»Von jedem Boot wird ein Mensch vor Gericht gestellt«
Dariush Beigui, Kapitän der Iuventa, über seinen Prozess in Italien und warum er diesen auch als Chance betrachtet
Interview: Renate Clauss
Dariush Beigui, Punker und Binnenschiffer aus Hamburg, war 2016 das erste Mal mit dem Rettungsschiff Iuventa auf dem Mittelmeer. Im September 2017 wurde das Schiff von den italienischen Behörden beschlagnahmt – seitdem liegt es in Trapani (Sizilien). Gegen die Crew wurde da schon monatelang ermittelt, unter anderem wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung. Im März 2021 wurden Dariush und drei weitere Iuventamitglieder angeklagt, seit Mai dieses Jahres läuft der Prozess. Im Einsatz ist Dariush immer noch: Seit der Festsetzung der Iuventa war er mehrere Male auf der Mare Liberum und der Sea Watch unterwegs. Mit ak sprach er über den absurden Prozessverlauf und warum er dennoch nicht viel vom Italien-Bashing hält.
Die Iuventa liegt in Trapani fest und rottet vor sich hin. Bei euch haben die Vorverhandlungen angefangen. Wie ist der aktuelle Stand?
Dariush Beigui: Inzwischen platzt der Lack ab, die Rettungswesten liegen in der Sonne und zerbröseln. Über unseren Prozess denke ich oft: Soll ich lachen oder weinen? Außer uns wurden noch 17 Personen von anderen Organisationen angeklagt, darunter einige Leute von Save the Children, einige von Ärzte ohne Grenzen, ein paar Personen von der Vroon-Reederei (die Schiffe für die Seenotrettung verchartert hat, Anm. ak). Zusammen haben wir zwölf Anwälte; allein von der Iuventa haben wir drei. Im Mai 2022 hatten wir unseren ersten Prozesstag. Wir sind noch nicht weit gekommen, weil viele Verfahrensfehler gemacht wurden. Bis heute habe ich kein offizielles Schreiben mit der Anklageschrift erhalten. Fünf Jahre haben die Italiener mit fünf Polizeibehörden gegen uns ermittelt, sie haben unser Schiff verwanzt, und sie kriegen es nicht hin, mir einen Brief zuzustellen.
Wie gehst du damit um?
In Italien gibt es die Möglichkeit, vor der Vorverhandlung eine Aussage zu machen. Damit gibt es die Möglichkeit, auf die Vorverhandlung Einfluss zu nehmen. Inzwischen war ich zwei Mal in Trapani und fahre nächste Woche wieder hin. Die Akten sind umfangreich. Eine Zusammenfassung davon wurde mir auf Deutsch zur Verfügung gestellt: 700 Seiten. Das sind nicht mal drei Prozent der 28.000 Seiten. Und auf diesen drei Prozent Informationen soll ich meine Verteidigung aufbauen. Ich habe mich also gemeldet, dass ich verhört werden möchte. Mir wurde vom Gericht eine Dolmetscherin zur Verfügung gestellt, eine gebürtige Deutsche, die seit 30 Jahren in Italien lebt. Sie konnte mir nicht sagen, welche Funktionen die Anwesenden hatten. Daraufhin hat die Polizei das Verhör abgebrochen. Ist schon ätzend: Da sitzen sechs alte Männer und reden in einer Sprache, die du nicht verstehst. Du weißt, die reden über deine Zukunft, ob du 20 Jahre in den Knast gehst oder nicht. Wie mag es wohl einem Geflüchteten gehen, der nicht die Rahmenbedingungen wie ich hat, z.B. Anwälte, denen ich vertraue? Drei Wochen später war ich wieder da. Es gab einen anderen Dolmetscher, einen pensionierten Polizeibeamten. Der konnte mir zwar übersetzen, wer im Raum ist, aber er konnte mir nicht sagen, was die Vorwürfe sind. Mein Anwalt, der auch fließend Deutsch kann, sagte mir, dass der zweite Dolmetscher falsch übersetzt. Da haben wir unsererseits das Verhör abgebrochen.
Da sitzen sechs alte Männer und reden in einer Sprache, die du nicht verstehst, über deine Zukunft.
Dariush Beigui
Wie werden Migrant*innen behandelt, die in deiner Situation sind?
