteidigungshaushaltes führen, ohne Sicherheit (im militärischen Sinne) irgendwie einzuschränken.
Heute schon an Übermorgen denken
Die Diskussionen um Waffenlieferungen an die Ukraine und um die 100-Milliarden-Aufrüstung sind an einem Punkt allerdings eng miteinander verwoben, nämlich bei der Frage nach einer künftigen Friedensordnung in Europa. Denn eines ist sicher: Auch wenn wir in 50 Jahren auf die Landkarte schauen, wird Russland immer noch unser Nachbar sein. Und dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir leben in ständiger Konfrontation nebeneinander, gegeneinander. Oder wir haben es bis dahin geschafft, miteinander ein kooperatives Sicherheitssystem nach dem Muster der OSZE aufzubauen. Letzteres klingt angesichts des aktuellen Bombenhagels vollkommen illusorisch, und doch müssen wir heute schon darüber nachdenken, wie die Welt von morgen aussehen könnte und müsste.
Wenn wir versuchen, einen Blick in eine solche Zukunft zu werfen, dann wird das 100-Milliarden-Paket richtig gefährlich. Denn natürlich wird die strategische Aufrüstung Deutschlands und vieler anderer Nato-Staaten in Russland nicht unbeantwortet bleiben. Wir begeben uns damit wieder schnurstracks in ein neues Wettrüsten, einen Kalten Krieg 2.0 mit all den Risiken und Unwägbarkeiten, die ein instabiles Gleichgewicht der Kräfte so mit sich bringt. Wirkliche Sicherheit in Europa kann es auf Dauer niemals gegen Russland, sondern nur mit Russland geben.
Und ja, der Weg hin zu einem kooperativen Sicherheitssystem ist weit, und niemand sollte sich Illusionen um den imperialistischen und aggressiven Charakter der heutigen russischen Regierung machen. Bislang gab es noch nicht einmal einen ernsthaften Versuch, einen Waffenstillstand in der Ukraine zu erreichen. Es wird Jahre dauern, bis überhaupt wieder hinreichend Vertrauen zwischen allen Beteiligten aufgebaut ist. Trotzdem ist genau jetzt der Moment, in dem wir über eine neue Friedensordnung in Europa nachdenken sollten. Denn wenn wir diese Frage heute nicht stellen, dann werden wir auch in 50 Jahren noch in ständiger Kriegsangst und einem horrenden Wettrüsten leben. Atomwaffenbedrohung inklusive.
Um ein Missverständnis gleich zu vermeiden: Ein kooperatives Sicherheitssystem heißt nicht, dass EU und Russland beste Freunde sein müssen. Das werden sie auch so schnell nicht werden. Aber sie müssen sich gegenseitig in ihren Sicherheitsinteressen ernst nehmen und Interessengegensätze kooperativ ausgleichen – ein Traum, der in der Schlussakte von Helsinki vor 50 Jahren schon einmal festgeschrieben wurde. Das 100-Milliarden-Paket droht den Weg zu einem solchen kooperativen Miteinander von vornherein zu verschließen.
Wo ist die neue Friedensbewegung?
Nun hat das Wünschen allein noch nie was geholfen. Ohne Druck wird diese Bundesregierung genau das tun, was sie drei Tage nach dem 24. Februar begonnen hat: massiv aufrüsten für eine neue strategische Positionierung Deutschlands in der Welt. Eine Friedensbewegung, die dagegen nennenswerten Widerstand auf die Straße bringen könnte, ist nicht auszumachen. Tatsächlich gibt es in jeder kleineren und größeren Stadt in Deutschland (mindestens) eine örtliche Friedensinitiative, die seit Jahrzehnten tolle Arbeit macht. Mit vielen von ihnen habe ich 1983 im Bonner Hofgarten gegen die Nato-Aufrüstung demonstriert, und sie sind immer noch aktiv. Aber es gibt keine wirkliche Bewegung mehr in Deutschland, die sich mit großer Macht der Militarisierung der Außenpolitik entgegenstellen könnte. Was nicht zuletzt auch daran liegt, dass ein Teil der alten westdeutschen Friedensbewegung ihre DKP-Wurzeln kaum verleugnen kann und immer noch das einzig wahre Übel dieser Welt ganz allein in Washington sieht. Einen russischen Imperialismus würden sie nicht mal dann erkennen, wenn er ihnen die Waffe an die Schläfe hielte.
Es braucht eine neue Friedensbewegung, nicht in Abgrenzung zur alten, sondern inhaltlich und organisatorisch erneuert. Initiativen wie »Rheinmetall entwaffnen« (ak 685) und andere weisen in diese Richtung und machen große Hoffnung. Daneben gibt es derzeit auch Ansätze, der globalen Friedensbewegung wieder mehr Geltung zu verschaffen mit der Forderung »Zehn Prozent für Alle!«. Der Grundgedanke ist, dass alle Länder gleichzeitig ihren Militär-Etat um zehn Prozent absenken – eigentlich ein sehr simpler Schritt, denn wenn alle mitmachen, bleibt die relative Sicherheit für jedes einzelne Land gleich. Insofern funktioniert diese Idee sogar mit einem herrschenden Sicherheitsverständnis.
Laut SIPRI wurden weltweit im Jahre 2021 über 2,1 Billionen (!) US-Dollar für Militärisches ausgegeben. Schon eine einmalige Senkung um zehn Prozent würde allen Staaten sehr viel Geld für die Bekämpfung der Klimakrise, der Corona-Folgen oder für soziale Projekte in die Kassen spülen. Einmal um zehn Prozent abgesenkt, wäre der Effekt ja auch in den Folgejahren da. Jedes Jahr könnten dann 210 Milliarden US-Dollar in sinnvolle Dinge investiert werden, für alle Menschen anstatt in tödliche Waffen. Zehn Prozent für Alle: in allen Ländern gleichzeitig, so dass alle Menschen profitieren. Hört sich utopisch an, aber das galt vor 30 Jahren auch für die Forderung nach einem Verbot von Landminen. Und am Ende haben wir gewonnen.