Von jedem Boot, das in Europa ankommt, wird ein Mensch vor Gericht gestellt, nämlich der, der am Steuer saß. Meist wurde er gezwungen, sich ans Steuer zu setzen: Aus dem Lager kommt einer der Folterknechte und fragt vielleicht den Letzten, der einsteigt: »Kannst du das Schiff fahren?« Natürlich können es diese Leute nicht, aber sie machen’s, sie versuchen’s halt – eine Alternative gibt es nicht. Diese Menschen kommen vor Gericht. Denen geht es wie uns, deren Akten werden nicht übersetzt, die wissen nicht, was ihnen vorgeworfen wird. Vor dem eigentlichen Prozess warten sie im Knast, ohne dass sie wissen, was passiert. Wenn sie also vor dem Prozess vernommen werden, passiert ihnen das Gleiche wie mir. Sie sitzen da vielleicht mit den gleichen sechs alten Männern wie ich. Sie können nur vermuten, dass diese Männer darüber reden, was mit ihnen passieren soll. Sie haben keinen Anwalt, dem sie vertrauen, die haben nur Pflichtverteidiger.
Und wie geht es jetzt bei euch und bei dir weiter?
Am 2. Dezember habe ich ein drittes Verhör bei der Staatsanwaltschaft, die ein bisschen sauer ist, dass wir das zweite Verhör abgebrochen haben. Mal sehen, ob die das mit dem Dolmetscher hinbekommen. Eigentlich soll einen Tag später, also am 3. Dezember, der Prozess beginnen – aber ich habe immer noch keinen Brief bekommen. Daher kann das eigentlich noch nicht losgehen.
Hast du den Eindruck, dass das gewollt ist? Oder ist das einfach Schlamperei, Dummheit?
Schwierige Frage. Wenn die Staatsanwaltschaft das Verfahren einstellen wollte, brauchte sie nur zu sagen, »wir stoppen den Prozess«. Das liegt in ihrer Verantwortung. Dass sich das so hinzieht, ergibt für mich keinen Sinn. Ich könnte mir viel eher vorstellen, dass sie keine Lust auf diesen Prozess haben: 21 Angeklagte, 28.000 Seiten Prozessunterlagen und 400 DVDs mit Audioaufnahmen. Allein sich da durchzuarbeiten, ist ja schon eine kleinere Aufgabe (grinst). Und für die Staatsanwaltschaft steht auch etwas auf dem Spiel. Ich gehe davon aus, dass die sich darüber im Klaren sind, dass so jemand wie Salvini von der Lega Nord den Prozess im Blick hat. Wenn uns also die Staatsanwaltschaft »zu gut« behandeln würde, könnte ich mir vorstellen, haben die Staatsanwält*innen die Befürchtung, dass das berufliche Konsequenzen haben könnte.
Stichwort Salvini – was stellst du dir vor, was sich auf dem Mittelmeer verändern wird unter der Regierung Meloni?
Ich bin kein Italienspezialist, aber ich weiß, dass in Italien Faschisten an der Macht sind. Salvini ist nicht mehr Innenminister, sondern Minister für nachhaltige Infrastruktur und Mobilität. Das macht die Sache noch schlimmer, denn jetzt ist er zuständig für die Küstenwache und damit für das italienische MRCC. (1) Aber es ist immer schwer zu sagen, was genau passieren wird. Auch vor dieser faschistischen Regierung wurden Schiffe über Wochen und Monate vor der Küste festgesetzt. Die Ermittlungen gegen uns haben 2016 angefangen, vor Salvinis Amtszeit. Aus meiner Sicht ist die EU schuld, dass die Menschen überhaupt erst auf die Boote steigen müssen, um nach Europa zu kommen, anstatt einfach einen sicheren, legalen Fluchtweg benutzen zu können. Und da ist es egal, ob es in Italien die Demokraten waren oder die SPD in Deutschland, die das verhindern. Ich finde, wir sollten nicht zu viel Italien-Bashing betreiben.
In Deutschland kommen am wenigsten Leute an, weil Deutschland wie die fette Spinne in der Mitte von Europa eine Schutzmauer gebaut hat: Beim Dublin-II-Abkommen war Deutschland federführend. (2) Ich kenne die aktuellen Zahlen nicht, aber 2019 sind in Spanien, Griechenland und Italien zusammen knapp 100.000 Menschen angekommen. Davon hat Deutschland 118 aufgenommen. Abkommen zu machen über Menschenleben und über Menschenmengen, das ist einfach pervers. Wir leben im schlimmsten Kapitalismus aller Zeiten. Und Geld ist das Allerwichtigste. Es ist bewiesen, dass es wirtschaftlich sinnvoll wäre, Menschen in dieses Land zu lassen. Der Rassismus ist sogar noch größer als die Geldgier.
Dariush Beigui
ist Binnenschiffer aus Hamburg und Kapitän der Iuventa. Seit 2016 engagiert er sich in der Seenotrettung. Nun wird ihm deswegen in Italien der Prozess gemacht.
Wie bewertest du das öffentliche Auftreten der Bundesregierung: einerseits Forderungen für die sichere Passage zu stellen, andererseits aber keine Migrant*innen aufnehmen zu wollen?
Generell habe ich große Angst vor der Zukunft in Europa. Vor wenigen Tagen wurde ein europaweiter Code of Conduct vereinbart, ein 20-Punkte-Programm zur Lage auf dem Mittelmeer, in dem die EU sich erweiterte Maßnahmen gegen die Fliehenden ausdenkt. (3) Wenn wir ernsthaft was verändern wollen, müssen wir endlich in die Puschen kommen. In Europa sehe ich, dass Rechte immer stärker werden. Die Stimmung in Europa ist richtig schlimm. Ich glaube, dass diese Mischung aus »Es wird alles immer rechter« und die Dauerberieselung mit Informationen dazu führt, dass die Leute immer gleichgültiger werden, teilweise auch wir. Vor ein paar Jahren war es ein Skandal – die großen Unglücke vor Lampedusa 2013. Oder Alan Kurdi, der da lag. Es geht um Aufmerksamkeit. Als die Lifeline zwei Wochen nicht anlegen konnte, hat sich die Seebrücke gegründet, eine große Organisation. Die haben anfangs riesige Demos zustande gebracht. Wenn die Seebrücke auch auf parlamentarischer Ebene nichts verändert hat, hat sie vielen Leuten doch ein Wir-Gefühl gegeben, gemeinsam Solidarität zu zeigen.
Für uns ist der Prozess natürlich nervig und anstrengend, gleichzeitig sind wir privilegiert.
Dariush Beigui
Es gibt keine einfache Lösung gegen das Aufmerksamkeitsdefizit. Hast du eine Idee?
Es ist wirklich schwer. Wir versuchen, durch den Prozess deutlich zu machen, wie mit unterschiedlichem Maß gemessen wird. Für uns ist der Prozess natürlich nervig und anstrengend, gleichzeitig sind wir privilegiert. Wenn irgendwo Deutsche vor Gericht stehen, interessiert das die Leute in Deutschland. Deshalb haben wir uns überlegt: »Wenn sie einen Scheinwerfer auf uns richten, müssen sie sich nicht wundern, wenn wir anfangen zu singen.« An unserem ersten Prozesstag hat die Tagesschau aus unserer Pressemitteilung zitiert, dass in Italien 2.500 Leute im Gefängnis sitzen, denen das Gleiche vorgeworfen wird wie uns. Es war ein Erfolg, dass wir es in die Tagesschau geschafft haben. Es gibt genügend Informationen von der ARD, vom Spiegel oder auch NDR – das sind Mainstreammedien. Sie berichten darüber, dass Frontex auf der Balkanroute Leute foltert, sie nackt im Wald aussetzt. Und das regelmäßig. Andererseits: Was passiert? Nichts. Kein Aufschrei.
Was glaubst du, woran die Gleichgültigkeit liegt?
Manchmal denke ich, dass die Leute tief drinnen wissen, dass sie daran schuld sind, dass die Menschen fliehen müssen. Also wer mag sich schon gerne damit auseinandersetzen, dass alles, was du isst, also eigentlich jedes Nahrungsmittel, was du hier kaufst, jedes Kleidungsstück, was du trägst, daran mit schuld ist, dass Menschen es woanders nicht mehr aushalten. Wer will das schon reflektieren? Ich sage das immer wieder: Es kann nicht ohne Leid dazu kommen, dass hier eine Tafel Schokolade 1 Euro kostet und ein T-Shirt 15 Euro. Dafür muss jemand ausgebeutet worden sein. Unser Leben kann nur so sein, wie es ist, weil wir den Rest des Planeten ausbeuten und zerstören. Und darum müssen Menschen fliehen.
Anmerkungen:
1) Das Maritime Rescue Coordination Center Rom ist die Seenotrettungsleitstelle für alle Seegebiete um Italien und wird von der italienischen Küstenwache betrieben.
2) Im Abkommen Dublin II ist festgeschrieben, dass die Menschen in dem Land einen Asylantrag stellen müssen, in dem sie zuerst europäischen Boden betreten haben.
3) Der »Aktionsplan für das zentrale Mittelmeer«. In ihm werden weitergehende Aktivitäten und eine verbesserte Koordination der EU-Staaten untereinander (»Solidaritätsnetzwerk») einerseits und eine verstärkte Zusammenarbeit mit weiteren Drittländern gefordert, neben Tunesien, Libyen und Ägypten nun auch mit Niger. Bis 2023 sollen dafür weitere 580 Millionen Euro investiert werden.